Was bisher geschah: Charlie und Manfredora kehren wohl gesonnen von ihrem zwischenzeitlichen Athen-Trip in den unterkühlten und winterlichen Kohlenpott zurück. Trotz mehrfacher Versuche vom Kammerjäger, sich den Teddy bereits vor Ort anzueignen und zu vernichten, kommt Baphoment heil und unversehrt in der Knappenhochburg an. Das Unheil scheint jetzt nicht mehr abwendbar zu sein. Manfredora erkennt, dass er das Schicksal jetzt nicht mehr beeinflussen kann. Schalke wird 2005 Meister, sollte nicht noch ein Wunder geschehen. Hans-Rüdiger ist nun endgültig dem Zauber verfallen ...

PHASE XI – Onkel „Kalle“ und der Flönz

(7. März 2005) – Sechs Tage vor dem Bayernspiel. Ich war inzwischen wieder seit kurzer Zeit mit Ilse zusammen und schwebte im siebten Himmel. Sie hatte alle meine Zweifel ob des angeblichen Zaubers ausgeräumt und inzwischen hatte ich auch Onkel Charlie durch Erzählungen von ihr ein wenig besser kennen lernen dürfen, ein ganz feiner und schicker Kerl. Er war einige Tage außerhalb unterwegs gewesen, da er im Ausland wichtige geschäftliche Dinge zu erledigen hatte. Seit zwei Tagen versuchten mich Eddy und dieser dubiose Kammerjäger verzweifelt zu kontaktieren, aber ich ging einfach nicht ans Handy. Mein neues Leben in Gelsenkirchen ließ jede Angst vor Eddy und diesem verwerflichen Retter, im Keime ersticken. Was bildeten sich beide eigentlich ein? Erst hatte Eddy zwei ehemalige Spielerfrauen hinterfotzig ausgenommen und gegeneinander ausgespielt, jetzt versuchte auch noch dieser Kammerjäger mich von meinem Glück abzuhalten. Ich bekam merkwürdig formulierte Kurznachrichten, wirres Zeug, welches keinen Sinn ergab. „Hallo mein Freund. Wir müssen uns dringend treffen. Jetzt macht alles einen Sinn, ruf mich umgehend an. Baphomet wird alles verändern! Sei auf der Hut!“ war einer der vielen Texte, mit denen er mich inzwischen regelmäßig zu simste. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass mir alle ehemaligen Kontakte in der alten Welt nur Böses wollten. Doch ich spürte es gerade zu, es war nicht eine meiner Lebensaufgaben, einem unbedeutenden Zweitligaclub die Daumen zu drücken. Ich war jetzt Fan eines Bundesligavereines. Ich hatte nach Jahren der Tristesse endlich einmal wieder Visionen. Ich hatte den Fußball-Olymp erreicht.

Immer noch plagten mich große Gedächtnislücken, nichts ergab so richtig einen Sinn. Huub war inzwischen ohne Befund aus der Tierklinik entlassen worden, musste aber mit Spezial-Futter versorgt werden, wodurch sich immerhin sein weiterhin unkontrolliert abfallender Kot verfestigt hatte. Ilse hatte den Hund vor einigen Tagen nach einer neuerlichen Kot-Attacke in die Klinik bringen lassen. Wenn er jetzt in die Bude kackte, dann waren es wenigstens nur noch harte Klumpen, die man leicht aus dem Teppich entfernen konnte. Meist trug Ilse mir diese verantwortungsvolle Aufgabe zu. Huub war neben Ilse mein ein und alles geworden. Inzwischen waren wir in Schalke alle angespannt wegen dem bevorstehenden Spiel gegen die Bayern. Wir lagen fast uneinholbar punktgleich mit den Seppels an der Tabellenspitze. Das Spiel war zum Sechs-Punkte-Spiel mutiert. Beide Mannschaften hatten 50 Punkte und es waren nur noch neun Partien bis zum Saisonende. In unserer Stadt sprach keiner mehr von irgendetwas anderem. Ich fieberte wie lange schon nicht mehr einem Fußballspiel entgegen, war nun auch schon seit etlichem Monaten bei keinem mehr gewesen, sieht man einmal von dem Besuch des Benefizspiels im Januar ab.

