Achterbahn
„Die Mannschaft muss sich noch finden“
Ausgerechnet aus Dresden kam dieser Appell
an die völlig verstörten RWE-Fans nach der
demütigenden Heimklatsche gegen Rot-Weiß
Oberhausen. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, nachdem
der Aufsteiger aus der Oberliga die Essener so mühelos
erlegte. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde Trainer
Heiko Bonan angezählt („Ich gebe Bonan zwei
Monate, dann ist er weg“) und wehmütig dachte
so mancher an vergangene Zeiten: „Unter Lorenz
G. Köstner hätten wir uns nicht so blamiert!!“
Schien es so, als ob es nicht mehr schlimmer kommen
könnte, so folgten herbe Heimniederlagen gegen
Kickers Emden und Rot-Weiß Ahlen, denen Essen
vor der Saison den Trainer und zwei Leistungsträger
weggekauft hatte. „Jedenfalls ist diese Mannschaft
das Allerletzte und ich werde die nächsten Spiele
nicht zur Hafenstraße gehen.“ Ähnlich
hart gingen viele Anhänger mit der Mannschaft
ins Gericht. Die Talsohle wurde aber erst beim Spiel
gegen Braunschweig erreicht. Nun standen die beiden
Traditionsvereine im tiefsten Keller der Regionalligatabelle
und jede Hoffnung schien verloren. Torchancen waren
Mangelware, Leistungsträger hatten Probleme,
ihre eigene Leistung zu finden und konnten deswegen
die Mannschaft nicht mitziehen. Das Publikum reagierte
scharf. Die Geschäftsstelle erlebte nach dem
Spiel gegen Emden eine regelrechte Barrikade, als
wütende Fans versuchten, die Schuldigen auf ihre
Weise zur Verantwortung zu ziehen.
„Die armen Irren, die immer noch an diese Mannschaft
glauben und sie zu Auswärtsspielen begleiten.“
Auch diese Aussage, getätigt nach der
Nullnummer gegen den BVB II, spiegelt die düsteren
Prognosen nach dem schwachen Saisonstart wider. Doch
gerade die "Irren", die weiterhin die Mannschaft
begleiteten und dafür die langen Wege nach Wolfsburg,
Potsdam und Berlin auf sich nahmen, wurden belohnt.
Innerhalb von einer Woche siegte RWE zwei Mal auswärts
und erzielte dabei sechs Tore. Das hatte kaum jemand
dieser Mannschaft zugetraut. In der Fremde ohne den
Druck eines großen Publikums im Rücken
spielte die junge Mannschaft befreit auf und strafte
erstmals die harschen Kritiker lügen.
Doch auch im Georg-Melches-Stadion ging es aufwärts.
Nach einem 3:2 Erfolg über Erfurt, der zwar erneut
Zittern verursachte, aber verdient war, durften sich
auch diejenigen mal wieder freuen, die nicht ohne
weiteres Hunderte von Kilometern für den Fußball
fahren können oder wollen. Übertrumpft wurde
der Erfolg nur noch vom 1:0 Heimsieg gegen den Rivalen
aus Wuppertal. Der Tabellenführer wurde völlig
verdient geschlagen und die Furcht vor der übermächtigen
Offensive aus dem Bergischen Land stellte sich als
laues Lüftchen heraus. Der jüngste Erfolg
gegen die Zweitvertretung von den befreundeten Bremern
und den damit verbundenen ersten Platz in der Auswärtstabelle
lässt die Träume von so manchem Anhänger
wieder in den Himmel wachsen: „So langsam darf
man die Augen nicht mehr verschließen, dass
noch was Schönes passieren könnte.“
Nun steht die Frage im Raum, wie es zu dieser Achterbahnfahrt
kommen konnte. Warum kam der Umschwung?
