26.08.2020

Stauder-Sekt oder Selters!

von Redaktion

Trotz Corona und in letzter Konsequenz wieder einmal verpassten Aufstieg in der Vorsaison ist der Essener Anhang heiß wie Frittenfett auf die Regionalliga-Saison 2020/21 und das, obwohl er diese wohl auf unbestimmte Zeit nicht mal im Stadion erleben dürfen wird. Rot-Weiss will die Liga-Krone und am Ende der Saison eine dann eine Dekade andauernde sportliche Existenz in der Viertklassigkeit endlich beenden.

Am letzten Samstag gab es bereits den ersten Titel der Saison, der genau genommen dem letzten Spieljahr entspringt. Der Niederrheinpokal 2020 konnte wegen Corona erst nach der Sommerpause final ausgespielt werden und zum Glück holten sich die Roten den Pott gegen den Oberligisten 1. FC Kleve. Nach dreijähriger Abstinenz in der Hauptrunde des DFB-Pokals ist RWE nun also wieder dabei. Das erste Ziel wurde somit bereits vor Ligastart erreicht. Jawattdenn.de wagt eine Vorab-Analyse einer Saison, in der zahlreiche Siegesbiere beim Anhang schäumen sollen. JWD prüft die Plus- und Knackpunkte der Essener, wirft einen Blick auf die Kaderveränderungen und schaut auch in die Glaskugel, was die Konkurrenz betrifft. Die gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen von Corona sind leider auch noch immer nicht zu vernachlässigen.

Was sind die Pluspunkte für Rot-Weiss Essen?

• RWE verfügt über einen nun eingespielten Kader und konnte beim Trainingsstart Anfang Juli diesen bereits nahezu komplett begrüßen. Alle Stammspieler und insgesamt 19 Akteure der letzten Saison stehen noch im Essener Kader. Coach Christian Neidhardt stand fast luxuriös viel Zeit zur Verfügung sein Team kennen zu lernen und darüber hinaus bereits in den Feinschliff der gewünschten Abläufe zu gehen. Nur punktuell mussten die Essener sich zum Thema Personal noch Gedanken machen. Viele von Neidharts Trainerkollegen in der Regionalliga West waren zur selben Zeit gemeinsam mit ihren sportlichen Leitungen damit beschäftigt, überhaupt einen schlagkräftigen Kader aufzubauen. Insbesondere die zuletzt härteste und noch in der Liga verbliebene Konkurrenz im Kampf um die Ligaspitze hat da ganz andere, nämlich schlechtere Voraussetzungen. Einen Blick auf die potenzielle Konkurrenz werfen wir später.

• RWE konnte seinen ohnehin guten Kader nicht nur halten, sondern auch qualitativ hochwertig verstärken. Wir widmen uns den Neuzugängen in einem eigenen Kapitel.

• Das dritte Kaderplus ist die quantitative und qualitative Ausgeglichenheit. Es steht eine Mammutsaison mit 40 Pflichtspielen in der Meisterschaft und einer nicht bezifferbaren Anzahl an Partien in Pokalwettbewerben, oftmals mit englischen Wochen, bevor. RWE wird deswegen jedoch nicht auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch gehen müssen.

• Mit Christian Neidhart kommt ein extrem motivierter Trainer nach Essen. Ansonsten hätte dieser seinen noch ein Jahr gültigen Vertrag beim klassenhöheren SV Meppen mit Sicherheit nicht für das Engagement an der Hafenstraße aufgelöst. Sieben Jahre lang arbeitete der gebürtige Braunschweiger erfolgreich bei den Meppenern. Er führte die Emsländer von der Regional- in die Dritte Liga und formte auch dort ein Team, das zuletzt sogar an die Tür zur Zweiten Bundesliga anklopfen durfte. Doch nicht nur die sportlichen Erfolge, sondern auch die menschlichen Qualitäten des 51-Jährigen begeisterten die Essener Verantwortlichen. In Meppen war man von beiden Aspekten voll überzeugt. Die Art und Weise, wie Verein inklusive Fans, ihren langjährigen sportlichen Chefangestellten verabschiedeten, war beeindruckend. Und zwar beeindruckend positiv. Hier wurde jemand ganz offensichtlich sehr geschätzt.

