Als der "Schreck" durch den Äther schallte

DFB-Pokalspiel Rot-Weiss Essen - Bayer Leverkusen 5:8 n.E., 04. Oktober 1995

Es war der 4. Oktober 1995, mein zweiter Arbeitstag. Gerade hatte ich meine Ausbildungsstelle als Redaktionsvolontär einer kleinen, aber rennomierten Wochenzeitung angetreten. Das Konto noch leer, ebenso die gerade frisch bezogene 18-Quadratmeter-Dachmansarde im Trierer Domviertel. Zwei Domherren, in Ehren ergraute katholische Priester, wohnten in den beiden Etagen unter mir. Der eine mit Haushälterin und Papagei, der andere alleine.

Ich fühlte mich richtig elend. Gerade 20 Jahre jung und zum ersten Mal "richtig" von zu Hause weg. In einer völlig fremden Stadt und einer noch leeren Azubi-Bude. Und das an einem Tag, an dem abends Rot-Weiss Essen im Pokal gegen Bayer Leverkusen antreten sollte. Ein Vermögen hätte ich bezahlt und noch mehr, hätte ich diesen Abend doch nur an der heimischen Hafenstraße verbringen dürfen!

Doch woher nehmen? Noch reichte das Geld nicht mal für ein eigenes Fernsehgerät. So saß ich abends alleine mit einer Flasche Pils vor meinem geschenkten IKEA-Regal, verkabelte die darin stehende Stereoanlage und hoffte, dass wenigstens im Radio über das Pokalspiel berichtet werden würde.

In der Tat: SWF1 schaltete in Konferenz immer wieder zu den Spielen Essen-Leverkusen und Freiburg-Dortmund. Ich machte es mir auf dem Schreibtischstuhl "gemütlich".

"Rappelvolles Stadion", "wahnsinnige Stimmung", so schallte es immer wieder aus dem Äther. Ob es Manni Breuckmann war, der von der Hafenstraße berichtete, Hansi Küpper oder Sabine Töpperwien, ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich nur noch daran erinnern: Die Radioleute hatte ihre Außenmikrofone so weit aufgedreht, dass man glaubte, mitten im Block zu stehen.

Ich schloss die Augen und begab mich auf die Reise. Flog in Sekundenschnelle durch Zeit und Raum und landete punktgenau dort, wo ich eigentlich an jenem Abend hingehört hätte: an meinem Stammplatz in Block L, vom Eingang ungefähr 15 Stufen runter und dann links.

Ich hatte sie klar vor mir: Völler, Schuster, Paulo Sergio. Aber wen interessierten die? Meine Helden hießen Helmig, Margref und Dondera. Ein Wechselbad der Gefühle: Einsnull Feldhoff, Einseins Helmig, zwischendurch Schaltung nach Freiburg, Halbzeitpause, Einszwei Sergio, Zweizwei Dondera, warum bleiben die Radio-Affen nicht in Essen, wen interessiert Freiburg, Zweidrei, Zweivier, Fach und Völler, so ein Mist, Verzweiflung, Dreivier Dondera, Hoffnung, Viervier, Putsche Helmig Fußballgott!

Und dann, ganz unvermittelt, Ruhe im Äther. Selbst der Radiokommentator wahrte plötzlich ehrfurchtsvolles Schweigen. Plötzlich kreischt es mit 200 Watt aus der Lautsprecherbox, glasklar zu verstehen: "WER IST DER SCHRECK VOM NIEDERRHEIN?" Kalt läuft es mir den Rücken herunter, die Härchen stellen sich auf, Adrenalin schießt in rasender Geschwindigkeit durch den Körper: "NUR DER RWE!!!"

War ich das? Hatte ich tatsächlich mitgebrüllt?

Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, fand ich mich in der Mitte des Raumes wieder, beide Arme mit den flachen Händen in Richtung Decke gestreckt. "Lothar, wird danken dir!" Und wenn es für ein Stück Heimat ist, mitten in der Fremde. Nachdem die Gänsehaut abgeklungen war, wischte ich mir ein paar verstohlene Tränchen aus dem Augenwinkel.

Ich setzte mich wieder, machte mir ein neues Bier auf, schließlich waren noch ein paar Minuten in der Verlängerung zu spielen. Erneut schaltete der SWF nach Freiburg, wo der BVB inzwischen mit 1:0 führte. Der Schiedsrichter pfiff ab, der Reporter gab ab ins Studio und der Radiomann verabschiedete sich mit den Worten: "Wir spielen jetzt eine Musik für Sie und nach den Nachrichten um 23 Uhr kommt dann 'Gut aufgelegt' mit Paul Kuhn. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend"

WIE BITTE??? IHR DRECKIGEN PENNER!!!

Wieder war ich aufgesprungen, brüllte verzweifelt das Radiogerät an, hüpfte, stampfte flehend durch den Raum. Vergeblich. Nachdem das Spiel aus dem eigenen Sendegebiet abgepfiffen war, hatte sich der Südwestfunk gnadenlos aus dem spannendsten Spiel der neunziger Jahre ausgeklinkt. Es war zum Verrücktwerden. Da half auch kein panisches Orgeln am Empfangsknopf mehr, den WDR bekam man im tiefsten Moseltal sowieso nicht rein.

Das Endergebnis von 5:8 nach Elfmeterschießen entnahm ich am folgenden Morgen der lokalen Tageszeitung. Als ich abends von der Arbeit nach Hause kam, sprach mich die Haushälterin aus dem ersten Stock an. Was denn am Vorabend bei mir los gewesen sei, ich hätte sehr spät noch ziemlich laut geschrieen. "Ach, wissen Sie", suchte ich nach einer Notlüge, "ich bin ja noch dabei, mich einzurichten. Und gestern abend war es einfach ein bisschen anstrengend für mich." Wissend lächelnd ließ sie mich im Treppenhaus stehen.

Thomas Mollen