Ich hielt es nur für ein Gerücht, für
dummes Geschwätz, das eine gewisse Eigendynamik
entwickelt, wenn viele Menschen auf engstem Raum zusammen
und Amphetamine von Endorphinen nicht mehr zu unterscheiden
sind. So ein Quatsch, dachte ich mir. Wir waren zwar
weit gegangen, viel weiter, als ich es mir in meinen
kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Eine
gewisse Grenze jedoch würde sicherlich nicht
überschritten werden. Wir alle riskierten viel,
haben uns in vollem Bewusstsein von unseren gesellschaftlichen
Ketten befreit. Niemand mehr wollte in sein altes
Leben zurück. Niemand mehr konnte in sein altes
Leben zurück. Die „Kampfzone“ war unser
neues Zuhause. Und wenn das hier zu Ende ging, mussten
wir uns eben eine neue „Kampfzone“ suchen.
Illegal, was wir hier trieben, keine Frage, nicht
ohne eine gewisse Affinität zur Gewalt. Aber
zu einem Mord würde sich keiner von uns hinreißen
lassen.
„Es ist soweit!“, schrie mir jemand ins
Ohr. „Endlich zeigen wir denen, wie bei uns der
Hase läuft.“ Ich rieb mir die Augen. Wie
lange hatte ich da gelegen? Was war in der Zwischenzeit
passiert? Einige Augenblicke brauchte ich, um mich
zu orientieren und meine Gedanken zu ordnen. Reinhold
beugte sich über mich und strahlte mich an. „Jetzt
mach’ schon. Oder willst Du etwa das Beste verpassen?“
Ich folgte Reinhold durch abgedunkelte Korridore.
Meine Beine taten weh, und auch mein Rücken.
Mein Körper musste sich wohl erst noch daran
gewöhnen, nicht mehr auf ultraleichten Matratzen
aus geklontem Daunensubstrat gebettet zu werden. Ich
hielt kurz inne, holte tief Luft. Reinhold verschwand
allmählich aus meinem Blickfeld; seine Schritte
verhallten. Wovon zur Hölle hatte meine Berliner
Bekanntschaft gesprochen? Hatte ihn Die Taufe mehr
mitgenommen, als er zugeben wollte? Ich bog um eine
letzte Ecke. Gleißendes Licht schlug mir entgegen,
als ich den Aufgang zur West – meiner Stammkurve
– betrat.
Eine seltsame Stille empfing mich. Die Ränge,
sofern sie noch als solche bezeichnet werden konnten,
waren gut gefüllt. Trotzdem herrschte eine unnatürliche
Ruhe, eine lautlose Anspannung, die sich sogleich
auf mich übertrug. Ich quetschte mich an ein
paar Brüder und Schwestern vorbei und stellte
mich neben Reinhold, der sich an einen Wellenbrecher
klammerte. „Und? Was geschieht nun?“ Mir
kam meine Frage etwas dämlich vor. „Sei
ruhig“, zischte Reinhold. „Siehst Du nicht
da unten! Die Zeremonie hat bereits begonnen.“
Erst als ich Reinholds ausgestrecktem Zeigefinger
folgte, erspähte ich die kleine Prozession auf
dem Spielfeld. Mehrere schwarz gekleidete Personen
schritten entschlossen auf den Mittelkreis zu. Sie
führten eine Frau mit sich, deren Uniform sie
als ausführendes Staatsorgan auswies. Die Polizistin
humpelte etwas und fiel zurück, weshalb sie von
ihren Bewachern rüde nach vorne gestoßen
wurde. Eine weitere Person bewegte sich etwas abseits.
Sie hielt etwas in ihren Händen. Doch ich konnte
beim besten Willen nicht erkennen, um was für
einen Gegenstand es sich handelte.
Es dauerte eine Weile, bis alle Protagonisten ihre
Position eingenommen hatten. Weitere Personen waren
hinzugekommen und bildeten einen menschlichen Korridor
zwischen dem Zugang zu den Kabinen und dem Mittelkreis.
Eine kleine Bühne wurde errichtet; eine Stromleitung
gelegt. Die Polizistin kauerte auf dem Grün.
Und obwohl ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte,
war ich der festen Überzeugung, dass Tränen
in ihren Augen schimmerten. „Um was für
Forderungen handelt es sich eigentlich?“, flüsterte
ich. „Spielt das eine Rolle?!“ Reinhold
schaute mich merkwürdig verständnislos an.
„Entscheidend ist einzig und allein, dass wir
denen Widerstand leisten. Die da draußen müssen
endlich kapieren, dass mit uns nicht zu spaßen
ist. Wenn hier heute Blut fließt, dann haben
die da oben das ganz alleine zu verantworten. Die
machen doch mit uns, was sie wollen. In Berlin wollten
die mich nur noch mit einwandfreiem Führungszeugnis
ins Stadion lassen. Du glaubst gar nicht, wie schwierig
es ist, an solche Papiere zu kommen. Nein, wir müssen
endlich ein Exempel statuieren, sonst war das hier
alles umsonst.“
Ich fühlte mich zu schwach, Reinhold etwas zu
erwidern. Krampfhaft versuchte ich, mir die letzten
Tage zu vergegenwärtigen. Sehnte mich nach dem
Gefühl, das mich zuletzt so beherrschte. Die
Unabhängigkeit, die Einfachheit, die Zügellosigkeit.