Ich durfte mich inzwischen frei in Ilses Wohnung bewegen, es gab endlich keine Geheimnisse mehr. Jetzt standen mir alle Türen offen. An jenem Morgen wachte ich in Ilses wunderbarem blau-weißem Himmelbett auf und bemerkte einen Zettel auf ihrer Kommodenseite: „Hallo Hansi, bin mit Onkel Charlie unterwegs, er ist gestern Abend von seiner Geschäftsreise wieder gekehrt. Wollte dich aber schlafen lassen, du hast so süß ausgesehen, mein Fratzibatzi. Ich verkaufe ein paar von den Kastanienmänneken am orientalischen Flohmarkt an der Trabrennbahn. Sollte irgendwas sein, ruf mich ruhig an. Komme gegen Mittag mit Onkel Charlie heim. Vielleicht machst du uns etwas zu ESSEN!“ Als ich das letzte Wort gelesen hatte, bemerkte ich eigenartige Schwingungen. „Essen!“ schwirrte es in meinem Gehirn herum. Mich überkam ein eigenartiges Gefühl und ich musste mich beinahe übergeben. Ich musste mich jetzt erstmal duschen, Ilse hatte mich am Vorabend wieder mächtig geritten, ich fühlte mich unwohl. Neben mir lag Huub auf seinem Stammplatz und schaute mich mit großen Hundeaugen an. „Na du, wie geht es deinem Darm? Ich weiß, dass was du dir da momentan reinziehen musst, ist echt übelste Kost. Aber es geht nicht anders, Junge! Es ist Medizin, wir müssen deine unkontrollierte Scheißerei in den Griff kriegen. Frauchen hat schon durchklingen lassen, dich sonst ins Tierheim abzugeben.“ Huub schnaufte. Doch wirklich etwas verstanden hatte er offensichtlich nicht.

Nachdem ich ausgiebig gebadet und einen Kaffee zu mir genommen hatte, ging es mir wesentlich besser. Fast schon gut. Ich kannte mich in Ilses Küche nicht sonderlich gut aus, da es eigentlich ihre Domäne war und dies auch nach unserer baldigen Hochzeit bleiben sollte. Jetzt wollte ich aber erstmal ihrem Wunsch folgen und etwas Schmackhaftes zubereiten. Was war denn überhaupt in ihrer Vorratskammer? Ich öffnete die Türe. Mich grinsten gleich zwei Gläser Blaukraut und eine Familienpackung Kartoffelpüree an. „Mh“, dachte ich so im stillen Kämmerlein, „wenn ich das Püree mit Sahne verfeinere, dann passt das ja schon mal farblich zum ersten Treffen mit Onkel Charlie!“ Jetzt fehlte nur noch eine weitere Komponente in Form von Fleisch. Ich öffnete die Kühlschranktür und beim Blick nach unten sah ich Huub direkt neben mir stehen. Er sabberte wie eh und je auf den Küchenkacheln. „Hach, Junge, dich habe ich ja fast vergessen. Du hast bestimmt auch Kohldampf wie Lassie, ich habe aber die ausdrückliche Anweisung bekommen, dir nur von diesem Trockenfutter zu geben. Ich werde den Teufel tun, mich nicht daran zu halten, wir haben uns erst neulich wieder versöhnt. Du hast doch da noch was im Napf stehen. Bettel hier nicht rum, ich werde eh nicht weich. Iss erstmal deine Otzen auf!“ Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder der Suche nach einer passenden Fleischbeilage.

Dann erblickte ich den Flönz, zwei ganzen Ringe. Ich erinnerte mich an ein altes Geheimrezept von Urgroßmütterchen Lisbeth, die aber inzwischen schon selber zum Flönz mutiert war: rheinischer Kaviar! Ich brauchte also nur noch vernünftige Gemüsezwiebeln. Beim Blick in diverse Steinguttöpfe entdeckte ich dann endlich auch das deftige Wurzelgemüse. Ich konnte nun also Gas geben, schnitt zunächst die Blutwurst in dünne Scheiben, pellte die dicken Zwiebelknollen und mit einem Hobel stellte ich daraus feine Ringe her. Die Abschnitte ließen sich noch für das deftige Gemüse verwerten und jetzt ging es an die Zubereitung des Blaukrautes. Die Gläser konnte ich allerdings nur mit äußerstem Kraftaufwand öffnen, so dass ich zwischenzeitlich mächtig ins Schwitzen geriet. Beim Thema schwitzen fiel mir ein, dass ich erst noch Butter auslassen musste. Ich schnappte mir daher die große, gusseiserne Pfanne und erhitzte die Herdplatte, in der das Molkereiprodukt langsam aber sicher zerging. Nun gab ich bei kleiner Flamme die Zwiebelabschnitte hinzu. Mhhhh, die Wohnung roch endlich mal nicht nur nach Köter.

