Meine Träume verändern sich. Meine Erinnerungen. Sogar ich selbst. Manchmal wache ich auf und bin der festen Überzeugung, in einem anderen Körper zu stecken. Nicht mehr in diesem knapp fünfzigjährigen Männerkörper, der auf den Namen Fabian hört. Überhaupt nicht mehr in einem Menschenkörper. Manchmal wache ich auf und glaube, eine Orchidee zu sein. Oder eine Fledermaus. Oder ein Käfer. Oder irgendetwas ganz anderes, etwas, für das es noch keinen Namen gibt. Mich stört das nicht sonderlich. Es ist halt so. Ich kann es nicht ändern. Im Gegenteil, meine anfänglichen Versuche, dagegen anzusteuern, intensivierten noch mein Gefühl des Entrücktseins. Also begann ich zu akzeptieren, hörte auf, den unzähligen Stimmen in meinem Kopf zu misstrauen.

Vielleicht bin ich wirklich der Auserwählte, vielleicht brachte ich tatsächlich den Stein ins Rollen. Vielleicht … vielleicht aber auch nicht. Vielleicht habe ich mir das alles nur ausgedacht. Vielleicht gab es gar keine Polizistin. Und auch keine Hinrichtung. Vielleicht gibt es nicht einmal diese Zelle. Vielleicht nicht einmal mich. So oder so, es ist ohne Belang. An diesem Ort, in meinem Kopf. Dort, wo die Wirklichkeit ihren eigenen Gesetzen folgt und die Wahrheit zu einem endlos dehnbaren Begriff wird. Dort, wo das Urteil über mich längst gesprochen wurde. Lange bevor der Konflikt eskalierte und wir es uns in der „Kampfzone“ bequem machten. Als ich noch ein Mensch war. Und keine Orchidee, keine Fledermaus. Und auch kein Käfer.

Das Leben prallt an mir ab wie Wassertropfen von einem Regenschirm. Völlig emotionslos nehme ich zur Kenntnis, dass nächste Woche mein Strafprozess beginnt. Dass man mir einen Pflichtverteidiger stellen werde, wenn ich mir keinen leisten könne. Dass ich die Möglichkeit habe, vorher mit meinem Verteidiger zu sprechen, wenn ich denn wolle. All das und noch mehr sagt man mir. Doch ich höre nicht zu. Es ist mir schlicht und ergreifend egal. Sollen sie mich verurteilen – auch auf die Gefahr hin, dass ich nicht der Auserwählte bin und keinen Mord begangen habe. Schuld trage ich trotzdem. Und Verantwortung. Für mein jämmerliches Leben. Für meine kleingeistige Existenz. Dafür, dass ich mich bereitwillig vom System korrumpieren ließ. Dafür, dass ich aufgehört habe, Fragen zu stellen. Büßen, das werde ich. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Man führt mich in den Verhandlungssaal. Meine Handgelenke schmerzen von den stählernen Fesseln, die diese umschließen. Eine geradezu lächerlich antiquierte Vorsichtsmaßnahme. Damit die Angeklagten ihrem Umfeld keinen Schaden zufügen, so heißt es offiziell. Lächerlich und außerdem überflüssig. Ein vor Wochen in meinen Körper injizierter Virus sorgt schon dafür, dass von mir keinerlei Gefahr ausgeht. Sobald Hormone ausgeschüttet werden und ein gewisser Aggressionspegel überschritten wird, sendet der Virus entsprechende Signale an das Gehirn. Die Gehirnhälften fahren ihre Aktivitäten auf ein Minimum hinunter, und der Betroffene verliert auf einen Schlag das Interesse an der Verwirklichung seiner Gewaltphantasien. Nein, die Handschellen sollen niemanden schützen. Sie dienen ausschließlich dazu, den Angeklagten zu demütigen und in der Öffentlichkeit zu stigmatisieren.

Der Saal ist gut gefüllt. Ich blicke in betroffene Gesichter. Eisiges Schweigen überall. So wie damals im Helikopter nach dem Spiel in München. In eine der vorderen Reihen erkenne ich Kai. Als er seinerseits bemerkt, dass ich ihn bemerkt habe, bildet sich ein Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Mein alter Gefährte Kai. Sehr anständig von ihm, mir in meiner schweren Stunde beizustehen. Es wäre schön gewesen, wenn er Reinhold kennengelernt hätte. Die beiden wären gut miteinander ausgekommen. Auch Kai trauert den guten alten Zeiten nach. Anders als Reinhold und ich ist er allerdings dazu in der Lage, der Sehnsucht nach den guten alten Zeiten mit einer gewissen Ironie zu begegnen und über sich selbst zu lachen. Auch egal! Reinhold ist Geschichte. Und ich werde es ebenfalls bald sein.