Ich hatte doch endlich das Glück gefunden, wusste
zum ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutete,
wahrhaftig zu leben. Ohne rote oder weiße Pillen.
Ohne irgendeinen beschissenen Geschmacksverstärker.
Verdammt, sprach ich zu mir selbst. Jetzt lass Dich
nicht hängen. Jahrelang hast Du auf diesen Augenblick
gewartet. Mach’ ihn nicht kaputt. Eine weitere
Chance wirst Du nicht bekommen. Ich hämmerte
mit der Faust auf den gusseisernen Wellenbrecher.
„Gebt mir einen Drink. Und zwar sofort!“,
rief ich meinen Nachbarn zu. Und tatsächlich.
Keine zehn Sekunden später hielt ich eine Flasche
in der Hand, deren stechend riechender Inhalt wohlige
Erinnerungen an meine Taufe hervorrief.
„Brüder und Schwestern, heute ist der Tag,
an dem wir aus unseren Verstecken treten und der Mutter
Oberin ordentlich in ihren fetten Arsch treten, heute
ist der Tag, an dem wir unsere Seelen aus der Hölle
befreien, heute ist der Tag, an den die Menschen noch
in 1.000 Jahren zurückdenken werden, heute ist
der Tag, an dem wir die Pyramiden, Schlösser
und Wolkenkratzer niederreißen, an dem wir Rache
üben.“ Eine dunkle Stimme donnerte über
uns hinweg. Sie gehörte der Person auf dem Rasen,
die diesen merkwürdigen Gegenstand in den Händen
hielt. Dieser Gegenstand entpuppte nun sich als antiquiertes
Mikrofon, wie es die Stadionsprecher seinerzeit verwendet
hatten, bevor man dazu übergegangen war, Hologramme
auf den Rasen zu werfen und intelligente Stimmungs-
und Soundmodule einzusetzen. „Brüder und
Schwerstern, heute ist ein bedeutungsvoller Tag. Und
für einen von uns dürfte dieser Tag noch
etwas bedeutungsvoller werden.“
Noch während der Sprecher seine martialischen
Worte ins Publikum schleuderte, tauchte Reinhold unter
den Wellenbrecher hinweg und tänzelte leichtfüßig
die Stufen hinunter. Unten wartete bereits ein Schwarzgewandeter
und führte ihn zu einem der versteckten Tore
aus widerstandsfähigstem Plexiglas, das prompt
aufgeschoben wurde. „Brüder und Schwestern,
einer von uns wird heute die Ehre haben, den Stein
buchstäblich ins Rollen zu bringen. Einer von
uns wird heute das Blut unserer Feinde vergießen,
auf dass sie endlich erkennen und begreifen. Eine
Gesellschaft erkennen, die den Menschen immer mehr
verdummt, eine Gesellschaft begreifen, deren größte
zivilisatorische Errungenschaft darin besteht, dem
Menschen sein Marionettendasein als Erstrebenswerteste
aller Existenzen zu verkaufen. Doch einer von uns
trägt das Feuer in seinem Herzen, die Glut, die
all den Unrat niederbrennen und nichts als verbrannte
Erde hinterlassen wird. Damit wir endlich frei sind,
und leer, und bereit für das Große, das
kommen wird. Denn einer von uns ist der Auserwählte.“
Zeit, Zeit, Zeit. Essen, schlafen, essen, schlafen.
Und zwischendurch mal kacken. Niemand sagt mir, was
in der Kampfzone passiert war. Niemand spricht zu
mir. Niemand, bis auf die Kerben. Ihnen allein habe
ich es zu verdanken, dass ich nicht den Verstand verliere.
Alte Kerben, neue Kerben, Kerben früherer Inhaftierter,
Kerben, die erst noch in die Zellenwände eingeritzt
werden. Namen, Biographien, Gedanken. Auf ewig in
Stein gemeißelt. Nur meine Geschichte bleibt
unvollendet, kann nicht niedergeschrieben werden,
solange sich die Bildermassen in meinem Kopf nicht
bändigen lassen. Der Auserwählte? Bin ich
das? Fiel tatsächlich mein Name? Und dann, was
dann? Habe ich den Stein geworfen, habe ich wirklich
das Leben der Polizistin auf meinem Gewissen? Schwindel,
Übelkeit – je mehr ich darüber nachdenke,
je mehr ich mich zu erinnern versuche. Dazu noch Reinholds
Stimme, tief in mir, in meiner Seele. Asche und
Staub. Immer und immer wieder. Wir sind alle
Asche und Staub. Licht schaltet sich an. Grelles
Licht. Kaltes Licht. Ein neuer Tag bricht an.
(mp)