„Tja der Kurtheffekt wieder! Seitdem der
da ist, läuft es wie geschmiert.“
Es ist beachtlich wie eng verknüpft das
verbesserte Auftreten der Mannschaft mit dem Namen
Markus Kurth verbunden ist. Seitdem der Neuzugang
aus Duisburg da ist, gab es keine Niederlage mehr
für RWE. Kurth ist ein Arbeiter, der seine Leistung
zu hundert Prozent bringt und seine Mitspieler einzusetzen
weiß. Er ist darüber hinaus ein Leistungsträger,
der die Mannschaft ordnet und anfeuert. Mit ihm ist
die ganze Offensive gewachsen. Guié-Mien und
Güvenisik entwickelten sich mit Kurth im Rücken
zu Goalgettern. Beide trafen zusammen acht Mal.
Nach dem Spiel gegen Borussia Dortmund II wurde bei
der Bestandsaufnahme von Jawattdenn.de deutlich, dass
die Leistungsträger ihr Potenzial noch nicht
abriefen und es folglich an Hierarchie in der Mannschaft
mangele. Dieses Problem scheint nun beseitigt. Stefan
Lorenz, der Kapitän, kehrte nach wochenlanger
Verletzungspause wieder ins Team zurück und stabilisierte
den Abwehrverband. Aber auch Daniel Sereinig brachte
endlich die Leistungen, deretwegen die sportliche
Führung den Spieler verpflichtet hatte. Sereinig
ist der Kopf der Abwehr und versteht sie zu lenken.
Darüber hinaus ist Tim Gorschlüter aus Ahlen
wie verwandelt zurückgekehrt. Er ersetzte eigentlich
Stijn Haeldermans, der seit Saisonbeginn fast durchgehend
verletzt ist und in diesem Jahr nicht mehr auf dem
Platz stehen wird. Seine Zweikampfwerte sind herausragend
und sein Spielaufbau kraftvoll und überlegt.
An diesem Spieler, der bis jetzt nicht eine Minute
gefehlt hat, kann die Mannschaft sich aufrichten.
Niemand darf vergessen, dass erneut eine völlig
neu zusammengestellte Mannschaft in Essen aufläuft
und es immer Zeit braucht, bis sich die Spieler finden.
Das Team, das vor zwei Jahren den Aufstieg so souverän
erreichte, hatte noch im November 2005 stark mit diesem
Problem zu kämpfen, als es zu der Niederlage
gegen St. Pauli und dem Eklat beim 2:1 Erfolg über
den HSV kam. Auch in der aktuellen Truppe ist noch
Luft nach oben. Lindbaek, der bereits komplett abgeschrieben
wurde, scheint nun doch langsam in Tritt zu kommen
und konnte endlich gegen Bremen sein erstes Meisterschaftstor
schießen. Aber auch bei Ferhat Kiskanc, der
so einen schweren Stand beim Publikum hat, ist viel
Luft nach oben. Offensiv drängen zusätzlich
noch der talentierte Wagner, sowie Uzun und Said ins
Team, sodass der heftige Konkurrenzkampf die Leistungen
konstant auf hohem Niveau halten wird.
"Janßen raus!"
Die schon aus Zweitligazeiten bekannte Parole
der Tribüne ist ewig jung und wenn es nach vielen
Fans gehen würde, wäre der sportliche Leiter
eher gestern als heute weit weg von der Stadtgrenze.
Olaf Janßen verdient, trotz der nicht weg zu
diskutierenden Fehler, die er in der Vergangenheit
beging, eine faire Betrachtung. Die Mannschaft, die
er gemeinsam mit Trainer Bonan zusammengestellt hatte,
beweist seit Wochen ihre Tauglichkeit für diese
Liga. Einen eindeutigen Fehlgriff, wie Thorsten Horz
vor zwei Jahren, sucht man im Moment vergeblich. Kazior,
der bis jetzt selten überzeugen konnte, hat schon
zwei sehr wichtige Treffer erzielt, Lindbaek beginnt,
den ein oder anderen Fan von seinen Qualitäten
zu überzeugen. Auch Kotula und Klinger zeigen
in ihren Einsätzen mittlerweile, warum sie in
ihren vorherigen Stationen Leistungsträger gewesen
sind. Ein endgültiges Fazit der Transfers des
Sommers darf erst in der Winterpause getroffen werden,
doch scheint das Paket zu stimmen. Allerdings werden,
selbst wenn der kühnste Traum, Aufstieg, realisiert
werden sollte, die Zuschauer weiterhin den Kopf Janßens
fordern. Zu präsent ist der letzte Abstieg, als
dass sie noch einmal dieses Risiko eingehen wollten.