• Corona hat auch Rot-Weiss Essen wirtschaftlich stark zugesetzt. Aber paradoxerweise schmälert das (noch) nicht Essens Chancen auf eine starke und erfolgreiche Saison. Die große Frage ist, ob sich einer der potenziellen Konkurrenten unter diesen Bedingungen wirtschaftlich weit aus dem Fenster lehnen wird. Derzeit sieht es nicht so aus. Mit dem Erreichen der ersten DFB-Pokalhauptrunde, in welcher RWE auf Arminia Bielefeld trifft, hat Rot-Weiss zudem auch ohne Stadionzuschauer wichtige Zusatzeinnahmen sicher.


Was sind die Essener Knackpunkte?

• Die Drucksituation ist riesig. RWE formuliert es klar und deutlich, so deutlich wie nie zuvor in den letzten Jahren. Man will Meister werden. Die Erwartungshaltung an der Hafenstraße ist grundsätzlich immens, in dieser Saison sicherlich auch berechtigt. Der Druck, der auf dem gesamten Team lasten wird, ist daher noch größer als sonst. Verzieh der RWE-Anhang in der letzten Saison noch diverse Patzer, weil man nach einer gefühlten Ewigkeit endlich mal wieder oben dran war, so wird das Umfeld nun von Beginn an explosiv sein. Es gilt schlichtweg, mittels Erfolgen diese Explosivität und Power in die richtige Richtung zu lenken.

• Die Causa Christian Titz ist nicht vergessen. Nicht nur, weil Titz und RWE aktuell wieder öffentliche Meinungsverschiedenheiten zur Rechtslage bei der Entlassung des Coaches haben. Jörn Nowak ist im Grunde auf Gedeihen und Verderben an Neucoach Neidhart gebunden. Dieser ist der Wunschtrainer des Sportlichen Leiters der Essener, einen letztlichen Fehlgriff wie bei Christian Titz darf man sich nicht erneut leisten.

• Antworten muss Neidhart auf folgende elementare Fragen finden, die RWE in der letzten Saison ein Bein stellten. Wie kann effizienter Ballbesitzfußball gegen tief stehende Truppen betrieben werden, d.h. wie kriegt Rot-Weiss die Kugel in die gegnerischen Netze, wenn diese zum Hochsicherheitstrakt ausgerufen worden sind? Zugleich stellt sich das Problem, wie bei offensiver Risikobereitschaft das eigene Tor geschützt werden kann. In der Vorsaison machten nicht wenige Gegner aus wenig Chancen viel an (RWE-Gegen-) Toren, während Rot-Weiss mit ausgelassenen Großchancen wucherte. Als Problemlöser wurde Simon Engelmann verpflichtet, auch Maximilian Pronichev verfügt über einen nennenswerten Torinstinkt. Sind die RWE-Spitzen ausgeschaltet, auch das soll bei sehr gut organisierten Gegnern vorkommen, muss allerdings ein Plan B vorhanden sein.

• Was positiv ist, hat auch eine Kehrseite. In Essen werden aufgrund der Kaderbreite regelmäßig Spieler von ausgewiesener Qualität nicht von Beginn an auf dem Rasen stehen können oder im Extremfall sogar nur die Tribüne bevölkern. Hier wird Neidhart als Psychologe gefordert sein, um Unruhe im Keim ersticken zu können.

• Die Partien gegen Rot-Weiss Essen sind für jeden Konkurrenten in der Liga etwas Besonderes. Man sieht bereits jetzt vor jeder Partie die jeweiligen Schlagzeilen vor dem geistigen Auge, wenn gegnerische Trainer und sportliche Leitungen das Match gegen den wohl größten Favoriten zum Spiel des Jahres ausrufen werden. Jörn Nowak fragte bereits in der letzten Saison im Jawattdenn.de-Interview, mit welcher Einstellung denn diese Mannschaften dann gegen andere Gegner zu Werke gehen und resümierte, dass so manche Aussage fast an Wettbewerbsverzerrung grenze. Ein Aspekt, den RWE nicht beeinflussen kann. Das Bewusstsein, dass im Grunde jede Truppe gegen die Elf von der Hafenstraße gefühlt gut 10 – 20 % mehr reinhaut, muss jedoch vorhanden sein.


