„Äächz!“ Geschäftsführer
Nikolaus Hirte wuchtete einen riesigen Karton voller
Briefe und Postkarten auf den Stammtisch der Stadiongaststätte.
Schweiß tropfte von seiner Stirn.
„Boah, ey! Dass wir so viele Reaktionen bekommen,
hätte ich nie für möglich gehalten“,
staunte Loddar Saltatorius. „Das ist ja Wahnsinn!“
Ralf Hummelmann saß einfach nur da und strahlte
über das ganze Gesicht. Das war sein Tag. Endlich
einmal reifte in seinem Kopf ein riesiges Projekt
heran. Endlich einmal hatte er die Initiative ergriffen.
Endlich einmal hatte er richtige Schritte eingeleitet,
die, sollten die Maßnahmen greifen, den Verein
in eine glorreiche Zukunft führen würden.
Dem Präsidenten war klar geworden, dass das Projekt
„Aufstieg“ nur dann gelingt, wenn alle,
aber auch wirklich alle, an einem Strang ziehen. Dazu
brauchte man die Fans. Viel Irritation und Unmut hatte
es in letzter Zeit gegeben. Einfach nur deshalb, weil
die Kommunikation zwischen Fans, Mannschaft und Vereinsleitung
nicht recht klappte. Das sollte anders werden. Die
Verantwortlichen wollten sich in die Karten schauen
lassen. Sie wollten ihre Arbeit und ihre Entscheidungen
so transparent wie möglich gestalten. Zu diesem
Zweck richtete man kürzlich in der Stadionzeitung
„Kurze Fuffzehn“ eine Leserbriefspalte ein.
Gewissermaßen eine Sprechstunde, in der Fragen
der Fans sachgerecht und kompetent beantwortet werden
sollten. Die Reaktion der Leser befand sich nun in
dem Karton auf dem Stammtisch.
„Gut, dass wir die Spalte ‚Frag Doc Loddar!’
genannt haben und nicht hochgestochen ‚Fragen
Sie Dr. Saltatorius!’ Deine intellektuellen Höhenflüge
haben in letzter Zeit schon manchen vergrault, Loddar.
Die Leute haben dich einfach nicht mehr verstanden.“
Willi Leppins legte den Finger in eine offene Wunde.
Das schmerzte, aber es war nicht von der Hand zu weisen,
dass der „Heuschreck vom Niederrhein“ manches
von seinem Nimbus eingebüßt hatte.
„Halt die Klappe, Erpel!“ Loddar wurde richtig
scharf. „Du hast heute Redeverbot. Setz dich
hin, gib Ruhe und hör’ einfach nur zu!“
„Ihr seid ja bloß wegen meinen Äußerungen
im Interview mit jawattdenn.de sauer!“ schmollte
Willi, verschränkte seine Arme, streckte die
Füße unter den Tisch und rutschte beleidigt
etwas tiefer auf seinen Stuhl.
„Wir? Sauer? Wir doch nicht!“ taten die
drei anderen übertrieben unschuldig.
Ralf Hummelmann beendete den Streit, ehe er sich richtig
entwickeln konnte. „Trotzdem! Erpel hat schon
Recht, Loddar. Wir müssen in Zukunft sorgfältig
drauf achten, wieder die Sprache der Fans zu sprechen.
Deshalb haben wir auch heute Abend einen Gast unter
uns, den ich hiermit begrüße. Wuddi Ellen
soll uns beraten und dir, Loddar, bei der Formulierung
der Antworten helfen. Herzlich Willkommen!“
„Wuddi Ellen? Sind Sie nicht der Schauspieler
und Regisseur aus New York?“ fragte „Nicki“
Hirte, als der zaghafte Applaus verklungen war.
„Nein, nein! Sie verwechseln mich. Der, den Sie
meinen, hat einen ähnlich klingenden Namen, aber
ansonsten nicht viel mit mir gemeinsam. Was für
ein Stadtneurotiker muss man eigentlich sein, um Depressionen
lustig zu finden? Nein, ich bin Aufstiegsberater von
Beruf und schon recht lange in dieser Branche tätig.
