„Wir haben ein Sicherheitsproblem“, warf „Nicki“ Hirte nach drei Bierchen in die Runde und beendete damit das Schweigen. Bereits eine halbe Stunde starrte das Quartett trübsinnig vor sich hin. Zigarettenrauch zog in dichten Schwaden über den Köpfen durch die Stadiongaststätte und würde selbst einem Nichtraucher einen Entzug bereiten, sobald er das Lokal verließ und Frischluft einatmete.

„Ist der Uhlenbroich zurück?“ – vor Schreck riss Ralf Hummelmann seine Augen so weit auf, dass von seiner bis zum Nacken reichenden hohen Stirn nicht mehr viel zu sehen war.

„Keine Angst!“ entgegnete Nicki, „Klapp deine Augenbrauen mal wieder runter! Man sieht den Muckenflugplatz ja gar nicht mehr.“

„Du sollst dich nicht immer über meinen etwas breit geratenen Scheitel lustig machen“, polterte Hummelmann wütend los. An der Stelle war er etwas empfindlich. Obwohl er mit der Bemerkung „Ein schönes Gesicht braucht Platz!“ häufig Selbstbewusstsein zur Schau trug, was aber seinen wahren Empfindungen keineswegs entsprach.

„Ich hab’ gehört, der Uhlenbroich arbeitet jetzt bei der EVAG“, wusste Willi Leppins und nahm damit weiter Dampf aus dem etwas angespannten Gespräch.

„Richtig! Als Sicherheitsbeauftragter!“, ergänzte Nicki.

„Fährt der etwa mit Opa-Luscheskowski-sein-Bus und schikaniert unterwegs unsere Fans?“ – Jetzt war es an Loddar Saltatorius, erschrocken zu sein.

„Nein! Der überwacht die Werbebuttonproduktion. Er muss kucken, dass die auch alle mit Sicherheitsnadeln versehen werden.“

„Hehe!“, schmunzelte „Erpel“ Leppins, „Ich kann mir so richtig vorstellen, wie der so’n Button ankuckt und sacht: ‚Ich hab’ dich im Auge!’“

„Was ist nun mit dem Sicherheitsproblem?“, gab Ralf Hummelmann nicht nach.

„Nun, der sicher geglaubte Aufstieg ist in Gefahr!“ – Hirtes Bemerkung trug keineswegs zur Beruhigung bei. Im Gegenteil!

„Erzähl schon!“ stießen die anderen drei am Tisch gleichzeitig aus.

„Das Problem ist mannschaftsintern!“

„Mannschaftsintern?“

„Genau! Einer schießt quer! Er gibt nicht sein Letztes. Stattdessen steht er rum, kritisiert jeden noch so kleinen Fehler der anderen und pfeift ständig. Der kapiert nicht, dass er die anderen dadurch nicht zu besseren Leistungen motiviert. Die verlieren erst recht den Mut, kämpfen nicht nur mit ihren eigenen Defiziten, sondern laufen zusätzlich gegen die Mauer seiner verweigerten Unterstützung an. Sein Verhalten ist alles andere als mannschaftsdienlich.“

„Wer ist das? Dem werd’ ich was erzählen! Dem ist wohl nicht klar, was es heißt, für RWE auflaufen zu dürfen.“ Hummelmann war richtig aufgebracht.

„Nu sach schon!“ wollte auch Loddar wissen.

„‚Nummer 12’ sag ich nur.“

„Nummer 12?“

„Seine Rückennummer!“, ergänzte Nicki.

„Na warte! Dem halte ich seinen Vertrag unter die Nase!“ – Hummelmann sprang auf.

„Ralf!“

„Ja?“

„Er hat keinen Vertrag mit uns!“

„?????“ – Nicht nur der Präsident kuckte betreten.

„Er macht das freiwillig, sozusagen ehrenamtlich. Aber er ist ein unverzichtbarer Teil der Mannschaft.“

„Der meint die Fans!“ flüsterte Willi, der endlich kapierte. „Dafür bist du zuständig Loddar. Du bist schuld! Das sind deine Leute!“

„Wieso ich?“, wehrte sich der Heuschreck vom Niederrhein, der aber genau wusste, dass die Leistungen dieses „Mannschaftsteils“ in der letzten Zeit nicht das Gelbe vom Ei waren.

„Ja, Du! Du gehörst doch auch dazu! Du warst auch schon lange nicht mehr oben auf der Stange. Die Leute brauchen Vorbilder. Jemanden, der sie mitreißt!“ – Wer genau hinsah, entdeckte das leichte Schmunzeln in Erpels Gesichtszügen und merkte, dass der vorwurfsvolle Tonfall nur Schau war. Loddar beobachtete das auch und musste grinsen.