Als die Zwiebeln langsam glasig geschwitzt waren, gab ich das farblich kräftige Kraut dazu. „Deckel drauf, das braucht jetzt eine Weile!“ Zur Herstellung der Sättigungsbeilage stellte ich eine Mischung zu gleichen Teilen von Milch und Sahne her, würzte diese mit Salz, weißem Pfeffer und einer Prise Muskatnuss. Nun ging es im wahrsten Sinne des Wortes um die Wurst. Oh, wie herrlich roch der Flönz. Ich siebte feines Weizenmehl und wendete die Blutwurstscheiben mit einem seligen Wohlgefühl darin. „Ja, Hans, so wird Kochen zur Kunst, schade, dass dieses Geheimrezept aber für immer in unserer Familie bleiben muss, schließlich hat es Tante Hille Großmütterchen Lisbeth am Sterbebett in der Köln-Kalk-Klinik versprochen.“ Die Blutwurstscheiben brutzelte ich erst in dem Moment an, wo ein Taxi vor der Tür anhielt. Es weiß ein jeder, dass man den Flönz frisch zu bereiten muss. Hoffentlich hatte ich bei einem fast 75-jährigen Mann mit dem Blutwurstgericht die richtige Wahl getroffen. Panhas war ja leider keiner da gewesen. Im Flur hörte ich bereits Geräusche, ich musste mich nun beeilen. Eine Mischung aus gekörnter Brühe, diversen Gewürzen, einem Lorbeerblatt, Wachholderbeeren hatte ich ja bereits im Vorfeld dem geschmorten Kohl hinzugefügt. Jetzt gab ich ihm noch die alles entscheidende, letzte geheime Zutat hinzu. Ich vernahm Schlüsselgeräusche und rührte noch fix das Pulver der Kartoffel in die Sahne-Milch-Mischung ein. Ich hörte bereits durch die Wohnungstür im Flur den alles entscheidenden Satz, der meine vorherige Eingebung untermauerte: „Mensch, Ilse, kocht hier irgendeiner ´nen leckeren Flönz!?? Das erinnert mich an meine Kindheit am Eierberg.“

Sie betraten nun beide die Wohnung und als er feststellte, dass der Geruch aus Ilses Wohnung in seine Nasenwindungen flatterte, sah ich Tränen in seinen Augen. Hoffentlich waren sie nicht nur von den Zwiebeln allein, doch als er schnurstracks in die Küche stürzte und mich alsgleich kräftig und herzhaft umarmte, wusste ich: der Flönz stellte die optimale Wahl dar. „Mensch, Junge, das habe ich ja schon ewig nicht mehr gehabt. Wie kommt ein so junger Mann denn dazu, solch eine himmlische Köstlichkeit zu zubereiten. Nein, ich muss die Frage anders stellen: warum in Gottes Namen bist du dazu überhaupt in der Lage? Hallo, ich bin der Onkel Kalle! Du musst der allseits beliebte Hans-Rüdiger sein, Ilse hat mir so viel von dir erzählt.“ Solch eine Begrüßung hatte ich nicht erwartet, ich stand in der kleinen Küche zusammen mit dem größten Idol aller Schalker. Konnte es kaum fassen. Dann riss er mich aus meinen tiefen Gedanken. „Mensch, Junge, der Flönz fackelt ab. Ich dachte wir knallen uns den jetzt erstmal zur Begrüßung deftig rein.“ In Windeseile hatte er sich an die bereits eingedeckte Tafel begeben. So eine Schnelligkeit hätte ich dem korpulenten und tattrigen Mann gar nicht zugetraut. „Ja, ich bin der Hansi, nenn mich Hansi, Onkel Kalle.“ Doch er fuhr mir ins Wort. „Komm laber´ nicht lange rum da und schepp einfach kräftig auf, ich hab Hunger bis unter beide Arme.“ Ilse hatte dem Szenario bislang stillschweigend und genießend zugesehen. Sie gab mir mittels Augenkontakt eindeutig zu verstehen, dass bislang alles nach ihrem Wohlgefallen geschehen war. Ich liebte sie.

