Stern(hagelvoll)zeit 08-04. Alkoholisiert und
benebelt vom Rauch der Billardhalle lief ich nach
dem verlorenen Endspiel durch den Laden und suchte
einen Zufluchtsort. Soeben hatte ich meinen Mythos
der Unbesiegbarkeit für immer zu Grabe getragen,
denn ich hatte das Endspiel im „Rote-Beete-Kugeln"-Billard-Cup
verloren. Ausgerechnet gegen meinen Namensvetter und
härtesten Widersacher der letzten Turniere, Hans-Rüdiger
Hosen* (*sämtliche Namen und Personen in diesem
Artikel wurden von der Redaktion geändert, Namensgleichheiten
sind Aufgrund von beschissen gewählten Namen
eigentlich unmöglich).
Das Turnier wurde seinerzeit regelmäßig
ausgetragen und drei Mal in Folge hatte ich gewonnen.
Beim vierten Endspiel musste ich mich mit dem Titel
des Vizemeisters begnügen und wie einen Magneten
zog es mich nach dieser Niederlage an die Theke. Ich
musste meinen Frust und meinen Kummer ertränken.
Die Welt um mich herum ging unter. Nach etlichen Drinks
entschlossen Eddy, mein Onkel und ich uns noch dazu,
einen „Absacker" in der nahe gelegenen Kneipe
„Weckerchen" zu genehmigen. Wie zwei ferngesteuerte
Voodoopuppen machten wir uns also auf den Weg zu besagtem
Etablissement, allerdings kamen wir streckenbedingt
noch am Wirtshaus „Ypsilon" vorbei.
Zur damaligen Zeit war dieser Laden so ziemlich das
Letzte, was man am Wochenende besuchen konnte, einfach,
weil dort nie was los war. Der Suff sowie der Durst
nach mehr trieben uns jedoch in diese Kneipe. Wie
erwartet waren noch exakt vier Personen, davon zwei
weiblichen Geschlechtes, in dem Laden. Eine saß
in einem Grufti-Outfit und einem Schottenrock auf
ihrem Barhocker und die andere zapfte hinter dem Tresen.
Natürlich machte ich mich in meinem dichten Kopf
erstmal über die Ische im Schottenrock lustig,
zumal sie auch noch Armstrapse trug. Sie jedoch, wohl
schon geübt in solch eskalierenden Situationen,
versuchte mich in eine Grundsatzdebatte über
die Sinnlosigkeit von Gruppen- und Kleiderzwängen
zu ziehen. Sie schaffte es auch, denn im Suff sind
nicht nur alle Frauen schön (Ausnahme: diese
nicht), nein, auch jede noch so unsinnige Diskussion
wird plötzlich interessant und man unterhält
sich mitunter schon mal stundenlang über das
Wasser im Ijsselmeer; so roch zumindest ihr „Parfüm",
welches laut ihrer Aussage Patchouli war.
Kaum hatte ich also eine übelste Debatte mit
der Grufi-Tante am Arsch, stand vor mir die Kellnerin
des Ladens, bei der ich im Vorbeigehen kurze Zeit
vorher noch ein Bier bestellt hatte. WOW! Nicht nur,
dass das Pils eine vernünftige Krone aufweisen
konnte, nein, auch die Bedienung war durchaus ansehnlich,
weswegen ich nun erstmal meine vom Billardspielen
angewärmte Hüfte in eine andere Richtung
drehte und sie anstarrte. Sie war verdammt süß.
Sie kam noch einmal zu mir herüber und brachte
mir meinen Zettel, auf dem vorsorglich mein Name stand.
