Im Schatten der Tribüne - Verlustängste
Es sollte ein Pamphlet werden. Ein Abgesang an die Tabelle. Eine literarische Erregung darüber, dass sich aber auch gar nichts auf Hüls reimt. Aber es ging einfach nicht. Vielleicht lag es daran, dass sich dieses 0:5 einfach nicht charmant umschreiben ließ. Oder daran, dass die Stimmung grundsätzlich zu kippen drohte und fast drei Jahre harter Aufbauarbeit in den Foren der verbalen Abrissbirne Platz machen musste.
Es lag aber vor allem auch an der eigenen Enttäuschung. Die Tabelle lügt
zwar nie, aber sie lässt sich hochrechnen, mit Hoffnung belegen und am
Ende passt das dann. Und so habe ich ernsthaft daran geglaubt, dass am
Ende der Relegationsplatz belegt wird. Kann ich ja nun so sagen, hilft
hier doch kein Konjunktiv weiter. Die Leistungen boten zwischendurch
Anlass zu diesen Gedankenspielchen. Es hat nicht sollen sein; in
Wiedenbrück fand dann die Wiedergutmachung statt.
Plötzlich aber gehörten die Schlagzeilen nicht mehr der Mannschaft des
RWE, mussten die Offiziellen medial Platz machen. Beiseite treten für
Artikel, die für den Augenblick nur marginal mit der Zukunft des
Vereines in Verbindung zu bringen sind. Scheinbar aus dem Nichts lesen
wir von Entkernung, von letzten Begehungen, von historischen Funden und
wunderschönen Memorabilien.
Schlagartig, weil verdrängt, wird nun auch dem letzten Fan klar: Ach Du
Schreck, das GMS kommt weg. Die "Haupt" von innen nach aussen, die "Ost"
von rechts nach links. Dieser Tage nun ist das neue Stadion Essen
weiterhin wichtig und vor allen Dingen richtig: Aber, es gilt jetzt den
Gefühlen derer Respekt zu zollen, die Spieltag für Spieltag mit einem
wehmütigen Blick auf die alten Gemäuer zu ihren neuen Plätzen gegangen
sind. Die die Halbzeit mit Träne im Knopfloch Blickrichtung Haupttribüne
verbracht haben.
Vielleicht oder sicher wissend, dass das Georg Melches Stadion keine
Zukunft mehr hatte und folglich auch der geliebte Verein nicht. Aber
der Fußball-Fan als rationell denkende Spezies ? Mitnichten. Der Fan
fühlt, lebt und leidet mit seinem Verein, betrachtet das eigene Stadion
als sein Wohnzimmer. Und nun wird das alte Wohnzimmer endgültig dem
Erdboden gleich gemacht. Die Erinnerungen werden wieder lebendiger denn
jemals zuvor.
Schließlich war es ja auch nicht irgendein Wohnzimmer. Es war das Georg-Melches-Stadion an der Hafenstraße 97a in Essen. Der Mythos. Der
Schrecken. Aber auch viel Ärger. Viel Kummer und Leid. Viel Versagen.
Aber immer mit Herz und Schnauze. Manchmal auch mitten drauf. Kaum ein
zweiter Verein wird so mit seinen Fans und dem Stadion in Verbindung
gebracht wie der RWE. Manche Vereine kommen mit einem neuen Stadion nur
vom Regen in die Traufe. Oder vom Parkstadion in eine Turnhalle.
Kaum ein zweiter Verein hatte eine Tribüne wie der RWE. Es ist nicht
unbedingt die "Ost", die nun diese Verlustängste herbeiruft, denn war
sie doch eher ungeliebte Heimat und zumeist den Gästen vorbehalten. Die
"West" war legendär, die "Nord" bisweilen Anlass für Töpperwiensche
Höhepunkte verbaler Natur. Aber es ist auch diese unvergleichliche
Tribüne mit ihrem spannenden Innenleben. Die Tribüne ist Willi Lippens
in flagranti, ist eine Turnhalle. Eine Stadiongaststätte mit direktem
Zugang auf die Sitzplätze. Die Tribüne beherbergt eine Wohnung mit
kleinem Gärtchen davor, Toiletten mit Stolpergarantie. Hatte Stufen, die
irgendwie komisch gefühlt zu gehen waren.
Ach, schreiben wir es doch einfach: Die Tribüne wäre schützenswertes
Kulturgut. Aber leider rechnet es sich nicht. Macht die Statik nicht
mehr mit. Und nehmen rationell denkende Menschen den Taschenrechner und
die Entscheidung in die Hand. Kein Denkmal. Und so werden wir bald die
gewohnten Wege gehen, um unser neues Zuhause zu erreichen, welches uns
eine schöne Heimat werden wird, auch wenn uns sicher lange Zeit etwas
fehlen wird.
Aber schließlich beherbergt auch dieses Zuhause all das, was wir lieben
und was ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens war, ist oder werden
wird: Unseren Verein Rot-Weiss Essen von 1907. Und das Georg-Melches-Stadion, das lebt weiter in unseren Herzen, den Geschichten, in ganz
vielen Bildern und sicher auch noch in einigen Details, auf die wir uns
freuen dürfen. Das 0:5 in Hüls dagegen, das haben wir in einigen Monaten
vergessen. Dann darf auch wieder gerechnet werden. Jetzt dürfen wir
traurig sein.
Uwe Strootmann schreibt seit Jahren über unseren RWE in seinem Blog "Im Schatten der Tribüne" und seit Neuestem auch bei uns. Viel Spaß!