Dann tat ich uns allen kräftig auf. Wie Kalle das Mahl verschlang, war schon beeindruckend. Mit voll gestopftem Mund faselte er irgendwelche Dinge vor sich her. Auch Ilse langte herzhaft zu. Als ich nach der langen Phase des Stresses nun erstmals wieder Ruhe einkehren lassen konnte, bemerkte ich: ich hatte gar keinen Hunger. Dann sagte Kalle: „Was ist, willst du nichts ESSEN?“ Kaum hatte er dieses ausgesprochen, spürte ich, wie sich meine Magengegend zusammenzog. „Essen!“ schwirrte es in meinem Gehirn herum. Ich riss alle Kraft zusammen und sagte: „Ilse, Kalle, ich habe heute wohl schon zu viel von dem Flönz beim Kochen probiert. Ihr müsst mich kurz entschuldigen.“ Dann verließ ich den Tisch und hastete zum Bad. „Na macht ja nichts, dann können wir ja alles auf ESSEN!“ hörte ich seine gierige Stimme und ich riss die Falttür von Ilses Beuler auf. Mir wurde abermals flauer im Magen. Ich schaffte es nicht einmal mehr, die Brille hoch zu bekommen und durch eine riesige Fontäne schoss eine bräunliche Soße aus meinem Rachen. Mitten durch meine schutzsuchenden Hände. Ich hatte in mich soeben in Ilses gefliesten Nebenraum übergeben. Mist! Ich sah vor mir auf dem Boden den Wäschehaufen, den Ilse und ich bei unserem Versöhnungsf*ck hinterlassen hatten und plötzlich strahlte mich ein Fetzen bedrucktes Papier an. Im selben Moment ging der Radiowecker auf Ilses Waschtischunterschrank an. „Dunkle Wolken ziehen auf. Ein verheerendes Unwetter bahnt sich an. Die neue Welt ist nicht das, was du denkst … KOMM ZURÜCK NACH ESSEN!“ Dann ging das Radio wieder aus. Hatte Ilse die Sleepfunktion aktiviert? Ich ging zum Waschbecken mit schwankendem Schritt, abermals verursachte allein das letzte Wort der Ansage ein Flauegefühl in mir. Als ich die Verkabelung überprüfen wollte, traute ich meinen Augen kaum, das Gerät war überhaupt nicht am Stromkreis angeschlossen, der Stecker steckte überhaupt nicht in der Dose. Das Gerät besaß auch kein Batteriefach. Wie konnte dann diese Nachricht übertragen worden sein? Ich hatte das Gefühl, langsam aber sicher verrückt zu werden. Was war nur mit mir los?

Von außerhalb der Badezimmerfalttüre hörte ich das Kratzen von Huubs Pfoten. Mit letzter Kraft öffnete ich ihm. Er tappte in das Bad und begab sich sofort an die Pfütze auf den Kacheln. Ich schloss die Türe sofort wieder zu, Kalle und Ilse sollten nichts von alledem mitbekommen. Er schleckte an der Pfütze mit einer Hingabe, wie ich es selten bei ihm erlebt hatte. Solch einen Heißhunger kannte ich eigentlich nur von ihm, wenn er von Ilse Eierschalen als vorbeugende Maßnahme gegen seinen Kalziummangel bekam. Dass er das Malheur „beseitigte“, kam mir in jenem Moment der Hilflosigkeit gerade recht. Als er fertig war, waren die Spuren meines Missgeschickes spurlos beseitigt. Nichts deutete mehr darauf hin, was für eine Schweinerei ich wenige Augenblicke zuvor begannen hatte. Dann ging er zu dem Wäschehaufen, schnupperte an Ilses feurigem Schlüpfer und im selben Augenblick begab er sich daran, dass Stück Papier auf dem Boden zu essen. Noch bevor ich es ihm entreißen konnte, war mir klar, um was für einen Papierfetzen es sich dabei handelte. Er hatte soeben einen Fetzen Toilettenpapier gefressen. „Huub“, flüsterte ich ihm zu, „bist du denn bescheuert? Was frisst du denn diesen Mist auf? Ich weiß nicht mal mehr, was genau auf dem Papier stand!“ Jetzt war ich aber froh, dass er dieser Fetzen von diesem bescheuerten Spinner ein für alle Mal vernichtet hatte. Man? Mann? Manfred Manns Earth Band? Hach, ich bekam es einfach nicht mehr zusammen. Nach kurzer Schockperiode ging es mit mir langsam aber sicher wieder bergauf. Ich wischte mir die letzten verbliebenen Kotzereste aus meinem Mundwinkel und spülte meinen Rachenraum mit kaltem Wasser aus.

