15.09.2020

Größter Triumph im Stadion Essen

von Hendrik Stürznickel

Neun Jahre ist es her, als Vincent Wagner den entscheidenden Elfmeter im Kasten von Union Berlin versenkte und RWE in einen Freudentaumel versetzte. Die Pokalhelden hießen Wagner, Lamczyk, Koep und Brauer, es wirkt beinahe wie eine Ewigkeit her, dass diese Namen auf den rot-weissen Trikots standen. Es war der letzte große Erfolg des Georg-Melches-Stadions und er blieb es bis zum 14. September 2020. An diesem Montagabend schlug Rot-Weiss Essen den Erstligaaufsteiger Arminia Bielefeld in der regulären Spielzeit und feiert damit seinen größten Triumph nach dem Umzug in das Stadion Essen.


Oh, RWE!!! Unfassbar geil!!!
(Michael Welling)


Christian Neidhart hatte offensichtlich einige Stellschrauben erkannt, die dafür gesorgt hatten, dass das erste Saisonspiel der Regionalliga nicht den gewünschten Verlauf nahm und stellte die Mannschaft um. Die Personalien überraschten viele Fans. So stellte Neidhart das System um und brachte Herzenbruch in einer Dreierkette unter, um Kevin Grund ein wenig vorzuziehen. Plechaty wurde ebenfalls offensiver eingesetzt, wodurch sich Oguzhan Kefkir und Joshua Endres auf der Bank wiederfanden. Der 17-jährige Noel Futkeu durfte in diesem wichtigen Spiel von Beginn an starten, was ein riesiger Vertrauensbeweis Neidharts an den hochtalentierten Nachwuchskicker bedeutete. Dieses Vertrauen erfüllte Futkeu mehr als anständig, so viel sei bereits verraten. Auch in der Mittelfeldzentrale setzte Neidhart auf noch mehr Erfahrung und ersetzte Amara Condé durch Dennis Grote.

Die erste Halbzeit war eine absolute Unverschämtheit!
(Uwe Neuhaus)


Uwe Neuhaus kam sichtbar angefressen zur Pressekonferenz nach dem Spiel, beschwerte sich erst einmal darüber, dass ihm nicht der Vortritt gelassen wurde und danach, dass er dieses Spiel noch einmal aus seiner Sicht schildern müsse. Die erste Halbzeit sei eine Unverschämtheit gewesen ließ der ehemalige Essener Trainer wissen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Rot-Weissen mit einer unglaublichen Leidenschaft und Aggressivität begannen, was die Arminia sichtlich überraschte. Gerade in der Anfangsphase ergaben sich mehrere gute Einschussmöglichkeiten. Dennis Grote war mit gutem Instinkt zur Stelle, als die Abwehr eine Kerze schlug und der Ball ca. 20 Meter gerade vor ihrem Tor herunterfiel. Er zog Volley ab und Stefan Ortega musste sich sehr lang machen, um den Ball noch aus der rechten Ecke zu fischen.

RWE hielt den Druck hoch und kam zu einer guten Gelegenheit nach einem Eckball. Kevin Grund zeigte schon in den vergangenen Spielen immer wieder sehr gefährliche Ecken, mit denen er die Mitspieler bediente. Dieses Mal flankte er perfekt auf den Kopf des völlig freistehenden Marco Kehl-Gomez. Dieser war wohl selbst überrascht, wie allein er gelassen wurde und spielte den Ball weit über das Tor.

Bevor es allerdings erstmals klingelte hielten die RWE-Fans den Atem an. Im Kampf um den Ball trat Sandro Plechaty wenig umsichtig in die Luft und wunderte sich dann, dass dort jemand stand. Fabian Klos bekam den ordentlichen Tritt genau an die Stelle, an der Männer sehr ungern getroffen werden. In der Zeitlupe sieht man zwar, dass Plechaty dies nicht absichtlich tat, ein Elfmeter wäre es auch mit extremer rot-weisser Brille gewesen. Glücklicherweise sah Harm Osmers dieses Vergehen nicht und ließ weiter spielen.

In der 33. Minute war es dann so weit. Alexander Hahn zeigte einen Moment, den die älteren Fußballfans eher von Lothar Matthäus gewohnt sind. Er spielte den Ball aus der eigenen Hälfte bestimmt 70 Meter über den Platz und bediente perfekt den herbeigeeilten Sandro Plechaty auf der rechten Seite. Dieser nahm den Ball mühelos an, spurtete zur Grundlinie und gab den Ball nach innen in den Rücken der Abwehr. Dort stand dann Simon Engelmann bereit und verwandelte seinen sechsten Treffer im vierten Pflichtspiel. Ein absolutes Sahnetor. Alle drei Beteiligten zeigten dabei die enorme Qualität, die in dem Kader steckt. Die Übersicht von Ali Hahn, die tolle Arbeit auf der Außenbahn von Sandro Plechaty und der souveräne Abschluss Simon Engelmanns, alles zeugt von einer Qualität, die deutlich über dem Regionalligadurchschnitt liegt.

In so einem Spiel brauchst du das nötige Quäntchen Glück für den Sieg.
(Christian Neidhart)


Das 1:0 nahm RWE mit in die Halbzeit und am Ende muss man sagen, dass es hochverdient war. Wer Uwe Neuhaus nach dem Spiel erlebt hat, kann sich vorstellen, was dagegen in der Bielefelder Kabine los gewesen sein muss. Neuhaus wechselte doppelt zur Halbzeit und brachte Lucoqui und Cordova.

