Über Bielefeld nach Berlin!

Zwei Dinge schmälern die Freude allerdings. Zum einen blutet den Fußballfans aus beiden Lagern das Herz darüber, dass das Match vor fast leeren Tribünen stattfinden müssen wird. Rot-Weiss hätte die Arminia trotz der fanunfreundlichen Anstoßzeit am Montag um 18.30 Uhr vor rappelvollen Rängen empfangen. Gäbe es nicht nach wie vor die NRW-Corona-Schutzverordnung, die nur eine dreistellige Anzahl an Enthusiasten zulässt. Darüber hinaus erlitt die Euphorie auf Essener Seite aufgrund des sehr mäßigen Saisonauftakts gegen den SC Wiedenbrück einen empfindlichen Dämpfer. Der geneigte Fußballfreund weiß jedoch aus Erfahrung, dass RWE den klar favorisierten Gästen dennoch aller Voraussicht nach alles abverlangen wird. Nach dem Niederrheinpokalsieg formulierte Chefcoach Neidhart daher auch eindeutige Essener Siegesabsichten.

Mit den Gästen aus Ostwestfalen stellt sich eine Mannschaft vor, die seit sechs Jahren fast heimlich still und leise im Schwerpunkt Erfolgsgeschichten schreibt. Einen Teil davon hat auch RWE-Boss Marcus Uhlig mitgestaltet. Wahrscheinlich fiel es Uhlig daher etwas leichter, eine Aktion zu starten, die zumindest 100 RWE-Fans außerhalb des Kreises von Offiziellen und Sponsoren den Weg zum Live-Event im Stadion Essen öffnen wird. Wer eine Aktionskarte für 9,70 € oder im Doppelpack für 19,07 € erwirbt, hat die Chance per Auslosung zu den 100 Auserwählten gezählt zu werden. Daher darf man die Tickets wohl auch besser Lose nennen. Nett von Arminia Bielefeld und dessen Geschäftsführer Markus Rejek, auf einen finanziellen Anteil an dem Gesamterlösen der Aktion zu verzichten.

Uhlig war einer der Vorgänger Rejeks in der Bielefelder Geschäftsführung, als die Arminia in der Saison 2014/15 nach dem Zweitligaabstieg in der Vorsaison den direkten Wiederaufstieg schaffte. Noch spektakulärer war jedoch der Auftritt im DFB-Pokal. Als Drittligist erreichte Bielefeld das Halbfinale. Nacheinander hatte die Arminia die klassenhöheren Kontrahenten aus Sandhausen, Hertha BSC Berlin, Bremen und sogar Mönchengladbach ausgeschaltet. Dann war Schluss gegen den VFL Wolfsburg, bei dem unter anderen auch Kevin de Bruyne mitwirkte und alleine mehr Geld verdiente, als der gesamte Arminen-Kader zusammen.

RWE und den D(eutschen) S(port)C(lub) Arminia verbindet eine besondere Vergangenheit. Infolge des Bundesligaskandals von 1971, als Essens Lieblingsnachbar Gelsenkirchen sich eine Niederlage gegen die Bielefelder bezahlen ließ und beim späteren Prozess vor dem Essener Landgericht erstaunliche Erinnerungslücken an den Vorgang offenbarte, sind die Beziehungen der alteingesessenen Fanlager noch immer als problematisch einzustufen. Die Arminia erkaufte sich so zumindest vorerst den Klassenerhalt in der Bundesliga.

Der immer noch größte Skandal in der deutschen Fußballgeschichte wurde schließlich durch den Offenbacher Offiziellen Horst-Gregorio Canellas aufgedeckt. Und zwar auf dessen Party anlässlich seines 50. Geburtstages, zu dem zahlreiche DFB-Funktionäre und auch der damalige Bundestrainer Helmut Schön eingeladen worden waren. Canellas war schlichtweg beleidigt, dass seine Offenbacher abgestiegen waren, obwohl sie ebenfalls kräftig mitgeboten und geschoben hatten. Einer der wenigen Vereine mit weißer Weste in dieser Causa, nämlich RWE, musste aufgrund verkaufter und gekaufter Spiele der Konkurrenz den Weg in die zweite Liga antreten, was der wie üblich sportlich faire DFB auch nicht rückgängig machte, obwohl der Skandal weit vor Beginn der kommenden Saison aufgedeckt worden war. Zur Krönung spielte Bielefeld die kommende Erstligasaison ohne Wertung und bekam alle Punkte abgezogen.

