Halbzeitfazit
Mit gemischten Gefühlen gehen die Fans und
Verantwortlichen von Rot-Weiss Essen in die Winterpause.
Zwar haben Heiko Bonan und seine Mannen nach einem
katastrophalen Saisonstart das in Seenot geratene
Schiff wieder in ruhigere Gewässer manövrieren
können, doch richtig zufrieden stellen kann der
aktuelle Tabellenplatz, der am Saisonende gerade noch
die Qualifikation für die Dritte Liga bedeutete,
nur Wenige. Für die durchwachsenen Leistungen
gibt es allerdings auch gute Gründe und Erklärungen.
Im Folgenden werden wir versuchen, diese Gründe
zu erfassen und zu analysieren, um abschließend
eine Prognose für die Rückrunde zu wagen.
Die Fieberkurve:
Alles in Allem spiegelt die Winterpausenbilanz mit
acht Siegen, sechs Unentschieden und sechs Niederlagen
wohl genau das wieder, was RWE in der Hinrunde geboten
hat. So stehen zahlreiche ganz schwache Spiele, denen
es nicht nur an Toren, sondern auch an Torchancen
mangelte (Dortmund, Braunschweig, Emden, Ahlen, Verl,
Cottbus…) ebenso vielen überdurchschnittlichen
Leistungen (Wolfsburg, Wuppertal, Hamburg, Bremen,
Düsseldorf …) gegenüber. Fast wöchentlich
war von einem „richtungweisenden Spiel“
die Rede, doch bis heute ist nicht klar definiert,
ob man ernsthaft im Aufstiegskampf mitmischen kann
oder doch „nur“ im Mittelfeld um den Klassenerhalt
spielen wird. Immer dann, wenn durch einen Sieg der
Sprung in die Spitzengruppe gelingen und ein kleines
Punktepolster auf Platz 11 herausgeschossen werden
konnte, gab es Rückfälle in längst
vergessene tor(chancen)arme Zeiten. Kellermannschaften
wie Cottbus oder Verl hatten kaum Mühe, den rot-weißen
Angriff in Schach zu halten und zu punkten.
Schon im Vorfeld des Rückrundenauftakts beim
Tabellennachbarn aus Ahlen wird das Attribut „richtungweisend“
sicher wieder durch Presse und Internetforen geistern,
doch auch dieses Spiel wird noch nicht für endgültige
Klarheit sorgen; in einer punktemäßig (auf
niedrigem Niveau?) ausgeglichenen Liga kann es noch
einige Spieltage dauern, bis sich die Spreu vom Weizen
trennt. Wenn nicht für den Verein, so könnte
das Spiel in Ahlen aber für Bonan doch richtungweisend
sein. Bei einem erneuten Abrutschen unter den ominösen
Strich wird die Zahl der Kritiker sicherlich wachsen
und die Stimmung könnte kippen.
Der Trainer:
„Mehr war aufgrund der Verletztenmisere nicht
drin!“, sagen die Einen – „Trotz der
Verletztenmisere war mehr drin!“, behaupten die
Anderen, so dass sich inzwischen auch eine anwachsende
Schar von Trainerkritikern formiert. Insbesondere
unglückliche Äußerungen in der Öffentlichkeit,
falsche Entscheidungen in der Aufstellung und im System
sowie kaum nachvollziehbare
Ein- und Auswechslungen werden von Kritikerseite dem
Trainer zur Last gelegt, wodurch sein Handeln inzwischen
mit Argusaugen beobachtet und analysiert wird. Gemutmaßt
wird zudem, dass Bonan nach dem Katastrophen-Kick
gegen Braunschweig im Falle einer Niederlage in Babelsberg
entlassen worden wäre.
Bonan hat definitiv Fehler gemacht in seinem ersten
halben Jahr als RWE-Trainer, vielleicht auch Fehler,
die einem erfahrenen Trainerfuchs nicht passiert wären.
Es gibt auch sicherlich gute Gründe für
die Vermutung, dass man mit einem anderen Trainer
trotz des Verletzungspechs den einen oder anderen
Punkt mehr auf dem Konto hätte. Wenn man allerdings
einen jungen Trainer an Bord holt, dann muss man auch
mit Fehlern rechnen und sie ihm zugestehen, solange
zumindest das Minimalziel nicht in Gefahr gerät.