Ich habe schon manchem Verein zu einem Sprung in die
2. Liga verholfen.“
„Aber … Braunschweig, Osnabrück, Saarbrücken,
Offenbach – sie alle steigen doch auch immer
wieder ab und pendeln zwischen den Ligen hin und her.“
Nicki Hirte konnte seine Skepsis nicht verbergen.
„Wer redet von Braunschweig und den anderen?
Ich war in Ahlen, Burghausen, Haching und kürzlich
bei Paderborn tätig. Alles Vereine, die sich
in der 2. Liga etablieren. Gelernt habe ich mein Handwerk
einst beim SV Meppen. Sie werden sich an den Kultclub
aus dem Emsland erinnern!“
Hirte, Saltatorius und Leppins rümpften die Nase.
Allein Ralf Hummelmann schien Feuer und Flamme zu
sein. „Leute, wir müssen uns einfach damit
abfinden, dass Tradition heutzutage nicht mehr viel
zählt. Die Musik spielt woanders. Der erfolgreiche
Fußball hat sich offensichtlich die Provinz
ausgesucht und Vereine, die man leider gerne abfällig
als ‚Retorten’ bezeichnet. Wollen wir eine
Zukunft haben, müssen wir uns mit den Prinzipien
befassen, nach denen dort gearbeitet wird.“
Die Freunde blieben skeptisch. „Nun gut, versuchen
wir es einmal!“ Nicki Hirte griff in den Karton
und zog einen Briefumschlag heraus. „Wir werden
in der ‚Kurzen Fuffzehn’ pro Ausgabe eh
nicht mehr als eine Frage beantworten können.
Ich stelle die Frage und bitte Sie, Herr Ellen, den
angesprochenen Sachverhalt zu erläutern. Danach
formuliert Loddar die Antwort für die Sprechstunde.
OK? Also, ein Leser namens Jens Hoch-Dienase –
seltsamer Name! – fragt:
Wollen wir wirklich aufsteigen? Zurzeit haben wir
es zwar mit den Zweitvertretungen der Bundesligisten
zu tun, aber doch auch mit traditionsreichen Vereinen.
In der 2. Liga werden wir in die Provinz fahren müssen.
Der Anteil an Retortenclubs ohne Zuschauerresonanz
wird immer größer. Wollen wir uns das wirklich
antun? Das ist doch unter unserer Würde!“
„Ich kenn’ den“, bemerkte Oberfan Loddar.
„Der steht nicht weit von mir im Fanblock. Mann,
ey, der hat die Arroganz mit der Suppenkelle gefressen.“
„Damit sind wir mitten im Thema.“, mischte
sich Wuddi Ellen in das Gespräch. „Meine
Herren, genau diese abfällige Haltung müssen
alle Beteiligten ablegen, wenn Sie in Zukunft erfolgreich
höherklassig Fußball spielen wollen. Die
Zeiten, in denen Sie sich für Ihren traditionsreichen
Namen etwas kaufen konnten, sind vorbei.“
„Woran liegt das?“ wollte Nikolaus Hirte
wissen.
„Die Erklärung ist ganz simpel. In den Traditionsclubs
gibt es zwar engagierte Leute an der Spitze. Aber
sie müssen sich die finanzstarken Sponsoren erst
mühsam ins Boot holen. Bei denen, die Sie ‚Retorte’
nennen ist das anders. Dort kommen die Sponsoren von
selbst und halten sich einen Fußballverein als
Hobby. Die sind mit ihrem Ehrgeiz ganz anders bei
der Sache.“
„Nennen Sie uns doch mal ein Beispiel!“
„Gerne! Ich engagiere mich gerade auch in Hoffenheim.
Der dortige Präsident – Didier Ex-Hopp –
verfolgt mit der Gründung des FC Kurpfalz Heidelberg
ein ehrgeiziges Projekt.“
„Didier Ex-Hopp? Seltsamer Name!“ wunderte
sich Hirte.
„Eigentlich heißt er ‚Hopp’“,
erklärte Elllen, „aber er heiratete kürzlich
seine geschiedene Frau erneut, die inzwischen ihren
Mädchennamen ‚Ex’ angenommen hatte
und auf den nicht mehr verzichten wollte. Hehe, sie
ist seine Ex und heißt Ex. Jetzt hat er ’nen
Doppelnamen. Der Mann vereinigt drei Clubs aus der
Region zu einem großen Verein und baut dort
ein riesiges Stadion.“
„Aber in der Gegend ist doch fußballerisch
absolut nichts los!“ wunderte sich Ralf Hummelmann.