Warum beide Mannschaften nicht einfach in der Spielzeit 1971/72 die Ligen getauscht haben, zählt zu den vielen ungelösten Geheimnissen aus der Otto-Fleck-Schneise 6 in 60528 Frankfurt am Main. Das ist in Essen bis heute unvergessen und auch die Arminia war mittendrin statt nur dabei gewesen. Zwar nahm man es den Bielefeldern nicht ganz so extrem krumm wie dem schlechten Nachbarn, dessen Name seitdem in Essen nicht mehr ausgesprochen wird und wenn dann bestenfalls nur noch unter dem Pseudonym FC Meineid. Doch als herzlich darf man auch das Verhältnis der Ostwestfalen zu den Ruhrpottlern bestimmt nicht charakterisieren. Daher liegt traditionell Brisanz in der Luft, wenn beide Teams sich in Pflichtspielen treffen. Das geschah in der Liga zuletzt in der Saison 1994/95 in der damaligen Regionalliga West/Südwest, damals die dritthöchste Spielklasse mit drei Ligen. RWE siegte vor heimischer Kulisse mit 1:0 durch ein Tor von Haken-Olli Grein, ging aber auf der Bielefelder Alm mit 0:4 unter. Danach trennten sich die Wege beider Klubs, denn Bielefeld war fortan mindestens immer eine Spielklasse über Rot-Weiss am Start, dennoch haben die Essener noch immer die bessere Bilanz in den Treffen beider Teams um Punkte. Im DFB-Pokal duellierte man sich bereits 1977 und 2016, davon wird an späterer Stelle die Rede sein.

Trotz der belasteten Vergangenheit gibt es auch auf beiden Seiten jeweils gute alte Bekannte zu begrüßen. Nicht nur Marcus Uhlig war vor seinem Engagement an der Hafenstraße 97 A auch einmal für Bielefeld im Einsatz. Essens Keeper Daniel Davari saß beim Pokalauftritt der Leineweberstädter 2016 noch auf der Bank des Gegners, nun will der Iraner als Nummer 1 bei Rot-Weiss seinem Ex-Klub Kopfschmerzen bereiten. Arminias offensiver Mittelfeldakteur Cebio Soukou wiederum wurde als noch ganz junger Spieler von Waldi Wrobel aus Bochum nach Essen gelotst, wo er immerhin 3,5 Jahre heimisch blieb.

Der hoch veranlagte Soukou hätte in dieser Zeit wahrscheinlich noch viel mehr als die letztlich 56 Spiele mit 11 Treffern für RWE zu verbuchen gehabt, wenn ihn nicht eine schwere Kreuzbandverletzung und später sogar eine Dopingsperre ausgebremst hätten. Über die Umwege Aue und Rostock gelangte Soukou schließlich zur Arminia, wo er sich nun tatsächlich den Traum von der ersten Bundesliga erfüllen können wird. Last but not least ist der Bielefelder Chefcoach Uwe Neuhaus in Essen alles andere als unbekannt. Vier Jahre lang trug der im nahen Hattingen geborene Neuhaus in den 80er Jahren das RWE-Trikot und überzeugte als technisch versierter Abwehrspieler. Einige Jahre danach kehrte er als Chefcoach nach Essen zurück.

Am Ende der Saison 2004/05 übernahm Neuhaus an der Hafenstraße ein quasi Himmelfahrtskommando. Vier Spieltage vor Schluss löste er den bei den Fans trotz der sportlichen Talfahrt sehr beliebten Jürgen Gelsdorf ab. RWE war in höchster Abstiegsgefahr und dem Rückkehrer gelang das Kunststück der Rettung nicht mehr. Von Neuhaus personell komplett runderneuert schaffte Rot-Weiss in der Folgesaison jedoch den direkten Wiederaufstieg. Geliebt wurde er zumindest von Teilen der Fans trotzdem nicht. Seine ruhige und abgeklärte Art stieß einigen Leuten sauer auf, die die Qualität von Fußballtrainern auf der nach oben offenen Peter-Neururer-Skala für Lautsprecher ausmachten. Nach einer Ergebniskrise musste Neuhaus im November 2006 seinen Stuhl räumen. Nutzen sollte RWE das nichts. Nachfolger Lorenz-Günther Köstner entpuppte sich zwar menschlich als das komplette Gegenteil seines Vorgängers, am Ende der Saison stieg Essen dennoch aus der zweiten Liga ab und seitdem nie wieder dorthin auf.