Die Ansprache schien gefruchtet zu haben, denn Bielefeld zog das Spiel mehr und mehr an sich und verstärkte den Druck auf die Hausherren. Schon in der 51. Minute wackelte der Pfosten. Ritsu Doan, der japanische Neuzugang in Bielefeld, spielte sich durch einen sehenswerten Doppelpass frei und zog aus kurzer Distanz aus der rechten Seite ab und traf nur den Außenpfosten. Hier zeigte sich schon, dass Bielefeld das Pokalaus nicht kampflos hinnehmen wollte. Allerdings führte diese Dominanz nicht wirklich zu vielen Torgelegenheiten.

Erst in der 68. Minute wurde es wieder gefährlich. Nach einem Foul von Marco Kehl-Gomez an Sergio Cordova trat Marcel Hartel aus guter Position zum Freistoß an. Er zirkelte den Ball kräftig über die Mauer und der Ball klatschte ans Aluminium und sprang zum Glück wieder weg vom Tor. Der Nachschuss ging weit über das Tor. In der Superzeitlupe sieht man, dass Engelmann beim Nachschuss den Ball leicht mit der Hand touchierte, als er seinen Arm wegzog. Hier sprechen wir wohl eher von einem Kann- als einem Muss-Elfmeter, allerdings hätten viele Schiedsrichter diesen wohl gegeben, wenn es einen Videobeweis gegeben hätte. Man kann verstehen, wenn die Arminia mit den Entscheidungen hadert – die Hafenstraße hätte wahrscheinlich Kopf gestanden – allerdings bleibt hier zu sagen, was umgekehrt auch bei vielen RWE-Spielen zu sagen ist, wenn es um solche Entscheidungen geht. Wenn ein Erstligist nicht in der Lage ist, aus dem Spiel heraus auch nur ein Tor gegen einen Viertligisten zu erzielen, sollte der Schiedsrichter wohl der letzte sein, der sich verantworten muss. Nichtsdestotrotz muss man festhalten, dass RWE das nötige Quäntchen Glück bei zwei Aluminiumtreffern und zwei potenziellen Elferentscheidungen hatte.

RWE zog sich immer weiter zurück und ließ weiter wenig zu. Besonders auffällig war bei Bielefeld der Ex-Essener Cebio Soukou, der immer wieder für Wirbel sorgte, den Ball jedoch glücklicherweise nie genau genug traf, um auszugleichen. Wenige Tage vor Spielbeginn verkündete der Verein, dass 100 Glückliche das Pokalspiel vor Ort verfolgen durften. Jeder Schwenk mit der Kamera ins Publikum zeigte bekannte Gesichter, sodass hier offenbar in der Mehrzahl treue Anhänger von RWE dabei waren. Und es entstand eine Atmosphäre, die auch im Fernsehen spürbar war. Denn es wurde, je weiter die Zeit fortschritt, lauter und lauter. Die Fans sangen gegen den Bielefelder Druck an und am Ende entlud sich die Freude im Stadion und in vielen Wohnzimmern dieser Stadt.

RWE hat sich diesen Sieg verdient.
(Otto Rehhagel)


Am Ende muss man sagen: natürlich war der Sieg nach 90 Minuten auch glücklich, aber am Ende setzte sich Essen durchaus nicht unverdient durch. Der Kommentator des Einzelspiels argumentierte, dass es keine Sensation wäre, da Essen ebenfalls Profis beschäftigen würde. Falscher kann man wohl nicht liegen. Sicher spielt in Essen Qualität, aber Arminia Bielefeld ist souverän in die drittbeste Liga der Welt aufgestiegen und es liegen Lichtjahre zwischen den finanziellen, aber auch sportlichen Voraussetzungen der beiden Clubs. Dass RWE diesen Sieg geschafft hat, ist ein Meilenstein der Vereinshistorie. Waldemar Wrobel, der es wie kein anderer schafft, die Dinge auf den Punkt zu bringen, sagte im Vorfeld eines Pokalspiels, bei dem er noch Trainer von RWE war: „In neun von zehn Fällen wird der Bundesligist gegen uns gewinnen. Wenn der Bundesligist aber nicht den vollen Einsatz bringt und uns unterschätzt, dann werden wir da sein.“ Bielefeld hat sicher nicht alles abgerufen, was sie in der vergangenen Saison auszeichnete und RWE war sofort zur Stelle und hat Bielefeld einen Kampf geliefert, gegen den es am Ende den Kürzeren zog.

Nun heißt es warten auf das Los in der nächsten Runde und darauf werden wir noch lange warten dürfen. Aufgrund des engen Terminkalenders werden noch zwei Spiele ausgetragen und die Auslosung erfolgt erst am 18. Oktober. Die 2. Runde ist dann kurz vor Weihnachten.

Es war nahezu alles perfekt, aber viele Fans wären gerne dabei gewesen, um diesen Sieg zu feiern. Ehrlicherweise gab es in den letzten Jahren nicht viel zu feiern. Dass dies im Dezember nachgeholt werden kann, darauf hoffen alle. Der Geldsegen entspannt die Mienen an der Hafenstraße und mit der Entscheidung, dass auch in der Liga wieder die ersten Zuschauer kommen dürfen, kehrt ein wenig mehr Normalität in den Fußball-Alltag ein. Die Zuschauer kommen dann wieder im Liga-Alltag an, an dem RWE am kommenden Sonntag im Stadion Rote Erde auftritt. Hier ist der Anspruch, die Kluft zur Tabellenspitze nicht noch größer werden zu lassen. Mit dem Selbstvertrauen aus dem vergangenen Pokalspieltag sollte doch etwas zu holen sein. Bis dahin freuen wir uns alle über diesen wunderbaren Erfolg.