Rot-Weiss Essen im Internet... so nah, und doch so fern!
Es war nicht immer leicht für die Essener Fans im Stadion in der letzten Zeit. Verkrampfte Vorstellungen der eigenen Mannschaft, enttäuschte Erwartungen und mangelnde Stimmung schmälerten das eigene Stadion-"erlebnis" doch deutlich. Noch schlimmer war die Zeit eigentlich nur für eine Gruppe: Für die, die gerne im Stadion sein wollten, aber nicht konnten.
Genau um diese Gruppe soll es jedoch heute gehen. Während sich der
Stadionzuschauer in den letzten Wochen und Monate beim Anblick des
Gebolzes unserer Rot-Weissen Sorgen um den Verlust seines Augenlichtes
machen musste ("da krieg' ich ja Augenkrebs!"), wäre es für die
Rot-Weiss Fans, die im Rest der Welt zerstreut leben, wohl schon eine
Wohltat gewesen, überhaupt mal wieder die Bier-, Bratwurstgeruch und
Zigarettenqualm duftende Luft im Georg-Mel... äh, Stadion Essen riechen
zu dürfen. Aus organisatorischen und finanziellen Gesichtspunkten ist
aber ein Stadionbesuch utopisch, und so bleibt nichts anderes übrig, als
die Möglichkeiten des Internets auszuschöpfen.
Dem Autor dieser Zeilen, den es derzeit einige tausend Kilometer östlich
von Essen ins Reich der Mitte verschlagen hat, so wie sicher einigen
anderen "Auslands"-Rot-Weissen, vermiest dabei insbesondere die
Zeitverschiebung den Genuss eines Spiels. So beliebt Flutlichtspiele an
der Hafenstraße für die Fans vor Ort auch sein mögen, so hart ist es
doch für die weiter östlich lebenden Fans. Bei derzeit sieben Stunden
Zeitverschiebung (während der Sommerzeit "nur" sechs Stunden) bedeutet
der Anpfiff um 19.30 Uhr Ortszeit, den Wecker auf gepflegte 02:20 Uhr zu
stellen. So bleibt wenigstens Zeit, um nach zwei Stunden Schlaf noch
einmal zu snoozen, bevor der Laptop hochgefahren wird und je nach Spiel
Liveticker + Fanradio oder seit dieser Saison sogar die Luxusvariante
Liveticker + RW-TV gestartet wird.
Während Deutschland aber zumindest in größeren Städten weitestgehend
über schnelles Internet verfügt, ist in China die Zuverlässigkeit noch
sehr schwankend. Während der Stream die ersten Minuten vor dem Spiel
unbeschadet läuft, verlässt er mich nach etwa 20 gespielten Sekunden
dann doch. Als ich die Stimme des Kommentators das nächste Mal vernehme,
wird im Stadion bereits "Adiole" gespielt. Entgegen meiner ersten
Vermutungen ist dies aber schon nicht mehr die Einlaufmusik, sondern RWE
ist tatsächlich gegen den großen Favoriten in Führung gegangen. Da der
Stream mal wieder stockt, bleibt genug Zeit, um im
Reviersport-Liveticker die Entstehung des Tores nachzulesen. Trotz der
Müdigkeit ist der Adrenalinspiegel jetzt im üblichen Rot-Weiss-Spiel
Bereich. Schade, dass es hier kein Stauder gibt...
Da die Qualität des Streams weiterhin an der mangelnden Schnelligkeit
des Internets scheitert, weiche ich mehr und mehr auf den Liveticker
aus. Nach zehn gespielten Minuten laut RS zeigt mein stockendes Bild bei
RW TV Spielminute Vier an, nach wenigen Sekunden flüssigem Bild
verharrt die Wiedergabe natürlich immer an den Stellen, an denen
tatsächlich sich ein vielversprechender Angriff entwickeln kann. Auch
panisches F5 klicken und das Schließen jeglicher anderer Programme
bringt keine Besserung. Kurz nach dem 2:0, welches ich bei RW TV schon
gar nicht mitbekomme, sind die Jungs vor Ort im Stadion so freundlich
und schicken mir Jubelbilder mit glücklichen Gesichtern und kaltem
deutschen Pils per WhatsApp. Na danke, da wäre ich auch gerne vor Ort!