Uwe Neuhaus hingegen feierte danach viele Erfolge, führte Union Berlin aus der dritten in die zweite Liga, wo er den zuvor als Krisenklub verschrienen Verein stabilisierte und 7 Jahre lang das Vertrauen geschenkt bekam. Der Aufstiegsspezialist brachte auch Dynamo Dresden hoch in die zweite, nun Arminia Bielefeld in die erste Liga. Einen Verein, den er erst in der Winterpause der Vorsaison übernommen hatte und der mehr nach unten als nach oben schielen durfte. In kurzer Zeit hat Neuhaus aus einer eher mittelmäßigen Zweitligatruppe eine Spitzenmannschaft geformt, welche die Liga mit großem Vorsprung gewann. Mit fast 61 Jahren ist der Mann, den in seiner Trainer Vita womöglich viele Leute deutlich unterschätzt haben, nun in der ersten Bundesliga angekommen. Das ist ihm ausdrücklich zu gönnen.

Viele deutlich jüngere Trainerkollegen gingen den umgekehrten Weg und erhielten gut dotierte Erstligajobs, ohne dass sie zuvor als Trainer im Profibereich wirklich etwas vorweisen hätten können. Seine erste Cheftrainerstelle im Profifußball hat Neuhaus jedenfalls nicht vergessen. Als er im Dezember 2018 bei der damals noch krisengeschüttelten Arminia, die gerade Jeff Saibene entlassen hatte, vorgestellt worden ist, verwies Neuhaus quasi als Beweis auch bei Traditionsvereinen mit unruhigem Umfeld gut arbeiten zu können darauf, u.a. auch schon Rot-Weiss Essen trainiert zu haben. Bei seiner Rückkehr zur Essener Hafenstraße, die er zuvor auch mehrfach mit Union Berlin wieder bereist hatte, dürften daher wahrscheinlich gemischte Gefühle die Begleiter des Erfolgstrainers sein.

Apropos Rückkehr. Nach einer Abstinenz von 11 Jahren kehrt der Gast aus Bielefeld nun in das Fußball-Oberhaus zurück und das von vielen unerwartet. Die von den meisten Experten klar höher eingeschätzten Ligafavoriten aus Stuttgart und Hamburg, die auch finanziell einen signifikant höheren Aufwand betrieben, sahen wie alle anderen Truppen auch fast fortwährend nur die Rücklichter der Arminia, deren Aufstieg vordergründig eine Sensation zu sein scheint, beim genaueren Hinsehen jedoch auf der Basis von kontinuierlich guter und ruhiger Vereinsarbeit zu sehen ist.  So rotiert man in Bielefeld beim spielenden Personal nicht ganz so häufig wie anderswo.

Stürmer Fabian Klos ist nach 9 Jahren im Verein mittlerweile wohl Mister Arminia. Ob in der dritten, ob in der zweiten Liga oder auch im DFB-Pokal, Klos trifft überall und mittlerweile so häufig wie kein zweiter Spieler in der Vereinsgeschichte. In 327 Pflichtspielen für die Bielefelder versenkte er das Leder satte 152 Male in des Gegners Tor. Zudem spielten nur drei Akteure überhaupt häufiger als Klos für Arminia. In der heutigen schnelllebigen Fußballzeit ist die Ehe zwischen dem Torjäger und dem Klub aus Ostwestfalen durchaus bemerkenswert. Mit zunehmenden Fußballeralter wird die klassische Nummer 9 dabei offenbar noch stärker. Mit 21 Treffern holte sich der mittlerweile 32 Jahre alte gebürtige Gifhorner die Torjägerkrone der Zweiten Liga und befindet sich auf dem zumindest vorläufigen Zenit seiner Karriere.