Gerade Bonans unglückliche Aussagen in Interviews
erscheinen halb so wild, wenn man diese mit den öffentlichen
„Alles-Scheiße-hier“-Verbalrundumschlägen
seines Vorgängers vergleicht.
Eine große Stärke Bonans ist sicherlich
seine Geduld.
Spieler wie Kotula, Sereinig oder Guié-Mien
wären nach ihren ganz schwachen Auftritten zu
Beginn der Saison unter Bonans Vorgänger vermutlich
längst aus dem Kader geflogen und hätten
den Rest der Saison als kostspielige Sitzplatzwärmer
von der Haupttribüne aus erlebt. Dort hätte
sich insbesondere Lindbaek sofort hinsetzen können,
nachdem er öffentlich zugab, „kein Trainingsweltmeister“
zu sein. Was unter Köstner ein selbst ausgespochenes
„Todesurteil“ gewesen wäre, muss unter
Bonan noch nicht das Ende sein. So hat Lindbaek später
trotzdem spielentscheidende Tore gegen Magdeburg und
Lübeck erzielen können. Obwohl das Verhältnis
zwischen Bonan und Lindbeak vermutlich mehr oder weniger
gestört ist und Bonan auch bei größter
Personalnot lieber Michael Lorenz als Stoßstürmer
aufstellt, erhält jeder Spieler eine zweite (oder
dritte) Chance – dieses Trainerverhalten hat
sich bei Sereing, Guié-Mien und Co. bereits
bezahlt gemacht, so dass zahlreiche anfangs leistungsschwache,
zwischenzeitlich sogar auf die Ersatzbank degradierte
Spieler heute zu den Leistungsträgern gehören.
Seine Geduld und seine Ruhe haben auch geholfen, die
schwierige Situation nach dem Fehlstart zu meistern
– an solchen Krisensituation sind in der Vergangenheit
schon wesentlich erfahrenere Trainer an der Hafenstraße
gescheitert!
Die Stärken der Mannschaft:
Die Mannschaft spielt sich zunehmend mehr ein, das
merkt man auch auf dem Feld. Die Zeiten, in denen
wöchentlich Taktik und Aufstellung wechselten,
gehören der Vergangenheit an. Es haben sich eine
gesunde Teamhierarchie und ein Stamm von Leistungsträgern
herauskristallisiert, auf den man auch in der Rückrunde
setzen kann. An der Lauf- und Kampfbereitschaft gibt
es inzwischen kaum noch etwas auszusetzen, so dass
auch die erschreckend
hohe Zahl von langwierigen Verletzungen durch Engagement
zwar nicht ganz kompensiert werden konnte, sie sich
aber doch nicht so sehr auf dem Platz bemerkbar machte,
wie befürchtet. Es wächst etwas zusammen,
was zusammen gehört und durch frühzeitige
Vertragsverlängerungen auch zusammengehalten
wird.
In die Mannschaft reindrängen werden mit Sicherheit
Kapitän Stefan Lorenz und der dringend benötigte
quirlige und torgefährliche Sercan Güvenisik,
die nach der Winterpause wieder ins Mannschaftstraining
einsteigen und die Qualität weiter steigern werden.
Die Abwehr ist inzwischen zum stärksten Mannschaftsteil
geworden. Masuch im Tor hat bewiesen, dass Bonan ihm
zu Recht das Vertrauen schenkte. Sereinig hat sich
zu einem echten Abwehrchef entwickelt und lediglich
noch mit seinen unpräzisen Langhölzern ins
Seitenaus zu kämpfen. Niklas Andersen ist die
Entdeckung der Saison und auf bestem Wege, ein neuer
Benjamin Weigelt zu werden. Lediglich bei Czyszczon
ist nach gutem Beginn die Fehlerquote spürbar
angestiegen – er wird seinen Platz in der Startelf
an einen fitten Stefan Lorenz verlieren.
Das zentrale Mittelfeld hat sich ebenfalls ein großes
Plus verdient. Dank der Leistungsexplosion von Gorschlüter
und der soliden, mannschaftsdienlichen Leistung von
Michael Lorenz ist es für jeden Gegner sehr schwierig,
in den rot-weißen Strafraum einzudringen. Gorschlüters
Dribblings im Mittelfeld leiten zudem zahlreiche Angriffe
ein. Mit Kotula hat Bonan endlich einen Spezialisten
für Freistoßflanken gefunden und somit
die Zeiten völlig uneffektiver Standardsituationen
beendet.
