30.01.2017

Wo bleibt das Positive? - Eine Hinrundenanalyse

von Hendrik Stürznickel

Im Jahr 1930 veröffentlichte Erich Kästner das Gedicht „Wo bleibt das Positive“, in dem er mit denjenigen Menschen abrechnete, die die düstere Stimmung seiner Weltsicht nicht teilen wollten. Der Vergleich mit der Situation von Rot-Weiss Essen ist insofern ungebührlich, da es sich nur um Fußball handelt, dennoch stellt man sich bei der vorherrschenden Stimmung an der Hafenstraße durchaus die Frage, woher die hohe Unzufriedenheit herrührt, die man allenthalben feststellen kann. Dies soll der Versuch einer Einordnung sein.

Hinrunde 2016

1) Die Fakten

In einem Zeitalter, das als postfaktisch beschrieben wird, scheinen Fakten keine Rolle mehr zu spielen, für das Gefühl der Zuschauer spielen Fakten selbstverständlich eine untergeordnete Rolle, sie sind für eine vollständige Einordnung trotzdem wichtig. RWE spielt eine der besseren Spielzeiten seit dem Aufstieg aus der Oberliga. Das beste Abschneiden, das wird möglicherweise verwundern, erreichte Rot-Weiss in der Saison 2012/2013, als das Team um Waldemar Wrobel schon 39 Punkte nach 20 Spielen sammeln konnte. Von diesem Ergebnis ist die Mannschaft satte sechs Punkte entfernt, es ist in sechs Jahren aber das drittbeste Ergebnis.

Es hapert in dieser Saison besonders in der Offensive, denn mit 30 Toren hat RWE eine der schlechteren Ausbeuten einer Saison geholt. Interessant wird die Betrachtung eines anderen Mannschaftsteils. Sven Demandt kann sich freuen, dass die Abwehr das beste Ergebnis seit dem Wiederaufstieg geholt hat. Nur 21 Gegentore zeigen, dass die Essener Abwehr das Prunkstück dieses Kaders darstellt.

Man konnte von einem goldenen Essener Herbst sprechen, denn zwischen dem 1. Oktober und dem 11. Dezember stellte RWE eine Serie von zehn Spielen ohne Niederlage auf, die erst am letzten Spieltag 2016 von der Reserve von Fortuna Düsseldorf unterbrochen wurde. Dies zementierte den vierten Tabellenplatz, der endlich einmal das darstellt, was von der Ausgabenseite her der Mindestanspruch Rot-Weiss Essens sein muss.

Das sind eigentlich ordentliche Zahlen. Woher kommt also die viel bemerkte Unzufriedenheit?

2) Die Erwartungen

Nach dem Abstiegskampf der vergangenen Saison schaffte es RWE erneut eine kleine Euphorie zu erzeugen. Hoch-3 hieß die Initiative, die dafür sorgte, dass Fans und Sponsoren etwas tiefer in die Taschen griffen, um den großen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, den Aufstieg in die 3. Liga. Fast jede zweite der vielfach verkauften Dauerkarten waren Hoch-3 gepimpt, was dem Verein eine größere Planungssicherheit garantiert.

Der Verein sprach glücklicherweise nicht vom sofortigen Aufstieg, doch träumten viele davon, dass RWE zumindest ganz oben angreifen würde. Als problematisch erwies sich hier leider der Rückzug des hiesigen Energieversorgers, der die Mehreinnahmen des Gesamtvereins belastete. Dennoch präsentierte RWE eine ambitionierte Mannschaft.

Wer sich nun einen spektakulären Fußball der Saisons 2003/04 oder eine Verbindung von Mannschaft und Zuschauern wie beim Oberligaaufstieg erhoffte, der sah sich schnell enttäuscht. Der Redakteur der WAZ, Ralf Wilhelm, warf dem Team sogar Beamtenfußball vor, was in vielen Spielen nicht von der Hand zu weisen ist. Besonders präsent bleiben den Zuschauern blutarme Vorstellungen wie in Aachen, denen stehen der Ehrlichkeit halber aber emotionale und qualitativ starke Spiele wie in Oberhausen gegenüber. Diese sind jedoch nicht konstant sichtbar, sodass es eine gewisse emotionale Distanz zu der Truppe gibt.