Mister Zuverlässig Stephan Salger spielt zwar seit jüngstem nicht mehr für Bielefeld, sondern für 1860 München. Dennoch war auch der flexible Defensivspezialist zuvor 8 Jahre lang für Arminia am Ball und auf der Alm so heimisch geworden, dass er zwischendurch noch sein Abitur am Bielefelder Abendgymnasium nachholte. Ebenso läuft Innenverteidiger Brian Behrendt seit 5 Jahren für die Ostwestfalen auf, weitere Spieler sind zudem mindestens seit 2 Jahren mit an Bord. Youngster Jomaine Consbruch entstammt der eigenen Jugend. Bei Arminia setzt man also durchaus auf Kontinuität und darauf, eine Mannschaft zu entwickeln. Da man seit 2015 konstant in der zweiten Liga gespielt hatte, fiel das auch leichter, denn große personelle Umbrüche sind häufig durch Auf- oder Abstiege bedingt,

In dieser Saison gönnte sich der DSC mit 9 neuen Spielern infolge des Erstligaaufstiegs auf dem Transfermarkt dann auch mehr als gewöhnlich, Ablösen zahlte er dabei dennoch nicht. Die Offensive wurde unter anderem mit Sergio Cordova ergänzt, der für den FC Augsburg bereits 62 Bundesligaauftritte hatte. Hier lauert aber neben Klos und Cordova auch noch Andreas Vogelsammer, der auch bereits mehr als 4 Jahre auf der Alm stürmt und in Bielefeld so gut funktioniert wie beim keinem seiner vorherigen Vereine. Mit 65 Treffern stellte die Offensivabteilung von Lohmanns Wiese auch den besten Zweitligasturm. In der Kategorie beste Abwehr sicherte sich der Zweitligachampion ebenfalls den Spitzenplatz. Die Gegner erzielten 30 Tore gegen die Arminia, zum Vergleich, in der Kiste des Vizemeisters Stuttgart klingelte es gleich 11 Mal häufiger.

Obwohl die Abwehr vor Stammkeeper Stefan Ortega somit schon sehr gute Arbeit verrichtete, rüsteten die Arminen für das Abenteuer erste Bundesliga im Defensivbereich noch einmal auf, Prominentester Neuer, weniger vom Namen als von seiner sportlichen Vita her, ist hierbei der Innenverteidiger Mike van der Hoorn, der bei Swansea City 32 Premier League Einsätze hatte.  Der Niederländer lief auch schon für den Vorzeigeklub seiner Heimat Ajax Amsterdam und dort auch in der Champions League auf. Insgesamt blieb Arminia seiner Linie treu, nicht die großen Namen an den Teutoburger Wald zu holen und weiterhin stattdessen auf ein funktionierendes Mannschaftsgefüge zu setzen. Einen echten Star hat die Mannschaft um und neben Kultkicker Klos jedenfalls nicht. Am ehesten darf der offensive Mittelfeldmann Reinhold Yabo als ein solcher angesehen werden. Der sammelte auch schon bei RB Salzburg internationale Erfahrung, war in der Rückserie 2016/17 zunächst an die Arminia ausgeliehen und gehört seit Januar 2019 nach einer zwischenzeitlichen Rückkehr nach Salzburg zum festen Stamm auf der Alm. Ein Yabo an guten Tagen ist ein sogenannter Unterschiedsspieler. Die Maus beißt keinen Faden ab, obwohl die Ostwestfalen keinen Übergegner darstellen, sind sie im Match an der Hafenstraße der klare Favorit und satte drei Ligen über den gastgebenden Essenern angesiedelt. Diese peilen dennoch die Sensation an.

Rot-Weiss leckt aber nach dem Start in die Spielzeit noch seine Wunden. In letzter Minute ließ sich der hoch ambitionierte Revierklub vom frechen Aufsteiger aus Wiedenbrück den Siegesbraten per Sonntagsschuss vom Teller nehmen. Das jedoch war keineswegs unverdient für die Gäste. Essen zeigte sich nach dem Match selbstkritisch und unzufrieden mit dem Ergebnis und der Leistung. RWE hinterließ bei seiner Anhängerschaft so manches Fragezeichen, eines davon wie es sein kann, dass die Roten sich in der Schlussphase des Spiels stark in die eigene Hälfte drängen ließen und keine konstruktive Entlastung zustande brachten. Zudem rätselte die Anhängerschaft über die genaue Essener Spielphilosophie.

Trieben die Rot-Weissen in der letzten Saison mit extrem zu nennendem Kleinklein am eigenen 16er manchmal gar sich selbst die Schweißperlen auf die Stirn, spielte RWE gegen Wiedenbrück auch in diversen Situationen lange Bälle, in denen der Gegner nicht zustellte und kein Pressing betrieb. Eine Taktik, die effizient sein kann, wenn in des Gegners Hälfte die Kopfbälle geholt werden, was häufiger nicht der Fall war. Über Außen in den Rücken der gegnerischen Abwehr zu kommen, gelang auch selten. Machte Wiedenbrück diese Räume zu oder verzichtete RWE auf diese Wege? Und wer außer Simon Engelmann trifft in des Gegners Tor? War Essen letztlich zu siegessicher, ja gar überheblich und warf zu wenig in die Waagschale?