„Hier, Hans-Rüdiger! … dein Deckel."
flüsterte sie mir zwar nicht zärtlich ins
Ohr, sie kannte aber immerhin meinen Namen, was direkt
die erste Frage aufbrachte: Woher das? „Den hast
du mir doch letztens sogar gleich zwei Mal gesagt!"
erwiderte sie die Frage danach und ich konnte mich
vage zurück entsinnen. Zumindest erinnerte ich
mich jetzt auch wieder an den letzten Filmriss, nach
welchem ich wieder mal in Charly´s Bummelzug
in Gelsenkirchen am Hauptbahnhof aufgewacht war und
übelste Antischalke-Parolen von mir gelassen
hatte, ohne eigentlich zu wissen, wie ich dort hingekommen
war. Es konnte sich eindeutig nur um diesen Abend
handeln und jetzt wusste ich wenigstens wieder, wo
ich offensichtlich vorher gewesen war.
Sie hieß Ilse, wie sie mir sagte und als sie
endlich Feierabend machen konnte, fragte sie mich
doch tatsächlich, ob ich noch mit zum Weckerchen
gehen wolle. Eddy war inzwischen bereits mit dem Taxi
nach Hause gefahren und ich hatte etliches über
Gruftis und deren Einstellung zum Leben in Erfahrung
bringen können. Natürlich sagte ich nicht
nein und wir begaben uns auf den kurzen Fußmarsch.
Im Weckerchen war es für die späte Stunde
noch relativ gut besucht, also mussten wir uns notgedrungen
an die Theke stellen und ich konnte mich an die Vollen
machen, zumindest an die vollen Gläser, denn
davon standen in unmittelbarer Nähe etliche,
von denen ich zwar kein einziges persönlich bestellt
hatte, aber dennoch eines nach dem anderen entleerte.
Ilse und ich kamen, nachdem sie freundlich und friedlich
ihre Bekannten in dem Laden begrüßt hatte,
ins Gespräch. Erst über Belanglosigkeiten,
dann wurde ich intimer. „Wo kommst du eigentlich
her?" wollte ich wissen und nahm abermals eines
der näher stehenden Biere. „Aus Gelsenkirchen-Feldmark!"
polterte es aus ihr heraus und ehe ich mich versah,
hatte ich ihr mit voller Unabsicht ein paar Spritzer
Bier über die Bluse gepustet, denn ich musste
bei dieser Antwort das eben eingeführte Bier
wieder ausspucken. „Oh mein Gott, erst die Niederlage,
jetzt dies, und dann auch noch ´ne Alte aus
Gelsenkirchen." geisterte es durch mein Hirn.
Doch sie nahm das Ganze mit Humor und musste lachen.
„Ja, ich komme aus Gelsenkirchen-Feldmark!"
wiederholte sie abermals mit süffisantem Grinsen
und fügte noch hinzu: „Ich bin es zwar gewohnt,
dass die Leute aus Essen mir nicht gleich um den Hals
fallen und mich nicht sonderlich mögen, aber
angespuckt hat mich deswegen eigentlich noch keiner!"
Wie konnte ich nun aus dieser Nummer wieder raus kommen?
Ich hatte eine Idee. Ich wollte ihr, für mein
Malheur, ein Eis ausgeben. Ich nahm all meinen Mut
zusammen, fragte sie höflich nach ihrer Telefonnummer,
ehe ich mich versah, hatte ich einen Zettel mit wunderbarer
Handschrift in meinen Händen und tatsächlich
die Handy-Nummer von Ilse - es war keine 0190-er Nummer.
Als der Laden schloss, verabschiedeten wir uns und
ich wusste, ich würde sie unter normalen Umständen
nie wieder sehen.
Unabhängig von der Tatsache, dass diese Frau
aus Gelsenkirchen kam, hatte sie es mir doch irgendwie
angetan. Ich bot ihr an, sie im Laufe der kommenden
Woche mal besuchen zu kommen, in dem Glauben, sie
hätte mir eh die falsche Nummer gegeben. So textete
ich erst dienstags abends das allererste Mal und ich
war perplex, sie antwortete nicht nur, nein, es war
auch tatsächlich die Ilse, mit der ich nun immerhin
schon mal heftig simste.