Die Schwächen der Mannschaft:
Die große Baustelle ist und bleibt der Angriff,
und hier fehlen insbesondere ein Goalgetter und ein
schussstarker und torgefährlicher Mittelfeldspieler
vom Typ Erwin Koen.
Der Aufschwung nach schwachem Start kam mit der Nachverpflichtung
von Markus Kurth. Zum Zeitpunkt der Verpflichtung
lag die Mannschaft am Boden, an Kurths vorbildlichem
und unermüdlichem Einsatz konnten sich viele
Spieler hochziehen, und mit ihm erreichte die Mannschaft
eine kleine Serie von niederlagenfreien Spielen.
Inzwischen ist die Mannschaft kämpferisch aber
gefestigt, die Verteidigung und das Mittelfeld funktionieren
in weiten Teilen. Wie die letzten drei Spiele gegen
Lübeck, Oberhausen und Düsseldorf gezeigt
haben, wird inzwischen eher ein treffsicherer als
ein kampfstarker Stürmer benötigt. Ob der
trotz ansteigender Formkurve meist auf der Bank sitzende
Lindbaek ein solcher ist, kann man sicher noch nicht
endgültig beantworten. Dass ihm aber wenige Einsatzminuten
reichten, um sich auf Platz zwei der vereinsinternen
Torschützenliste zu schießen, gibt zu denken.
Lindbaek benötigte im Vergleich mit Kurth nur
einen Bruchteil der Einsatzzeit des ehemaligen Duisburgers,
um einen Treffer mehr zu erzielen. Die Torquote ist
für den ehemaligen Bndesligastürmer sicherlich
enttäuschend.
Auch ein Markus Kurth sollte also keine Stammplatzgarantie
besitzen. Vielmehr muss man von Spiel zu Spiel neu
abwägen, welche Stürmerqualitäten von
Vorteil sind. Sobald Güvenisik wieder fit ist,
sind mehrere Sturmkonstellationen denkbar, auch solche,
für die Kurth verzichtbar ist.
Mit dem frisch auf dem Lübecker Schnäppchenmarkt
verpflichteten Benjamin Baltes kommt Leben in die
durch Kiskancs unerklärliches Dauerleistungstief
und Schäfers Dauerverletzung dünn besetzte
linke Seite. Keine Frage, der neue Konkurrenzkampf
wird sich positiv auswirken, und wenn Allrounder Baltes
neben den angekündigten Qualitäten auch
noch ordentliche Flanken aus dem Spiel heraus schlagen
kann, wird er gute Karten im Kampf um den Platz auf
der linken Außenbahn haben.
Gewinner und Verlierer der Hinrunde:
Zu den Gewinnern zählen eindeutig Andersen und
Gorschlüter. Beiden hatte vor Saisonbeginn kaum
jemand einen Stammplatz zugetraut. Beide überzeugten
jedoch durch Leistung und sind inzwischen
aus der Mannschaft nicht mehr wegzudenken. Mit beiden
Spielern konnten die Verträge schon frühzeitig
verlängert werden.
Aufgrund der starken Konkurrenz muss man auch Masuch
bei den Gewinnern nennen, sein hauchdünner Vorsprung
vor Pirson hat auch ihm inzwischen ebenfalls einen
neuen Zweijahresvertrag eingebracht.
Doch wo Gewinner sind, dort sind natürlich auch
Verlierer. Obwohl sich Pirson nichts vorwerfen und
sich leistungsmäßig nicht hinter Masuch
verstecken muss, reichte es nur zu einem Bankplatz.
Die Wege von Keeper und Verein werden sich zum Saisonende
vermutlich trennen.
Lindbaek wechselte mit vielen Vorschusslorbeeren an
die Hafenstraße und erhielt als einer von wenigen
Spielern einen Zweijahresvertrag mit Option auf ein
weiteres Jahr. Die hohen Erwartungen konnte er kaum
erfüllen; Akklimatisierungsprobleme und ein großer
Trainingsrückstand, den er offenbar auch nicht
durch erhöhten Trainingseifer bereit war schnell
abzubauen, machten ihn für die Mannschaft lange
Zeit wertlos. Seine Fähigkeiten als Stoßstürmer
fehlten der Mannschaft und dem System von Bonan jedoch
an allen Ecken und Enden. Erst gegen Ende der Hinrunde
blitzten seine Knippserfähigkeiten auf und weckten
wieder
die Hoffnung, dass er in der Rückrunde noch das
eine oder andere entscheidende Tor erzielen wird.