Sehr wahrscheinlich wird der Pokalauftritt gegen die Bielefelder Arminia auf alle diese Fragen keine Antworten geben, die für die Liga tauglich wären. Es steht eines der wenigen Spiele an, in denen die Rollen klar anders verteilt sind als im Alltag. Dass die Rot-Weissen Rezepte gegen einen tiefgestaffelten Gegner finden müssen, ist nicht zu erwarten. Vielmehr wird man selbst vermehrt gut verteidigen müssen. Die Arminia ist bekannt für ein sehr geduldiges für den Gegner zermürbendes Aufbauspiel, das auch auf hoher defensiver Stabilität beruht. RWE wird viele Wege gehen müssen, um dem Gegner die nötigen Räume zu verbauen und seinerseits die Konterchancen zu suchen. Die Sehnsucht des Vereins endlich mal wieder etwas Großes auf die Beine zu stellen, wird der Mannschaft hoffentlich Flügel verleihen.

Derweil schwelgen die Essener Fans in Pokalerinnerungen. Noch immer dürfte es gar Zeitzeugen geben, die 1953 den RWE-Triumph im DFB-Pokal miterleben durften. Mit 2:1 schlugen die einzig wahren Roten die Kartoffelkäfer aus Aachen, auch national historisch, denn es war der erste DFB-Pokalwettbewerb nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Viertelfinale hatten die Essener übrigens den Hamburger SV mit 6:1 vom Platz gefegt. RWE erreichte in der Saison 1976/77 immerhin das Halbfinale. Beim 1.FC Köln setzte es jedoch eine 0:4 Schlappe. Aber im Achtelfinale schickten die Roten zuvor die Schwarz-Weiß Blauen aus Bielefeld mit einer 0:2 Niederlage im Gepäck zurück nach OWL, für die sich Horst Hrubesch und Flemming Lund als Torschützen verantwortlich zeigten.

Der größte Erfolg seit 1953 im Wettbewerb stand aber noch bevor. Noch nicht im Rentenalter muss man sein, um seine geliebten Rot-Weissen zum Pokalendspiel 1994 nach Berlin begleitet zu haben. Vor 76.000 Zuschauern ging das Match zwar mit 1:3 gegen Werder Bremen verloren, doch wer die von geschätzten 35.000 Essener Anhängern sogar während der Siegerehrung und der Pokalübergabe an Bremens Kapitän Rune Bratseth lauthals vorgetragenen „Rot-Weiss Essen“-Gesänge noch im Ohr hat, dem jagt es noch heute gut 26 Jahre später eine Gänsehautpelle nach der anderen über den Rücken. Bereits in der übernächsten Spielzeit 1995/96 schafften es die Rot-Weissen immerhin bis ins Achtelfinale. Dort unterlagen sie einer als Starauswahl zu bezeichnenden Mannschaft von Bayer Leverkusen, die Spieler wie Bernd Schuster, Rudi Völler, Paulo Sergio, Ioan Lupescu und Christian Wörns aufgeboten hatte, erst im Elfmeterschießen. Nach 120 Minuten hatte es sage und schreibe 4:4 Unentschieden gestanden. Übrigens auch schon nach 90 Minuten. Leverkusen führte mit 1:0, 2:1 und 4:2. RWE glich ein jedes Mal wieder aus. Nach dem 4:4 durch Putsche Helmig, das nur knapp 2 Minuten auf den Anschlusstreffer von Christian Dondera zum 3:4 gefolgt war, explodierte das altehrwürdige Georg-Melches-Stadion beinahe und die sprichwörtlich wildfremden Menschen lagen sich ungläubig jubelnd in den Armen.