3) Die Transfers

Die Zahl der Treffer ist auf jeden Fall besser als in der vergangenen Saison. Mit Jan-Steffen Meier verpflichtete Rot-Weiss einen Spieler, den man am liebsten vier Mal im Kader hätte. Er zeigte von Beginn an starke Leistungen im Mittelfeld, da er nach einigen anderen Versuchen auch der mit Abstand beste Mitspieler von Philipp Zeiger in der Innenverteidigung ist, hängt er momentan auf dieser nicht ganz so geliebten Position fest.

Roussel Ngankam und Dennis Malura belebten das Essener Spiel und sind somit ordentliche Transfers. Durch hartnäckige Verletzungsprobleme konnte Kamil Bednarski leider noch nicht seine Wichtigkeit demonstrieren, doch deutete er bereits an, dass er viele Stärken mitbringt. Der Rückkehrer Leroy Kwadwo konnte sich hingegen nicht durchsetzen und wechselte im Winter zur Zweitvertretung nach Gelsenkirchen.

Der umstrittenste Transfer bleibt Timo Brauer, und hier sprechen wir wieder über Erwartungen. Der ehemalige Kapitän kehrte im Sommer zurück und viele sprachen vom Königstransfer. Die frenetische Begrüßung erreichte ihren Höhepunkt im ersten Spiel gegen Wiedenbrück. Nach seinem Distanztreffer gab es kein Halten mehr und Brauer badete in der Menge, die den verlorenen Sohn herzte. Leider konnte Timo Brauer diese gigantischen Erwartungen nicht erfüllen, musste sich sogar einen öffentlichen Rüffel seines Trainers abholen („War er eigentlich auf dem Platz?“) und fand sich einige Male auf der Bank wieder. In einem Reviersport-Interview gab sich Brauer aber angriffslustig und wir wollen hoffen, dass der sympathische Essener die Kurve bekommt.

4) Das Hauptproblem – Die Fakten

Wurden die Fakten gerade herangezogen, um zu zeigen, dass diese Saison eine bessere ist, so werden sie jetzt aufgegriffen, um das Problem an der Wurzel zu greifen. RWE ist oberflächlich gesehen im oberen Drittel der Tabelle, der Punktabstand zur Tabellenführung beträgt allerdings satte zwölf Punkte, weswegen viele verständlicherweise die Saison abschreiben. Das Dreiertrio an der Spitze punktet wie eine Maschine, die drittplatzierten Dortmunder haben keine (!) Niederlage in der ganzen Saison hinnehmen müssen. Es kann immer sein, dass ein Team einbricht, doch kann sich wohl niemand vorstellen, dass alle drei Teams im Kampf um die Tabellenspitze Federn lassen.

Darüber hinaus musste RWE gegen Viktoria Köln (0:4) und Mönchengladbach (0:2) Niederlagen hinnehmen. Lediglich gegen Borussia Dortmund konnte Essen mit einem Unentschieden (1:1) einen Achtungserfolg feiern. Der Haken an der Sache ist, dass alle Favoriten an die Hafenstraße kommen mussten. In der Rückrunde muss Essen Auswärts antreten. Die Rückrunde beginnt gleich mit den Spielen in Köln und Mönchengladbach. Dies lässt wenig Hoffnung zu. Umgekehrt kann RWE bei dem Punktabstand befreit aufspielen und sich dabei Selbstvertrauen holen, den Favoriten ein Bein zu stellen.

5) Unzufriedenheit – Das Fazit

Die Bestandsaufnahme fällt hier vielschichtig aus. Die Erwartungen an der Hafenstraße sind immer hoch, damit müssen Verantwortliche und Spieler umgehen können, da man dieses Element nicht abschalten kann. Und ehrlicherweise will man diese Erwartung auch nicht missen, denn im Erfolgsfall feiert man kaum irgendwo so ausgelassen wie in Bergeborbeck.

Die aussichtslose Tabellenlage in Kombination mit einem nicht unbedingt spektakulären Fußballs lassen die Emotionen selten überkochen und hier liegt wahrscheinlich das Bündel der Probleme. Die Verantwortlichen haben in der Winterpause reagiert und lösten die Verträge mit Spielern, die sich nicht durchsetzen konnten, und deswegen neue Herausforderungen suchten. In der Restsaison wird es darauf ankommen, dass Mannschaft und Zuschauer weiter zusammenwachsen und das geht nur über ordentliche Leistungen. Die Aufgabe ist in der Tat nicht einfach für Sven Demandt und Jürgen Lucas. Die nächste Saison ist bereits die Halbzeit der Hoch-3-Aktion. Diese Saison muss es darauf ankommen in allen Bereichen dafür zu sorgen, dass wir die Frage nach dem Positiven ganz einfach beantworten können.