„Wo sollen denn die Zuschauer herkommen?“
„Dahinter steht ein geniales Konzept. Die bauen
das Stadion mitten in einen Verkehrsknotenpunkt, genau
in das Autobahnkreuz A5/A6 bei Walldorf, quasi als
„Drive In“. Der Verkehr wird verlangsamt
und in allen Richtungen um das Spielfeld herum geleitet.
In unsrer schnelllebigen Zeit haben die Leute eh kaum
Zeit zum Fußball kucken. Solche 5-Minuten-Besuche
im Stadion sind eine regelrechte Marktlücke.
Die kalkulieren auf diese Weise mit bis zu 250.000
Besuchern pro Spiel.“
„Echt? Das kann doch nicht sein!“ staunte
Hummelmann nicht schlecht. „Ist da soviel Verkehr?“
„Am Samstagnachmittag natürlich nicht. Darum
finden die Spiele ja auch in den Stoßzeiten
montags früh und freitags im Wochenendverkehr
statt.“
„Macht der DFB das denn mit?“ Hirte war
immer noch nicht recht überzeugt.
„Die sind hellauf begeistert. Die Doppelspitze
in der Führungsetage hat volle Unterstützung
zugesagt. Gerhard Müller-Hinterwälder und
Theo Falscher-Fuffziger haben dem noch zu gründenden
Verein eine Aufstiegszusage bereits für den Fall
erteilt, sollten sie in der laufenden Regionalligasaison
einen Nichtabstiegsplatz, also Platz 14, erreichen.“
„Seltsame Namen!“ wunderte sich der Präsident.
„Ich werde mich – will ich nicht außen
vor stehen – umnennen müssen. ‚Ralf
Hummel-Mann’ – wie findet ihr das? Los Loddar,
wir wissen genug. Was willst du dem Leserbriefschreiber
antworten?“
„Ich versuch’s mal:
’Lieber Jens Hoch-Dienase! Ich verstehe dein
Anliegen gut, habe ich selber doch bis vor kurzem
so empfunden. Wir müssen aber sehen, dass sich
die Zeiten ändern. Traditionen sind wie Laternenpfähle
– sie beleuchten uns den Weg, den wir gesehen
sollen, aber nur Betrunkene halten sich daran fest.
RWE wird sich auf die völlig neuen Konzepte des
Ligenfußballs einstellen. Wir haben uns entschlossen,
die Pläne des Stadionneubaus zu ändern.
Da die Deutsche Bahn den Essener Hauptbahnhof ohnehin
renovieren muss, werden wir unser Stadion genau dort
hinein bauen. Der Zugverkehr wird in drei Etagen am
Spielfeld vorbeigeleitet. In der Mitte, mit der besten
Sicht, der ICE Fernverkehr. Oben – aber immer
noch mit guter Sicht – der Regionalverkehr. Unten
in Rasenhöhe leiten wir den Nahverkehr aus Bottrop
und die S-Bahn aus Kettwig vorbei. Für RWE werden
glorreiche Zeiten anbrechen mit Zuschauern aus der
ganzen Republik. Du, lieber Jens, solltest einer Zusammenarbeit
mit ähnlich arbeitenden Clubs positiv entgegen
sehen!’
Na? Wie findet ihr das? Willi, sag auch mal was!
Dein Redeverbot ist jetzt abgelaufen.“
Doch Willi schwieg – immer noch beleidigt. Er
pfiff nur leise die Melodie eines Liedes durch die
Zähne:
’Ein Jäger aus Kurpfalz,
Der reitet durch die Fußballwelt,
Er sch..ßt* das Geld daher,
Gleich wie es ihm gefällt.’
* = Dies ist eine interaktive Geschichte. Der
geneigte Leser mag den Schluss der Erzählung
bestimmen, indem er die Reihenfolge der Buchstaben
„i“ und „e“ selbst festlegt. Er
kann sich dazu am Originaltext des Liedes („…
er schießt das Wild daher …“) orientieren,
oder eben anders herum. Beide Versionen sind sachlich
korrekt.
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(ks)