Pünktlich zum Elferschießen setzte dann Starkregen ein, der RWE offenbar aus dem Konzept brachte. Leverkusen verwandelte alle seine 4 Strafstöße, Essen nur einen einzigen, sodass das kuriose Endresultat von 5:8 entstand. Als nette Schmunzel-Anekdote darf noch erzählt werden, dass RWE an diesem Abend gemeinsam mit Leverkusen nicht nur ein Feuerwerk auf dem Platz abgebrannt hatte, sondern die Essener Verantwortlichen es für eine gute Idee gehalten hatten, vor Spielbeginn hinter der ehemaligen Westtribüne auch ein reales Feuerwerk zu zünden. ZDF-Reporter Rolf Töpperwien bilanzierte, eine solche Begrüßung in seiner Reporterlaufbahn außer im Aztekenstadion von Mexiko City noch nicht erlebt zu haben. Als Folge davon fiel einer der Flutlichtmasten in der ersten Halbzeit vorübergehend aus, sodass die Akteure das doch so sehenswerte Spiel zu Beginn unter Schummerbeleuchtung absolvierten. Es handelte sich übrigens um das noch heute auf dem Stadionvorplatz zu besichtigende Relikt der alten Flutlichtanlage. Das waren die Höhepunkte der Essener Pokalhistorie, um die es in den letzten Jahren deutlich ruhiger geworden ist. Immerhin stand RWE in der Spielzeit 2007/08 erneut im Achtelfinale, doch anders als gegen Leverkusen ließ der Hamburger SV, zu diesem Zeitpunkt noch eine echte Spitzenmannschaft in der Bundesliga, keinen Zweifel am Favoritensieg aufkommen und siegte mit 3:0 an der Hafenstraße.

Das letzte Mal, dass RWE ein Spiel der Hauptrunde gewann, war 2011 gegen Union Berlin. Die damals von Waldi Wrobel trainierte Mannschaft war gerade wie Phönix aus der Asche wieder aus der fünftklassigen NRW-Liga aufgestiegen, wohin sie der Zwangsabstieg infolge der Insolvenz 2010 verschlagen hatte. Die Eisernen kamen als Zweitligist und klarer Favorit in das gute alte Georg-Melches-Stadion, dem seine letzte Spielzeit als Essener Heimstätte bevorstand. Bei unseren Roten schnürte Kevin Grund bei einem seiner ersten Auftritte für den besten Klub der Welt die Schuhe. Nach Toren von Brauer und Koep führte RWE bis kurz vor Schluss mit 2:0, als Eisern ein Doppelschlag zum Ausgleich gelang.

Nun rechneten nicht gerade wenige Anhänger mit einem Essener Einbruch in der Verlängerung. Doch RWE hielt stand bis zum Elfmeterschießen, dort wuchs Keeper Dennis Lamczyk über sich hinaus und parierte gleich zwei Gästeelfmeter. Den Schlussstrich zog dann Vincent Wagner, der eiskalt den letzten Essener Elfer verwandelte. Seitdem sind RWE solche Erfolgserlebnisse leider nicht mehr vergönnt gewesen. In der nächsten Runde waren wieder Berliner zu Gast, diesmal die Hertha. Immerhin hielt Essen eine gute Stunde lang die Kiste sauber, unterlag dem Bundesligisten aber letztlich mit 0:3. Das zu diesem Zeitpunkt nur noch einer Ruine gleichende GMS beherbergte an diesem Abend noch einmal 14.000 Zuschauer, die das letzte DFB-Pokalspiel an der legendären Spielstätte in Bergeborbeck sahen. Im neuen Stadion Essen schaffte man keine weitere Pokalsensation mehr.

Union Berlin bekam im Folgejahr sofort die Chance zur Revanche, fast 120 Minuten fielen diesmal keine Tore, ein Elferschießen lag erneut in der Luft, als Simon Terodde doch noch für die Eisernen treffen sollte.  Noch weitere drei Male sollte RWE bis zum heutigen Tage sein Glück versuchen. Dreimal scheiterten die Essener knapp. Zunächst 2015 im Elfmeterschießen an Fortuna Düsseldorf, nach den vorherigen 120 Minuten hatte es 0:0 gestanden. Die einzig wahren Roten hätten den Sieg verdient gehabt, belohnten sich jedoch nicht. Im August 2017 trat RWE zum bisher letzten Male im DFB-Pokal im Stadion Essen an. Das Gastspiel des Champions League Teilnehmers Borussia Mönchengladbach brachte so etwas wie Bundesliganostalgie in den Essener Norden, doch angesichts des Dreiklassen Unterschieds gegenüber den Gästen aus der Eliteklasse sowie einer vorhergegangenen Ligaschlappe gegen Wuppertal nach ganz schlechter Leistung hofften die Essener Anhänger darauf, dass die Borussia es nicht ganz so schlimm gestalten würde für die Roten.