„Um mal Nägel mit Köppe zu machen …“, nahm Nicki das Heft wieder in die Hand. „Ralf, hier bist du gefragt. Du musst einen leidenschaftlichen Appell an die Leute loslassen!“

„Was soll ich denn sagen?“ – Seine Unsicherheit kuckte ihm aus allen Knopflöchern.

„Na, du musst ihnen klar machen, dass sie bei aller berechtigten Kritik der Mannschaft nicht helfen, wenn sie ihren Unmut nicht für 90 Minuten auf stand-by schalten und bedingungslos die Mannschaft anfeuern. Wenn das Team gegen verweigertes Wohlwollen anrennen muss, mobilisiert das keineswegs seine Kräfte. Ist bei Kindern in der Schule doch auch schon so. Denen kannste auch nicht sagen: ‚Erst wenn die Noten stimmen, mag ich euch wieder.’ Wenn die Spieler merken, dass man hinter ihnen steht, egal, was kommt - das lässt sie über sich hinaus wachsen.“

„Wir brauchen Gelassenheit, das hinzunehmen, was wir nicht ändern können,
Mut, das anzupacken, was wir ändern können,
und Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.“

Drei Augenpaare starrten Loddar Saltatorius an.
“Booh ey, Loddar!“ unterbrach Leppins schließlich das ehrfürchtige Schweigen, „Soviel philosophischen Tiefsinn hätte ich dir gar nicht zugtraut!!“

„Anpacken, was wir ändern können - darum musst du am nächsten Samstag auf den Platz, Ralf.“ Nikolaus Hirte ließ nicht locker. „Du stellst dich vor die Fans und hältst ihnen eine flammende Rede. Und jetzt wird geübt! Fang an! Ganz spontan! Hier, vor uns kannstes machen! Wir lachen auch nicht!“

„Na gut!“ gab Hummelmann kleinlaut nach. „Leute!“, fing er an. Sofort prusteten Erpel und Loddar los.

„Klappe!“, fuhr Hirte dazwischen und wandte sich wieder zum Präsidenten: „Weiter!“

Ralf Hummelmann richtete sich auf. Da waren sie plötzlich wieder, die Begeisterung, der Mut, die Entschlossenheit, Verantwortung zu übernehmen und den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Es blitzte in seinen Augen.

„Leute! Rot-Weiss Fans! Ich unterscheide zwischen einem Zuschauer und einem Fan. Ein Zuschauer will durch den Sport unterhalten werden. Darauf hat er ein Recht, denn er zahlt sein Geld. Und wenn die Gegenleistung nicht stimmt, darf er seinen Unmut ausdrücken und kritisieren. Es hilft, wenn’s sachlich ist. Ein Fan ist anders. Auch in ihm steckt ein Zuschauer. Demzufolge hat auch ein Fan das Recht auf Unmutsäußerungen und Kritik. Aber ein Fan ist mehr als ein Zuschauer. Und das nicht im Sinne gesteigerten, fanatisierten Engagements. Fans, ihr seid ein Teil der Mannschaft! Ihr tragt das rotweiße Trikot! Ihr habt die Rückennummer 12! Ihr seid aufgestellt – Woche für Woche! Jeden Spieler, der seine Mitspieler nur anpfeift und selber seine Leistung schuldig bleibt, würdet ihr auswechseln. Die Mannschaft braucht euch! Gebt auch ihr euer Bestes – damit wir unser gemeinsames Ziel erreichen. Ich weiß, ihr habt das Potenzial! Ruft es ab!“

Von sich selbst ganz ergriffen setzte Hummelmann sich wieder auf seinen Stuhl.

„Super!“, rief der Wirt aus dem Hintergrund der Gaststätte, „Das wirkt bestimmt. Ich hab meine Gläser schon doppelt so schnell gespült, wie sonst.“

„Ich wusste gar nicht, dass der die überhaupt spült. Aber so ist es gut!“ nickte Hirte. „So wird’s gemacht!“

„Ob die das verstehen?“ fragte Ralf nach.

„Das verstehen die!“, bestätigte Willi Leppins, „Denn das sind Rot-Weisse. Tief im Grunde ihres Herzens lieben die uns nämlich. Die lieben uns und die Mannschaft, jeden Einzelnen. Was sollten die denn auch sonst machen, ohne Rot-Weiss?“

„Ja, die lieben uns!“, nuschelte Loddar ganz versonnen vor sich hin.
In seinem Augenwinkel glitzerte eine klitzekleine Träne.


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(ks)