Dann verließ ich das Bad. Ilse und Onkel Kalle hatten zusammen zwischenzeitlich die komplette Menge des Flönz vertilgt. Es war nur noch ein wenig von dem Gemüse und dem Brei über, doch die beiden kompletten Blutwurstringe waren verschwunden. „Habt ihr Euch jetzt echt die sechs Pfund von der Wurst reingezimmert?“ fragte ich in den Raum. „Hans-Rüdiger, es war einfach fabelhaft. Du scheinst nicht nur der perfekte Mann für meine Cousine Ilse zu sein, sondern auch noch ein ausgesprochen guter Koch. Was hältst du davon, wenn wir uns mal auf mein Wasserschloss nach Hassel begeben? Ich will dir ein paar ganz wichtige Leute vorstellen. Ich bestelle uns gleich einen Wagen, mein Fahrer ist gerade im Uniklinikum in ESSEN eine Blutspende abgeben, der wird aber in spätestens 30 Minuten hier sein.“ Jetzt hatte er wieder irgendetwas von sich gegeben, was ein leichtes Unwohlsein auslöste, aber es war bei weitem nicht so schlimm, wie noch wenige Augenblicke vorher. „Ach, die Uniklinik in essen? Ja, da lag ich auch mal eine Woche wegen eines Leistenbruchs, da arbeiten aber meiner Meinung nach nur Metzger …“

Kalle lachte laut. „Hansi, du wirst mir immer sympathischer, du bist genau ein Junge nach meinem Geschmack. Was machst du eigentlich beruflich?“ fragte er neugierig. „Hach, Kalle, ich bin freier Handelsvertreter für Rheuma- und Schafswollsteppbettdecken. Das Geschäft läuft aber seit einiger Zeit eher mau, ich lebe eigentlich seit Wochen bzw. Monaten von Ersparnissen, die aber auch bald zur Neige gehen.“ Er blickte mich jetzt ziemlich verwundert an. „WATT? So ein kompetenter Junge wie du geht Klinken putzen? Wie kannst du dir denn dann so ein schickes Auto leisten? Ich habe es unten auf der Straße gesehen, es ist ja wirklich ein Blickfang …“ Ich wollte jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen. „Ich habe den Wagen eigentlich immer selbst bezahlen können: Irgendwann ging es nicht mehr, da habe ich meine Simpsons Comic Sammlung ins Pfandhaus gebracht. Seit einiger Zeit unterstützt mich nun mein Onkel Eduard!“ Kalle blickte mich jetzt leicht verändert an. „Ach, der Mann, der beim Luftgitarren Contest das Feld abgeräumt hat? Ich hörte davon! Da sind ja auch einige Dinge bei der Zuteilung der Karten falsch gelaufen, nicht wahr?“ blinzelte er mir zu. Ich wusste jetzt genau, worauf er hinaus wollte, ging aber gar nicht erst darauf ein. „Lass uns das doch vergessen! Ich habe der Ilse schon die Patte zurückgeben, ich wusste nicht, dass du sie auch Fratzibatzi nennst. Und wenn ihr mich nicht so lange im Irrglauben mit dieser Ulrike- Eva Kapp gelassen hättet, wäre ich niemals so weit gegangen. Ich habe zwischenzeitlich echt das Gefühl gehabt, als verbündeten euch nicht nur familiäre Dinge …“

Charlie war nun offensichtlich sehr angetan, ob der klaren Worte meinerseits. „Junge, ich bin doch der Neffe ... äh, Onkel von Ilse. Überleg doch mal. Sie ist 32, ich werde nächstes Jahr ein dreiviertel Jahrhundert alt. Außerdem hab ich doch Familie. Aber ich finde es gut, dass du hier direkt Tacheles redest. Solche Leute mag ich. Was denkst du darüber, wenn ich dich jetzt von deinem Klinkenputzerdasein befreie? Wir suchen auf Löttingshof einen neuen Restaurantleiter. Was du hier heute mit geringen Mitteln gekocht hast, hat mich überzeugt. Ich will die Karte zukünftig eh deftiger gestalten, du scheinst genau der richtige Mann dafür zu sein. Kannst du auch Brot- oder Graupensuppe zubereiten oder könntest du bei uns die Abläufe beobachten?“ Ich nickte. „Nicht nur die Abläufe, wahrscheinlich sogar die Einläufe, aber ich habe bei meinen Arbeitgeber einen sechs Jahresvertrag unterzeichnen müssen, da komm ich auch nicht so leicht raus.“ Kalle lachte abermals. „Junge, ich kenne rund 70 % der Schlägertruppe „Felsenzähne“, die gehen immer mit einem Lachen nach Hause, wenn sie irgendwo zugeschlagen haben … meinst du nicht, dass wir mit solchen Butterfahrten-Kaspern umzugehen wissen? Mach dir da mal keine Sorgen. Mit dem Vertrag kannst du dir den Arsch abwischen, ganz gleich, was man dir dort bietet oder du zuletzt verdient hast, ich zahle dir das Doppelte!!!“ Hui, dachte ich. „Das ist ne Menge Holz, Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass du für meine Tätigkeit 5.000 Patronen im Monat locker machen kannst?“