Doch es kam zu einem leider nur fast legendären Pokalabend. Benjamin Baier, der wie so häufig in solchen Partien über sich hinauswuchs, brachte RWE nach einer halben Stunde per Kopf in Führung, die Flanke kam von Dennis Malura. Das Stadion Essen erbebte in seinen modernen Grundfesten. In der Folgezeit sangen, schrien und peitschten die Essener Anhänger ununterbrochen von allen der Heimseite zugehörigen Tribünenteilen ihre Mannschaft nach vorne, als gäbe es für die von literweise Stauderbier geölten Stimmbänder kein Morgen mehr, und glaubten mit zunehmender Spieldauer immer fester an die Sensation. Bis tatsächlich zur 79. Spielminute behielt die Führung Gültigkeit, dann glich Jonas Hoffmann für Mönchengladbach aus, in der nächsten Situation besorgte Ballzauberer Raffael den durchaus glücklichen Erfolg für die Gäste. Dennoch verneigten sich die Fans an diesem Abend tief vor ihrer Mannschaft und diese sich vor ihren Anhängern, gemeinsam hatte man den Mythos Hafenstraße aufleben lassen. Die starke Leistung verlieh jedoch keine Flügel in der Liga, die Essen am Ende der Saison als enttäuschender Zehnter abschließen sollte.

Zwischen den Spielen gegen Düsseldorf und Mönchengladbach lag noch ein weiterer RWE-Pokalauftritt, und zwar ausgerechnet gegen Arminia Bielefeld, damals Zweitligist. Jeweils zwei Akteure, die noch heute in den Kadern ihrer Mannschaften stehen, waren auf beiden Seiten bereits dabei. Bei Arminia standen Fabian Klos und Brian Behrendt auf dem Feld, bei RWE die Dauerbrenner Kevin Grund und Marcel Platzek. Das Ende kennt man bereits, RWE setzte auch in diesem Match die durchaus vorhandene Chance auf das Weiterkommen in den Sand oder besser an den Pfosten. Nach 120 nervenaufreibenden Minuten, die Essen nach einem hart zu nennenden Platzverweis gegen Patrick Huckle gar eine Stunde in Unterzahl zu bestreiten hatte, stand es 2:2 Unentschieden.

Für Arminia hatte Fabian Klos, wer sonst, doppelt getroffen, RWE jeweils durch Malura und einen von Baier verwandelten Foulelfmeter geantwortet. Wieder einmal musste das Elfmeterschießen zur Entscheidung bemüht werden, wie gegen Düsseldorf hatte Rot-Weiss das Glück nicht auf seiner Seite. Lediglich einer der zehn Schützen vergab, Dennis Malura traf nur den linken Pfosten. Essens Pokalreise endete, Bielefeld nahm nicht nur späte Revanche für das Pokalaus in Essen knapp 40 Jahre zuvor, sondern siegte auch in den folgenden beiden Partien bei Dynamo Dresden und dem Underdog FCA Walldorf und drang bis ins Viertelfinale des Wettbewerbs vor, wo man dann auswärts mit 0:1 beim Erstligisten Eintracht Frankfurt verlor.

Der guten Pokalsaison stand eine schlechte Ligaperformance gegenüber, Arminia rettete sich erst am letzten Spieltag vor dem Abstieg und verschließ in diesem Jahr mit Rüdiger Rehm und Jürgen Kramny zwei Trainer, erst der Luxemburger Jeff Saibene brachte als Coach Nummer drei den sportlichen Aufschwung. Da lautet der Essener Ratschlag an den DSC, sich diese Saison von Anfang an auf den Klassenerhalt in der Bundesliga zu konzentrieren und im Pokal seine Kräfte zu schonen. RWE hingegen setzt darauf, endlich einmal wieder über die Startrunde hinauszukommen und den ersten Pokalcoup im neuen Stadion Essen überhaupt zu feiern. Eine wichtige Anekdote sollte zum Schluss noch nachgeliefert werden. Trainer der 2011 besiegten Berliner war Uwe Neuhaus. Somit hoffen alle, die es mit RWE halten, auf ein Deja Vu des sportlichen Chefangestellten der Bielefelder.

NUR DER RWE!

Sven Meyering