Auch der Trainer stand zeitweise stark in der Kritik.
Ständig wechselnde Spielsysteme, immer wieder
starke Veränderungen in der Startformation und
sehr unglückliche Äußerungen in den
Medien ließen den Glauben schwinden, dass er
in der Lage sei, die Aufgabe Rot-Weiss Essen zu meistern.
Aus Oberhausen erreichte uns die Vorhersage nach dem
Spiel gegen Braunschweig: „Habe geahnt, dass
Bonan der Sache nicht gewachsen ist.“ Dies stellt
sich heute glücklicherweise anders dar. Jawattdenn.de
hoffte nach dem Dortmund Spiel auf ein Ende der Experimente
und Bonan erfüllte diese Hoffnung. Mit dem 3-4-3
ist er angetreten und setzt es nun ohne Kompromisse
um. Darüber hinaus hat sich nun eine Stammelf
herauskristallisiert, wobei der Eindruck entsteht,
dass Bonan bereit ist, wenn ein Spieler sich im Training
anbietet, diesen integrieren zu können. Der Trainer
hat ebenso einen Reifeprozess durchmachen müssen
wie die Mannschaft und er zeigt sich gestärkt.
Nun bekommen die Fans den Offensivfußball zu
sehen, den er bei seinem Antritt versprochen hat.
Was ist möglich?
Träume vom erneuten Wiederaufstieg kommen
eindeutig zu früh. Jedem sollte noch das zweite
Gesicht dieser Mannschaft im Kopf sein, das sie zu
Saisonbeginn gezeigt hat. Doch die Qualität sich
im oberen Drittel der Tabelle festzusetzen, scheint
vorhanden zu sein. Auch wenn RWE leider bis zur Winterpause
auf vier wichtige Spieler verzichten muss. Schäfer
und Haeldermans sind bis jetzt adäquat ersetzt
worden, allerdings zweifeln viele daran, dass der
quirlige Türke Sercan Güvenisik ein ähnlich
gutes Pendant findet. Die Spiele gegen Bremen und
Wuppertal zeigten aber, dass auch die Abwehr und das
Mittelfeld Torgefahr ausstrahlen und sein Ausfall
mit geschlossener Teamleistung kompensiert werden
kann. Der Kreuzbandriss von Kapitän Stefan Lorenz
trifft das Team hart. David Czysczcon hat ein gutes
Defensivverhalten, kann die Persönlichkeit Stefan
Lorenz aber vorerst nicht ersetzen.
Es läuft nicht auf einmal alles perfekt und auch
der schwache Saisonstart ist vielleicht vergeben,
aber nicht vergessen. Nun ist es wichtig den Kurs
zu halten und sich nicht auf den ersten Erfolgen auszuruhen.
Am Ende der Hinrunde wird nur noch gegen Teams gespielt,
die in der Tabelle unterhalb von RWE stehen. Hier
ist besondere Vorsicht erforderlich. Man wird vielfach
auf Abwehrbollwerke treffen, die man mit gutem Flügelspiel
und viel Kreativität aushebeln muss. Auch das
Publikum muss der gewohnt starke Rückhalt sein.
Während auswärts der Zuspruch so groß
war, dass RWE auf dem zweiten Platz der Auswärtszuschauertabelle
liegt waren die Zahlen zuletzt eher ernüchternd.
Sie werden sich hoffentlich erholen und jeder Fan
sollte den noch sehr jungen Spielern genug Zeit geben
sich zu entwickeln. Im Winter werden wir dann ungefähr
abschätzen können wohin die Reise geht.
Hendrik
Stürznickel
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