Charlie blickte Ilse an. „Sag du mal was, Ilsemaus. Der Junge hat doch was Besseres verdient, als ein Leben in einer Abzockerkolonne, oder nicht?“ Ilse zuckte mit den Achseln und sah Charlie nun überheblich an. „Ich weiß nur eines: er hat großes Talent, sehr großes sogar. Ausdauer, Kraft, er steckt im Saft seines Lebens, kann offensichtlich aus gammeligen Blutwürstchen Flönz basteln, also mein Veto hat er …“ – „Ilse, du meinst bestimmt Votum, aber das ist dir wahrscheinlich genauso unbekannt, wie der Unterschied von Valium zu Viagra oder von Vögeln zu Macht und Geld. Treib es nicht auf die Spitze!“ fauchte er sie an. Jetzt lag eine unangenehme Luft im Raum. Ich ergriff das Wort. „Kommt mal wieder runter, öy. Jetzt, wo wir eine Familie sind, müssen hier nicht solche Töne vorherrschen. Für 3.500 Netto fang ich an und lese auch mal wieder ein paar alte BWL-Schinken, damit es auch kein Flop wird!“ Kalle nickte freundlich in meine Richtung und streckte mir seine Hand entgegen. „Schlag ein, das ist gebongt!“ sagte er. Doch ich ließ ihn noch etwas zappeln. „Meinst du nicht, ich sollte mir vorher mal die Örtlichkeit ansehen, bevor ich hier zusage?“ Charlie kugelte die Augen, fast schon zustimmend. „Da hast du natürlich Recht. Ich ruf jetzt meinen Fahrer an, der soll uns mal eben nach Löttingshof düsen. Hansi muss sich unsere Brutzelstube sofort ansehen, damit er auch schnell anfangen kann zu arbeiten. Vielleicht schafft er es ja sogar noch vor dem Spiel gegen die Bajuwaren die Küche wieder auf Vordermann zu bringen, schließlich bin ich „Käyterer Of Se Däi“. Hoffentlich habe ich das jetzt richtig ausgesprochen, ich hatte kein Englisch in der Schule.“ Ilse und ich lächelten uns an. Dann ergriff sie das Wort. „Hast Du, Onkel Charlie, hast du … und jetzt seht zu, dass ihr beide Land gewinnt. Ich spül den ganzen Müll jetzt erstmal hier weg, rauch mir in aller Seelenruhe gleich erstmal ne Roth Hänsele ohne Filter und werd mir dann mal ein ordentliches Bad geben.“

Charlie zauberte ein antikes Handy aus der Brusttasche seines C&A-Sakkos. Dann wählte er eine Nummer. „Ja, Manfredora! Wie sieht´s aus? Blutprobe abgegeben? Ähä. Mh mh mh mh mhhh. Jo. Jaaa. Is gut. Dann in 25 Minuten unten. Klapp aber die Rückbank um, wir nehmen diesmal nicht den Hund mit, sondern den zukünftigen Restaurantleiter meines Schlosses. Der Freund meiner Base. Du wirst ihn mögen!“ Er legte das Telefon zunächst bei Seite. „Das war mein Fahrer, ein feiner Kerl. Obwohl er laut eigener Aussage kein Knappe ist. Aber, das Problem erledigt sich vielleicht eines Tages von selber. Man muss nur gute Argumente haben. Und Ilse hatte die besten beiden …“ Charlie kicherte leise vor sich hin. Doch dann sah er etwas starr in den Raum. „Ilse, Hansi wird ja gleich sicherlich nicht sofort wieder zurückkommen. Es ist an der Zeit, dass wir nachher mal reden. Ist nicht mehr lang hin bis zum Bayernspiel, wir müssen gut vorbereitet sein.“ Ich unterbrach. „Ach ja, Eddy wollte auch kommen. Der hat doch die Karten gewonnen. Jetzt habe ich leider seit drei Tagen keinen Kontakt mehr zu ihm, ist mir auch peinlich. Aber vielleicht klärt ihr das mal, wie er an die Karten kommen kann.“ Charlie schaute von seinem Stuhl zu mir auf. „Bist nicht auf dem neusten Stand, oder? Eddy hat die Karten schon abgeholt bei uns in der Geschäftsstelle. Hat der irgendwie geerbt? Man berichtete mir, er habe sich nicht nur vom Kleidungsstil leicht verändert!“ Ich zuckte mit den Schultern und blickte verlegen zur Seite. „Keine Ahnung ob er geerbt hat. Jedenfalls geht´s ihm scheinbar etwas besser als noch zuletzt!“