Die Ab- und Neuzugänge

Wie vor jeder Saison dreht sich das Personalkarussel. RWE hat jedoch vor der kommenden Spielzeit keinen Umbruch vollzogen, sondern seinen Kader vergleichsweise wenig verändert. Dabei kann man sagen, dass die Neuzugänge hochkarätiger sind als Essens abgewanderte Spieler.

Sieben Spieler verlassen die Hafenstraße 97 A. Der dienstälteste Akteur ist dabei Philipp Zeiger. Der lange Innenverteidiger trug 6 Jahre lang das RWE-Trikot. In der letzten Saison hatte er lange Zeit mit einer Stoffwechselkrankheit zu kämpfen, um kurz vor dem Saisonabbruch noch zu einigen Pflichtspielminuten zu kommen. Zeigers Abgang war daher zu erwarten. Den sympathischen gebürtigen Dresdner wird der Essener Anhang in guter Erinnerung behalten. Zeiger hat inzwischen in Altglienicke bei einer Spitzenmannschaft des Nordostens angeheuert. Auch immerhin 5 Jahre war Torhüter Robin Heller bei den Roten. In dieser Zeit rotierte er zwischen Spielfeld, Bank und Tribüne. Insbesondere für letzteren Platz sind günstigere Alternativen zu haben. Mit Marcel Lenz verlässt ein weiterer Schlussmann die Hafenstraße und wechselt zum ETB. In seinen immerhin drei RWE-Jahren hatte er viel Verletzungspech und war zudem in seinen Leistungen schwankend. Daher verlor er in der Vorsaison die Position der Nummer 1 auch an Jakob Golz.

RWE trennte sich nicht nur von zwei Torhütern, sondern auch von zwei Mittelstürmern. Den nun zum SV Rödinghausen abgewanderten Enzo Wirtz begleiten viele Sympathien des Anhangs. Da der insbesondere in der Jokerrolle überzeugende Wirtz aber in seinen zwei Spielzeiten in Essen selten volle Wertschätzung der jeweiligen Trainer genoss, ist es verständlich, dass er seine Zukunft anderswo sieht. Auch Hedon Selishta muss die Hafenstraße nach nur einem Jahr verlassen. Dennoch schoss der aus der Oberliga Bayern gekommene Torjäger vier wichtige Treffer für RWE. Vereinsintern wurde aber Vereinsikone Marcel Platzek als klassischer Mittelstürmer für eine weitere Saison auserkoren. Als der Wuppertaler SV im Frühjahr 2019 seinen halben Kader freistellen musste, weil die Bergischen sich finanziell völlig übernommen hatten, schnappte sich RWE den rechten Flügelflitzer Jonas Erwig-Drüppel. Der sollte bei den einzig wahren Roten den nach Paderborn abgewanderten Kai Pröger ersetzen, dessen Schuhe Erwig-Drüppel dann doch nicht ganz passten. Hinzu gesellte sich Verletzungspech. JED kam in Essen nie wirklich an und läuft demnächst wieder für den WSV auf.

Der Letzte im Bunde der Essener Abgänge ist Innenverteidiger José Matuwila, den RWE sich in der Winterpause aus Kaiserslautern geliehen hatte. Ganze zweimal trug Matuwila das RWE-Trikot. Einem bärenstarken Auftritt im Derby gegen RWO folgte ein mäßiger gegen den SV Lippstadt, dann fand Matuwila sich auf der Bank wieder und kurz darauf kam Corona. Eine Art Zwischenrolle zwischen Zu- und Abgängen nimmt der ehemalige U19- Spieler Ioannis Orkas ein. Der Mittelfeldakteur erhielt zunächst einen Lizenzspielervertrag, den er dann auf eigenen Wunsch wieder auflöste. Das ist nachvollziehbar, denn nirgendwo ist der Konkurrenzkampf in Essens starkem Kader so groß wie in der Mittelfeldzentrale.