Haeldermans hatte nach einer bärenstarken Vorbereitung
einen Stammplatz im offensiven Mittelfeld sicher,
inzwischen wird der dauerverletzte Belgier kaum noch
Chancen haben, sich in die Startelf zu spielen. Bestenfalls
als Einwechselalternative wird man von Haeldermans
noch hören.
Der Zweiligastammspieler Kiskanc hatte mit Sören
Brandy wahrlich keinen übermächtigen Konkurrenten
erhalten, dennoch schaffte er den Sprung in die Stammelf
nicht. Ganz im Gegenteil, seine Formkurve sank von
Woche zu Woche immer tiefer in den Keller, was darin
gipfelte, dass er während eines Spiels von den
eigenen Anhängern ausgepfiffen und kurz darauf
ausgewechselt wurde. Auch Kiskancs Tage an der Hafenstraße
werden am Ende der Saison mit hoher Wahrscheinlichkeit
gezählt sein.
Fazit:
Die Weichen für die neue Dritte Liga sind durch
zahlreiche Vertragsverlängerungen mit Leistungsträgern
bereits frühzeitig gestellt, hier hat die Sportliche
Leitung erfolgreich gearbeitet. Auch in Bezug auf
den Stadionneubau kommt Bewegung ins Spiel, so ist
die rechtskräftige Verzichterklärung von
Dr. Kölmel ein weiteres wichtiges Puzzelstück
für den Baubeginn. Was für eine erfolgversprechende
Zukunft noch fehlt, ist die sportliche Qualifikation
(mindestens) für die Dritte Liga. Ob es auch
einen Notfallplan für den „Supergau Abstieg“
gibt, ist nicht bekannt. Öffentlich wird diese
Thematik von der Vereinsseite jedenfalls nicht diskutiert.
Ganz im Gegenteil, Bonan und Janßen machten
zuletzt in der Presse unmissverständlich klar,
dass man „in der Rückrunde angreifen“
werde, Platz 10 auf Dauer also nicht zufrieden stellend
ist. Dies kann und muss mit Hilfe der noch verletzten
Leistungsträger (vor allem Stefan Lorenz und
Güvenisik), der Neuverpflichtung Benjamin Baltes
und eventuell einer weiteren neuen Offensivkraft auch
gelingen. Die Mannschaft hat gezeigt, was sie trotz
Verletzungsmisere zu leisten imstande ist. Dementsprechend
werden die Erwartungen und Ansprüche an die in
Bestbesetzung spielende rot-weiße Elf steigen,
deshalb wird der Druck auf die Mannschaft und vor
allem auf den Trainer kein bisschen geringer.
Sind die Schwächephase zu Saisonbeginn durch
die fehlende Teamhierarchie und Eingespieltheit und
die Aussetzer gegen Cottbus oder Verl durch den Ausfall
einiger Leistungsträger noch befriedigend zu
erklären, so muss die Fieberkurve mit Beginn
der Rückrunde endlich einen linearen Verlauf
in Richtung „oberes Tabellendrittel“ einschlagen.
– und das wird sie im Normalfall auch! Bei optimalem
Verlauf ist sogar noch mehr drin, denn richtig starke
Mannschaften, die sich oben ein wenig absetzen, gibt
es wie schon im Vorjahr nicht.
Wenn allerdings die Entwicklung nach oben nicht gelingt,
wird sich Heiko Bonan dafür verantworten müssen,
denn die Mannschaft hat zweifellos großes Potenzial,
was die zahlreichen Vertragsverlängerungen belegen.
Am Ende muss unter dem Strich nicht der Aufstieg stehen,
aber ein kleines Punktepolster zwischen RWE und dem
elften Platz sollte schnellstmöglich aufgebaut
werden, damit Bonan in Ruhe arbeiten kann - sein „Welpenschutz“
als Trainer dürfte beendet sein.
(mj)