„Herr F., wenn ich Ihre Aussage richtig deute, leugnen Sie erst gar nicht, sich einer kriminellen Vereinigung angeschlossen zu haben. Einer kriminellen Vereinigung wohlgemerkt, die nicht nur in zahlreichen Fällen wegen schwerer Sachbeschädigung und Landfriedensbruch angeklagt wird, sondern auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge.“ Deuten? Was gibt es da zu deuten? Ich habe gerade ein umfangreiches Geständnis abgelegt, habe von all meinen Erlebnissen und Begegnungen in der Kampfzone berichtet, habe alle Schuld auf mich genommen. Mehr kann sich die Staatsanwaltschaft nicht wünschen. Der Fall ist damit erledigt. „Herr F., Sie wissen hoffentlich, was ihre Aussage für Folgen hat. Bleibt es bei dieser, müssen Sie mit dem höchsten mir zur Verfügung stehenden Strafmaß rechnen.“ Eine seltsame Szene. Die Richterin scheint mindestens genauso überrascht wie der Staatsanwalt. Beide wollen einfach nicht wahrhaben, dass der größte und wichtigste Prozess in ihrer Karriere beendet sein soll, bevor er richtig angefangen hat. Dasselbe gilt auch für meinen Pflichtverteidiger. Mein Geständnis hat ihn dermaßen aus der Fassung gebracht, dass er kreidebleich auf die Bank niedersinkt und in eine Art Schockstarre verfällt.

Ich klinke mich erfolgreich aus der Verhandlung aus. Das allmählich hitziger werdende Wortgefecht zwischen meinem Verteidiger, der Richterin und der Anwaltschaft verkommt zu einem Rauschen. Zu einem sanften Plätschern, das mir Frieden gibt. Ich zähle die Säulen, die das gläserne Kuppeldach tragen, zähle die Steine, aus denen die Säulen bestehen, zähle die Kerben, deren Geschichten auch in diesem Raum Bestand haben. Zu zerfließen, das wünsche ich mir. Mich einfach aufzulösen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zu vergessen. Und in Vergessenheit zu geraten. Schon bald! Draußen braut sich ein Unwetter zusammen. Welkes Laub umwirbelt die Glaskuppel. Blitze zucken zwischen den tief hängenden Wolken. Schon bald! Schon bald wird das alles hier vorbei sein. Ich muss nur Geduld haben.

Die Verhandlung sei vertagt worden. Man müsse meine Aussagen prüfen. Noch mit dem einen oder anderen Zeugen sprechen. Um sich Klarheit zu verschaffen und mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Denn an Klarheit und Licht fehle es gehörig. Mein Verteidiger strahlt über das ganze Gesicht, will mir die Verzögerungen als gute Nachricht verkaufen. Seine stahlblauen Augen fixieren mich. Er wartet auf eine Reaktion, vielleicht sogar darauf, dass ich ihm anerkennend zunicke. Jung ist mein Verteidiger, voller Tatendrang und Optimismus. Auf den ersten Blick eine durchaus sympathische Erscheinung. Mit seinen blonden Locken und der stolzen Nase. Wahrscheinlich hat er erst vor kurzem sein Examen abgelegt. Glaubt noch daran, die Welt verändern oder gar verbessern zu können. Armes Menschenkind! Ein Teil von mir will ihm gut zusprechen. Dass es einen guten Job mache und alles gut werde. Der eine Teil will das sehr gerne. Doch der andere Teil ist stärker.

Immerzu denke ich an Reinhold. Wie wir uns in der Kampfzone trafen. Ein magischer Moment, so aus der Retrospektive betrachtet. Ich spürte schon damals, dass unsere Begegnung kein Zufall war, dass darin ein tieferer Sinn verborgen lag. Ich vertraute ihm blind. Als hätten wir uns schon immer gekannt. Immerzu denke ich an Reinhold. Und je genauer ich ihn mir vorzustellen versuche, sein Gesicht, seine Stimme, desto weniger gelingt es mir. Mein Bild von ihm verschwimmt, wird zu einer grauen Masse ohne Konturen, ohne Profil. Es erlischt. So wie die Flamme in meinem Herzen. Immerzu denke ich an Reinhold. Doch die Gedanken erstarren. Alles Magische ist verloren. Genauso wie die „Kampfzone“, wie alle „Kampfzonen“ in der Welt. Mit unserer Hässlichkeit habe ich mich arrangiert, habe sie sozusagen lieb gewonnen. Bis heute. Heute denke ich an Reinhold. Und die Ästhetik des Hässlichen erscheint mir ausgesprochen unästhetisch.


(mp)