Nachdem wir die letzten 25 Minuten immer zu auf die Uhr gesehen hatten, ohne noch groß zu reden, piepte endlich sein Nuttelrolla International 3200. Wirklich ein sehr ausgefallenes Exemplar. „Sag mal Onkel Kalle, das geht mich zwar nichts an, aber wie lange hast du dieses Telefon schon?“ fragte ich ihn, noch bevor er den mächtigen Knopf gedrückt hatte. „Fuffzehn Jahre!“ flüsterte er mir zu und nahm dann ab. „Ja? Ähä. Mh mh mh mh mhhh. Jo. Jaaa. Is gut. Wir kommen runter. Bis gleich!“ Dann widmete er mir wieder seine Aufmerksamkeit zu. „So, Junge, wir gehen uns jetzt das Schloss ansehen. Vorher kleiden wir dich aber mal vernünftig ein. Du willst doch wohl nicht mit den Sachen da durch mein Restaurant latschen! Außerdem dürfte das Hemd nach dem guten Essen leicht nach Flönz riechen. Irgendwie stinkst du auch – verzeih meine Ausdrucksweise – leicht nach Kotze, jetzt wo der Geruch des fantastischen Essen aus der Luft ist. Alles klar bei dir?“ fragte er mich. Ich nickte. „Natürlich ist alles klar bei mir, es war eigentlich nie besser. Von mir aus können wir.“ Dann schnappte ich mir meine Daunenjacke und Kalle umarmte noch einmal sehr, sehr herzlich meine Ilse. Packte ihr sogar an den Po. „Bis gleich mal, Fratizbatzi!“ Ich blickte verwirrt. Charlie richtete das Wort an mich. „Junge, sie ist meine Nichte, wie oft noch! Ich bin über Siebzig. Ich wollte nur mal wieder wissen, wie sich das anfühlt!“ Okay, dachte ich mir. Passt schon. Ich gab ihr einen Zungenkuss. Sie wirkte irritiert.

Wir gingen im Treppenhaus nach unten. Ich blickte noch einmal durch den kleinen Schlitz, den mir das Geländer bot, nach oben, wo ich die Gesichter von Ilse und Huub erblickte. Ich lächelte beiden noch mal zu. Dann gingen wir aus dem Haus. Dort wartete schon das Taxi mit laufendem Motor. Onkel Kalle stieg vorne ein. Ich ging nach hinten. Kaum hatte ich Platz genommen, sah sich der Taxifahrer unglaubwürdig um. Er wirkte beinahe erschrocken. Ich sah ihn an. „Ist irgendwas? Was mustern sie mich denn so abfällig?“ Der Taxifahrer blickte nach vorn, musterte mich aber weiterhin durch den Rückspiegel. „Sind wir uns nicht schon mal begegnet?“ fragte er mich. „Sie kommen mir so bekannt vor! Mein Name ist Manfredora. Manfredora Kuss!“ Ich schaute ihn nun genauer an, grübelte. „Vielleicht haben sie mich und meine Ilse schon mal von essen hier her gefahren, als sie noch im Ypsilon kellnerte. Kann alles sein!“ Dann drehte er sich noch mal um. „Aha, dann erinnern sie sich also nicht an mich, oder?“ Der Mensch nervte mich langsam. „Onkel Kalle! Wenn der nicht gleich Gas gibt, dann fahren wir mit meinem Karmann. Verstehe eh nicht, warum wir das nicht so machen!“ Der Taxifahrer trat in die Pedale. „Nein, nein, kein Problem. Wie ich sehe, ist hier alles in Butter! Wo darf es denn hingehen?“ fragte er Charlie. „Fredo, sag mal, was bist du so merkwürdig drauf? Wir haben doch eigentlich schon alles besprochen. Für den Jungen da hinten kaufen wir in Buer mal eben ein paar andere Sachen. Er hat gerade für uns gekocht, hat aber nicht wirklich etwas Ansprechendes dabei. Und bevor wir hier zu viel Zeit verlieren, fahren wir direkt Richtung Norden. Danach geht es dann weiter zur Wasserburg. Besichtigungstermin!“