Fazit, kein einziger Akteur, der RWE den Rücken gekehrt hat, war Stammspieler und ein jeder hätte es wohl auch dieses Jahr sehr schwer gehabt, zu mehr Einsatzminuten zu kommen.
Auf dem Transfermarkt schlug RWE sechsmal zu. Der alles überstrahlende Coup stellt dabei die Verpflichtung des Strafraumserientäters Simon Engelmann dar. Mit Engelmann sicherten sich die Roten den wohl komplettesten Stürmer der Regionalliga West, der sich zudem trotz seiner bereits 31 Jahre körperlich und mental in Topverfassung befindet.

Von daher ist es schwer vorstellbar, dass der Neuzugang Probleme haben wird, das beschauliche Umfeld des Wiehengebirges mit der vorerst ohnehin nicht brodelnden Hafenstraße 97 A zu tauschen. Engelmann kann offensiv nahezu alles. Tolle Technik paart sich mit gnadenlosem Torinstinkt. Nach 19 Toren in der Saison 2018/19 traf „Engel“ im letzten Jahr in 26 Auftritten für seinen ehemaligen Arbeitgeber Rödinghausen auch 26 Mal ins Schwarze. Das bedeutete zweimal in Folge die Torjägerkrone. Zudem ist er nicht auf die Position in der Sturmmitte fixiert. Seine technische Versiertheit ermöglicht es dem Goalgetter ebenfalls problemlos, sich in die Tiefe fallen zu lassen und Torchancen für seine Mitspieler zu kreieren.

Man liest es unschwer heraus, ein solcher Transfer macht Freude. Holte RWE in den vergangenen Jahren auch schon einstmals treffsichere Stürmer wie Christian Knappmann, der – sorry Knappi – eher ein im 16er beheimateter Bulldozer war, an dem RWE relativ schnell die Freude verlor, oder auch einen David Jansen, der in Endlosschleife verletzt gewesen ist, so darf Engelmann wohl ohne Sorge als Toptransfer gesehen werden. Ebenso wie Bielefelds Fabian Klos, der sich mit 32 Jahren noch zum Zweitligatorschützenkönig krönte, wird Essens neue Nummer 11 im fortgeschrittenen Fußballeralter eher noch besser. Das bewies er sogleich auch im RWE-Trikot. Engelmann hat nach zwei Partien im Niederrheinpokal bereits 4 Pflichtspieltreffer auf dem Konto, im Finale gegen Kleve schnürte Engel mal eben einen Dreierpack. Der Mann ist ein Phänomen.

Ein weiterer ausgesprochen gestandener Spieler ist der zentrale Mittelfeldakteur Felix Backszat, der genau wie Engelmann in der letzten Saison Meister mit dem SV Rödinghausen geworden ist. Dieses Kunststück gelang Backszat auch die beiden Jahre zuvor mit Viktoria Köln. Der Hattrick bei Regionalliga West-Meisterschaften spricht für den 1,85 Meter großen Akteur, der „Backa“ gerufen wird. Er ist auf der 6 aber auch offensiver auf der 8 einsetzbar, in der letzten Saison gelangen ihm zudem 6 Treffer. Das zentrale Mittelfeld ist bei RWE somit um einen weiteren Spieler von ausgewiesener Qualität reicher geworden.

Von zwei Schlussleuten hat RWE sich getrennt, ein neuer mit guter sportlicher Vita wird den Kampf mit dem verbliebenen Jakob Golz um den Stammplatz zwischen Essens Pfosten aufnehmen. Von Nachbar Rot-Weiss Oberhausen kommt Daniel Davari. RWO war aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, den eigentlich noch ein Jahr laufenden Vertrag mit dem gestandenen und profierfahrenen Schlussmann aufzukündigen. Da musste der zuvor in Oberhausen beschäftigte Jörn Nowak nicht lange überlegen und holte Davari zu RWE wie er ihn zuvor zu RWO geholt hatte. Hatte Rot-Weiss vor der letzten Saison keine klare Nummer 1, so ist der ehemalige iranische Nationaltorhüter im Grunde ganz eindeutig eine solche. Mit Jakob Golz (21), der sich im Laufe der Vorsaison einen Stammplatz erkämpfte und sich zudem enorm entwickelte, trifft Davari dennoch auf einen starken Youngster als Herausforderer.