Aufgrund der Länge dieser Geschichte verzichte
ich mal auf den Inhalt der folgenden knapp 150 SMS,
die nun in den nächsten zwei Tagen mit ihr ausgetauscht
wurden. Fakt ist, es wurde Donnerstag, und der Tag
des ersten Treffens nahte. Ich begab mich mit zwei
Flaschen Wein, die ich vorsorglich aus dem Weinkeller
meines Vaters entwendete hatte, auf den Weg in die
verbotene Stadt.
Beim vorletzten Mal (Filmriss, siehe weiter oben)
hatte ich Gaysenkirchen am Silvesterabend des Jahres
1995 betreten, wo mir zwei Sherrifs erst einen Alkoholtest
abnahmen, mich anschließend mit auf die Hauptwache
schleppten und ich durch diese Dreistigkeit zu spät
zur nächsten Party kam. Seither hatte ich nicht
nur deshalb enorme Antipathie für die „verbotene
Stadt". Ich stieg also in den Bus an der Haltestelle
vor meiner Haustür und machte mich auf den Weg.
13 Haltestellen lagen vor mir, in Kombination mit
meinen bisherigen Erfahrungen mit der Stadt Gelsenkirchen
an sich eigentlich ein mehr als schlechtes Omen. Am
Ende der Fahrt landete ich nach einmaligem Umsteigen
am Bahnhof im schicken Gelsenkirchen-Feldmark. Es
war ein spätsommerlicher Tag, die Sonne brutzelte,
und an der Haltestelle saß schon das Objekt
der Begierde: Ilse.
Sie wartete am Haltestellenhäuschen auf einem
dieser Sitze, die nie gerade angebracht, mit Kaugummis
zugeklebt oder aber mit Pennern besetzt sind. Sie
wartete allerdings nicht alleine auf mich, denn neben
ihr saß noch ein Golden Retriever. Sie sah auch
im nüchternen Kopf alles andere als mies aus.
Auch wenn ich im tiefsten Gelsenkirchen mein erstes
„Rendezvous" seit langem abhielt, war ich
doch sehr angetan von der ungewohnten Situation. Wir
begrüßten uns mit einem freundlichen „Hallo"
und machten uns auf den Weg, kurze Gespräche
folgten. Kaum hatte der Hund am ersten Baum das erste
Mal für mich ersichtlich ein Bein gehoben, wartete
ein erster echter Schock auf mich. Ilse befahl dem
Vierbeiner: „Huub, hier nicht kacken!" Nach
kurzem Schlucken dachte zunächst noch, ich hätte
mich verhört, doch beim zweiten Zuhören
wurde es ersichtlich: die Töle hieß „Huub".
Ich fragte erst gar nicht, wie das Vieh zu diesem
ungewöhnlichen Hundenamen kommen konnte, denn
ich ahnte Böses. Kurioserweise berichtete Ilse
mir, der Hund sei exakt 7 Jahre alt (Anm.: 2004 minus
1997 ergibt 7, 1997 wurden die Königsblauen bekanntlich
Verlierer-Cup-Sieger). Wir kamen nach ca. vier Minuten
Fußweg in der Straße an, wo Ilse ihr Heim
hatte. 4 Minuten; ein Zeitraum, der seit 2001 in Gelsenkirchen
hinlänglich bekannt sein dürfte! Auf der
gegenüberliegenden Straßenseite grinsten
mich rot-weiße Fahnen an, was mir die Straße
zwar keinesfalls sympathischer machte, aber mich doch
stark verwunderte, denn wie konnten ehrliche und aufrichtige
Essener hier hausen, hier ihrem gewohnten Tagesablauf
nachgehen – eine Fahne der Heimat am Fenster
hängen haben – und immer noch leben?