Der Fahrer nickte, konnte es aber nicht vermeiden, ständig weiter im Spiegelbild irgendwelche Grimassen in meine Richtung zu schneiden. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, schaute immer wieder aus dem Fenster. Nach 15 Minuten waren wir am Zwischenstopp angekommen. Wir standen in einer Einkaufstrasse in Buer, stiegen aus dem Wagen und gingen in einen sehr feinen Kleiderladen. Hier roch es nach Geld. Sofort kam ein Verkäufer auf mich zu geprescht, der mich überfreundlich begrüßte. „Chaa, da ist ja schon die Kunde, auf denne ich mich seit mehrrrerrren Stunden mental vorrrberrreite! Sein Akzent war von osteuropäischem Ursprung und zugleich urkomisch. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zu lachen. „Sie rrriechen bissken wie Blutwurrst, aber keine Thema, krrriegen wa in Grrrif!“ scherzte er. Er schnappte mich an den Armen und zog mich in den hinteren Bereich des Ladens, wo die teuren Anzüge lagerten. Charlie setzte sich im vorderen Teil auf einen Stuhl und blätterte in einem Magazin. Es dauerte keine 20 Minuten, da hatte ich den Anzug aller Anzüge für mich gefunden. Und nicht nur das, sondern auch neue Socken, eine neue Unterhose, sowie ein neues Feinripp-Unterhemd. Wir gingen zur Kasse, Charlie zahlte mit einer goldenen Kreditkarte und ich behielt die Sachen gleich an. „Packen sie mir meine Wäsche bitte in eine Tüte? Ich möchte sie gerne mitnehmen!“ Der Verkäufer lachte. „Nein, dass geht nicht, ich chabe Anweisung errrhalten, die Sachen in das Rrreingung zu brrringen.“ Charlie nickte zustimmend. „Hansi, das Zeug stinkt nach Zwiebeln und Flönz. Wir lassen es hier gleich um die Ecke reinigen.“ Ich sah es ein. „Aber keinen Unfug mit den Sachen machen.“ – „Nein, nein! Die errrhalten sie rrrasch wiederrr!“ versprach der eigenartige Verkäufer. Wir gingen aus dem Laden und stiegen wieder in das direkt vor der Türe parkende Taxi. Der Fahrer wirkte ungeduldig.

Dann fuhren wir noch knapp fünf, sechs Minuten, bis wir vor einem riesigen Schloss standen. Charlie stieg aus. „Bis nachher mal.“ Auch ich wollte meine Türe von innen öffnen, doch sie war verriegelt. „Das muss wohl die Kindersicherung sein, Hans-Rüdiger!“ sagte der Taxifahrer. Plötzlich waren wir für den Bruchteil eines Momentes alleine im Wagen. Woher kannte er meinen Namen? „Wir müssen uns mal dringend unterhalten, bevor es zu spät ist.“ fuhr er weiter fort. Ich klopfte von innen an die Scheibe. „Kalle, mach mal auf, die Kindersicherung ist aktiv.“ Er reagierte nicht, justierte gerade sein Hörgerät neu. „Über was sollen wir denn reden? Ich kenne sie doch überhaupt nicht!“ entgegnete ich dem Mann. „Doch, du kennst mich. Glaub mir einfach, DU kennst mich.“ Dann berührte er mit Gewalt meine Hand. Blitzartig verschwanden meine realen Bilder vor Augen und vor mir schwebte ein uralter Teddybär mit drei Nasen in einem düsteren Raum. Ich riss mich los. „Jetzt langt es aber! Lassen sie mich sofort hier raus, sonst ruft Onkel Kalle die „Felsenzähne“!“ Der Taxifahrer lachte. Ich klopfte abermals gegen die Scheibe. „Ich glaube es nicht! Du hast dich an keine unserer Abmachungen gehalten und jetzt ist deine Seele schon kurz davor, überzugehen. Wenn jetzt innerhalb der nächsten 24 Stunden nichts passiert oder du nicht wenigstens wieder nach Essen kommst, dann ist der Wandel vollzogen, Du Spinner. Man hat dir sogar jetzt deinen allerletzten Schutzschild genommen! Deine eigenen Kleider.“ Jetzt endlich hatte Charlie mein permanentes Klopfen gehört und öffnete die Tür. Ich hatte in den wenigen Sekunden mit „Fredo“ im Taxi regelrechte Schweißausbrüche bekommen. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse. „Man! Das ist aber ein Vogel.“ sagte ich tief durch atmend, als ich endlich befreit war. Charlie lachte. „Ach, der dachte halt, dass ihr euch kennt. Er hat mich vier Tage auf meiner Auslandsreise begleitet, ein angenehmer Zeitgenosse. Wenn ihr Euch erstmal besser kennt, dann kommt ihr sicherlich gut klar!“ Dann sah ich vor mir meinen vermeintlich neuen Arbeitsplatz in voller Pracht: die Wasserburg Löttingshof. Sie war wunderschön.


(fsl)