Für die rechte Außenbahn hat RWE doppelt zugeschlagen. Von Drittligaabsteiger Großaspach kommt Rechtsverteidiger Jonas Behounek, für dieselbe Position Sandro Plechaty von der Gelsenkirchener Reserve. Da sich David Sauerland, der diese Position nach Daniel Hebers Umbesetzung ins Abwehrzentrum federführend bekleidete, leider beim Testspielauftakt einen Kreuzbandriss zugezogen hat, taten die Verpflichtungen hier Not. Jonas Behounek befand sich schon in früheren Zeiten im Visier des sportlichen Leiters Jörn Nowak. Plechaty überzeugt mit starker Technik und Offensivdrang und könnte somit das Pendant von Kevin Grund auf der gegenüberliegenden Außenbahn und Zulieferer der Flügelstürmer werden. Insbesondere Plechaty kann auch selbst in einer offensiveren Rolle agieren.

Im Finale des Niederrheinpokals bot RWE mit Davari, Behounek, Plechaty, Backszat und Engelmann alle diese Neuzugänge auf. Ein Beleg dafür, dass Essens Kader nicht nur ergänzt, sondern verstärkt werden sollte.
Der letzte reine Neuzugang ist Felix Schlüsselburg aus der U19 des BVB. Da auch er im Mittelfeld Zuhause ist, wird er in seinem ersten Seniorenjahr eher als Perspektivspieler zu sehen sein.
Zwei Neue sind alte Bekannte. Felix Herzenbruch kommt nach knapp einjähriger Leihe aus Oberhausen zurück. Beim Nachbarn war er Stammspieler. Da in der letzten Saison eine echte Alternative zu Kevin Grund als Linksverteidiger gefehlt hat, wird „Herze“ diese Lücke schließen können.

Erstmals von Saison-Beginn an bei den Senioren ist Noel Futkeu. Der immer noch erst siebzehnjährige und damit für Essens U19 spielberechtigte Futkeu zählte bereits ab der Rückrunde der Vorsaison zum RWE-Kader und trug sich beim bislang letzten Meisterschaftsspiel der Essener beim Sieg in Bonn in die Torschützenliste ein. Futkeu ist unbekümmert, pfeilschnell und fühlt sich auf der rechten Offensivbahn am wohlsten. Dem Youngster ist trotz der starken Konkurrenz im Kader etwas zuzutrauen. Im Hauptberuf ist Futkeu aber noch Schüler und arbeitet an seinem Abitur an einer Essener Gesamtschule.


Die ersten Eindrücke in Testspielen und dem Niederrhein-Pokal

In den Testspielen zeigte RWE oft Lockerheit und spielerisch überzeugende Kost. Nach dem Warm-Up gegen Bezirksligist VFB Bottrop (11:0) wurde das Lokalderby gegen den ETB mit 2:0 für sich entschieden. Weil die Roten hier aber nicht so über die Schwarzen hergefallen waren, wie es sich einige Anhänger auch in der frühen Phase der Vorbereitung gewünscht hätten, gab es sofort Kritik. Teilweise ballerte RWE sich aber auch in Ekstase, wie beim 21:0 gegen Jahn Hiesfeld oder etwas bescheidener beim 7:1 gegen Eintracht Rheine. Gegen den Südwestregionalligisten TSV Steinbach, in seiner Liga ebenfalls ambitioniert, siegte Rot-Weiss mit 2:1. Insgesamt ließen die Roten in den bisherigen Testspielen somit nur zwei Gegentreffer zu. Ein Indiz dafür, dass Christian Neidhart ein sorgsames Auge auf die Defensive hat.

Corona macht in dieser Spielzeit auch etwas Positives möglich, nämlich vor dem Ligastart noch die Form in Pflichtspielen testen zu können. Die noch ausstehenden Partien im Niederrheinpokal bescherten RWE zwei „Tests“ unter Wettkampfbedingungen. Bei der TVD Velbert aus der Oberliga Niederrhein feierten die Essener im Halbfinale des NR-Pokals einen 2:0 Erfolg auf Kunstrasen und qualifizierten sich für das Finale. Das Match jedoch machte deutlich, was Essen auch in der Meisterschaft erwarten könnte. Dicht gestaffelt und aggressiv im Zweikampf nahmen die Hausherren RWE in der ersten Hälfte die Lust am Spiel, direkt nach dem Seitenwechsel traf Joshua Endres und beruhigte die rot-weissen Gemüter.