Ilse, Huub und ich gingen in das Haus. Huub schnüffelte
noch einmal an meinem Bein. Als Ilse kurz wegblickte,
zuckte es in meinen Waden, ich wollte ihn treten,
aber ich konnte mich gerade noch zusammenreißen,
denn der Köter konnte schließlich nichts
für sein jämmerliches Dasein. Sie schloss
die Wohnungstür auf und direkt im Korridor erwartete
mich die nächste Katastrophe. Eine Schalke 04-Fankappe
und ein Poster der 2001er Pokalsiegermannschaft hingen
an der Wand im Eingangsbereich, teilweise noch original
unterschrieben. Endlich rückte sie mit ihrer
Sprache raus. „Ich bin ja eigentlich ne Schalkerin,
Hans Rüdiger." sagte Ilse, aber wusste sie
auch, dass ich das bereits beim Namen des Hundes hätte
wetten können? Wusste sie, dass vor ihr jemand
stand, der die 41 bisherigen Meister der Bundesliga
mit Jahreszahlen und Torschützenkönigen
auswendig aufsagen konnte? Jeder normale Fiffy dieser
Welt wird Waldi, Fido oder Brutus gerufen, dieser
aber musste den Namen eines holländischen Trainers
haben? Die Welt war grausam, aber eben diese Frau
nicht. Ich war nun in der Höhle des Löwen.
Hatte ich vorher jeden Ansatz von Kommunikation mit
Anhängern des anderen (bösen) Vereines bereits
im Keime ersticken lassen, saß ich nun einer
recht interessanten, zierlichen Frau gegenüber,
die all das Böse an Grausamkeiten für einen
RWE-Anhänger in ihrem Wesen vereinte: sie war
durch und durch blau-weiß verseucht.
Gab es jemals eine Chance, diese nette Frau, die sich
offensichtlich mit ihrem Schicksal, abgefunden hatte,
zu retten? Ich gab die Hoffnung nach zwei, drei Gläsern
Wein aus Vatters Keller und etlichen sympathischen
Blicken ihrerseits immer noch nicht auf und ich sagte
die vernichtenden Sätze: „Du, Ilse, ich
bin eigentlich ein RWE-Fan!" Sie sagte jetzt
nichts mehr, es wurde kurz ruhig, von irgendwo her
kam Musik, wie in einem Horrorfilm, es war die Flötenmusik
vom Klüngelskerl, (Anm. Klüngelskerl ist
Ruhrpottdeutsch für einen Schrotthändler;
diese kündigen im Regelfall ihre Ankunft mit
Panflötenmusik vom Band an) die durch das offen
stehende Fenster in das Zimmer drang. „Ich biete
Dir an, Dich zu heilen, Ilse." sagte ich mit
zittriger Stimme. „Du kommst demnächst mal
mit nach RWE und wenn Du einmal da warst, wirst Du
eh nie wieder in die Turnhalle an der Emscher gehen
wollen! Solltest Du also einmal in Deinem Leben die
Hafenstraße in Essen freiwillig betreten …
und zwar mit mir, dann werde ich gaaanz sicher auch
mit Dir in die Arena gehen!"
Ich hoffte, sie würde nie darauf eingehen oder
aber die Stimmung an der Hafenstraße würde
sie direkt „umpolen", wodurch ich letzteren
Teil meines Angebotes irgendwie hätte umgehen
können. Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem
Weinglas, zog an ihrer Fluppe, streichelte ein letztes
Mal Huub, der inzwischen sein blau-weißes Gassigeschirr
abgelegt hatte und willigte schließlich ein.
„Ich komme nächste Woche mit Dir nach RWE,
Hans-Rüdiger, und Du kommst irgendwann mal mit
in die Arena, damit Du mal siehst, was richtige Stimmung
ist.", sagte sie und mir war klar, ich hatte
soeben meine Seele an den Teufel verkauft, möglicherweise
aber auch schon längst mein Herz verloren. Ich
wollte mir dennoch keine Zeit lassen, ihre Abseitsfalle
erstmals zu überlisten. Deshalb machen wir jetzt
erstmal hier das Licht aus …