Während der zweiten Halbzeit sitze ich verkrampft vor dem Laptop und
versuche das Spiel zu verfolgen, doch letztlich bekomme ich nicht viel
mehr mit, als das, was der RS Liveticker hergibt. Die wenigen Phasen, in
denen RW TV mal für mehr als zwei Sekunden flüssig läuft, geben wenig
Konstruktives her, doch die Angst vor der blauen Gefahr vom
Autobahnkreuz ist allgegenwärtig. Erst Recht, als nach 87. Minuten doch
der Anschlusstreffer fällt und vor dem geistigen Auge schon in alter
rot-weisser Tradition der Ausgleichstreffer fällt. Wer Schlussphasen im
Stadion Essen bei einer knappen Führung für nervenzerreißend hält, soll
sich während einer solchen bitte einmal vor einen Liveticker setzen! Für
alle, die auf diese Erfahrung verzichten wollen, sei gesagt: du gehst
durch die Hölle! Während man im Stadion wenigstens einschätzen kann, ob
derzeit unmittelbare Gefahr im eigenen Strafraum herrscht oder man an
des Gegners Eckfahne einen Einwurf herausholt, schweigt dich ein
Liveticker einfach an. Mitunter vergehen 300 Sekunden ohne neue Meldung,
und in jeder einzelnen rechnest du mit der Aktualisierung des Tickers
und der Anzeige des Ausgleichs. Das für wenige Sekunden bewegliche, aber
dennoch Minuten hinterherlaufende Bild bei RW TV macht die Sache nicht
besser.
Als endlich die kurze, aber umso erlösendere Meldung "Abpfiff"
erscheint, merke ich erst, wie das Herz rast. Die Plastikflasche, die
ich während der letzten Spielminuten mit der linken Hand zerdrückt habe,
lässt ihre Ursprungsform gar nicht mehr erkennen, aber sei's drum, so
etwas wie "Pfand" kennt man hier sowieso nicht. Nachdem ich für wenige
Minuten einfach nur dagesessen habe, um erst einmal wieder
runterzukommen, entscheide ich mich dann doch, wieder ins Bett zu gehen.
Es ist mittlerweile 4.29 Uhr Ortszeit, also bleiben wenigstens noch
einige Stunden Schlaf, bevor mich der Wecker erneut klingeln wird.
Beim Einschlafen kann ich den Triumph aber dann doch noch genießen. Den
so selbstsicheren und ungeliebten Favoriten aus dem Tecklenburger Land
geschlagen, offenbar eine auch spielerisch überzeugende Leistung
gezeigt, und wichtige drei Punkte eingefahren; für die Tabelle und für
das eigene Selbstbewusstsein. Auch wenn man "nur von Spiel zu Spiel"
denken soll, so darf es auf jeden Fall weitergehen. Die Hoffnung ist da,
dass sich an der Hafenstraße jetzt wieder entspanntere Zeiten und
konstante Leistungen einstellen. Nicht zuletzt hat man dank des Sieges
zum ersten Mal überhaupt in dieser Saison eine positive Bilanz (5 Siege,
6 Unentschieden und 4 Niederlagen) und mit den Spielen gegen die
Tabellennachbarn aus Mönchengladbach, Bochum und Siegen noch die
Möglichkeit, die Hinrunde zu einem halbwegs versöhnlichen Ende zu
bringen. Unter'm Strich sieht also doch nicht alles so schlecht aus. Und
ganz kurz vor dem Einschlafen kommt dann doch noch der Gedanke: gut,
dass das nächste Spiel wieder samstags um 14 Uhr ist...
Jawattdenn-Spielerbewertung
Schwabke [3+] |
Dombrowka [2-] |
Wagner [2] |
Rodenberg [2-] |
|
|
Heppke [2] |
Pires-Rodrigues [2] |
Fring [2] |
Grund [2] |
Koep [2] |
|
Platzek [1] |
Lemke [o.B.] |
Wingerter [o.B.] |
Knappmann [o.B.] |
Rot-Weiss Essen
Schwabke, Dombrowka, Rodenberg, Wagner, Hermes, Heppke, Pires-Rodrigues, Fring, Grund (83. Wingerter), Koep (77. Lemke), Platzek (89. Knappmann),
Sportfreunde Lotte
Fernandez, Grieneisen, Wendel, Herröder, Hansmann (83. Ernst) Groß, Bilgin, Loose (73. Gorschlüter), Chahed, Freiberger, Kotuljac (36. Ludwig)
Tore
1:0 Platzek (1.), 2:0 Pires-Rodrigues (25.), 2:1 Freiberger (87.)
Zuschauer
7.770
Schiedsrichter
Benjamin Bläser (Niederzier-Oberzier)
Gelbe Karten
Fring (40.), Grund (79.), Wingerter (85.) - Loose (32.)