RWE spielte fortan den sprichwörtlichen Stiefel herunter, bis Simon Engelmann kurz vor Schluss das machte, wofür RWE ihn geholt hat, nämlich zu knipsen. RWE bestand somit einen wichtigen Charaktertest und holte sich einen Pflichtsieg gegen die hoch motivierten Gastgeber, die nichts zu verlieren hatten. Bis auf das Spiel. Jedoch war zu bemerken, dass Pflichtspiele und sonstige Vorbereitungsspiele unterschiedliche Kategorien sind. Das Finale um den Niederrheinpokal, das RWE verdient mit 3:1 für sich entscheiden konnte, lieferte hierzu ebenfalls Erkenntnisse. Auf dem Premiumgeläuf an der heimischen Hafenstraße spielte Essen den tapferen Oberligisten zunächst förmlich an die Wand, ließ jedoch ein halbes Dutzend bester Chancen liegen.

Dann zeigten die Hausherren ihre spielerische Klasse, direkt beteiligt in der letzten Zone ausschließlich Neuzugänge. Zunächst spielte Jonas Behounek die Kugel ins Zentrum auf Backszat, der direkt in den Lauf von Sandro Plechaty weiterleitete. Dessen kluger Rückpass war ein gefundenes Fressen für den Torhunger Simon Engelmanns, der exakt richtig einlief und zur Führung vollendete. Trotz drückender Überlegenheit ging RWE nur mit einer 1:0 Führung in die Halbzeit. Dann passierte das, was im Fußball immer sein kann. Eine einzige gute gegnerische Aktion führte zum Ausgleich. Nach einem guten Pass in die Tiefe setzte Kevin Grund zur Grätsche gegen seinen Gegenspieler an, traf wohl den Ball, doch der Referee erkannte ein elfmeterwürdiges Vergehen. Der Strafstoß saß.

Dass es am Ende des Tages nicht dazu kam, dass die mangelnde Effizienz des Essener Angriffsspiels zum Leidthema Nummer 1 auserkoren werden musste, war dann Simon Engelmann zu verdanken. Essens Nummer 11 löste sich mit der Kugel von seinem Gegenspieler und hielt aus gut 25 Metern einfach mal drauf. Das Geschoss wurde abgefälscht und fand als Bogenlampe den Weg ins Klever Tor. Etwas Glück und ganz viel individuelle Klasse. Eben die individuelle Klasse, welche RWE im letzten Jahr gefehlt hatte. Als der Schiedsrichter mittels einer Konzessionsentscheidung auch den Essenern einen schmeichelhaften Elfmeter gönnte, war Engel erneut zur Stelle und verwandelte gekonnt. Der RWE-Anhang schnalzte mit der Zunge und war besorgt zugleich. Toll, einen solchen Goalgetter wie Engelmann zu haben. Doch dessen offensive Nebenleute ließen fast fahrlässig weitere Großchancen liegen. Hier liegt weiterhin großer Verbesserungsbedarf.

Noch drei Dinge wurden gegen Kleve offenbart. Chef im Mittelfeldring war bis zu seiner Auswechslung nach gut einer Stunde – hier ist aufgrund der relativ späten Verpflichtung noch von Trainingsrückstand auszugehen - Felix Backszat mit enormer Präsenz und Zweikampfstärke. Und RWE scheint vom Dogma der Vorsaison, unbedingt jeden Ball flach hinten herauszuspielen, kontextbezogen abzuweichen. Keeper Davari schlug auch schon mal einen langen Ball hinten heraus. Die können dann von Spielern wie Backszat und Engelmann verwertet und in des Gegners Hälfte gewonnen werden. Coach Neidhart war zudem mehrfach mit Anweisungen zu vernehmen, dass der Ball nach Möglichkeit schneller nach vorne und nicht hinten herumgespielt werden solle. Das tat RWE in Hälfte eins vorzüglich und Kleve rannte fast nur hinterher. Später im Match kam es jedoch auch wieder vermehrt zu Ballverwaltungspassagen, die vom Gegner leichter zu verteidigen waren. Rot-Weiss wird hier die richtige Balance finden müssen.

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Sven Meyering