Reinhold und ich kamen unserem Ziel immer näher.
Schritt für Schritt. Meter um Meter. Umgestürzte
Autos säumten unseren Weg; aus einem Müllcontainer
loderten bläuliche Flammen. Wir waren mucksmäuschenstill,
lauschten in die Finsternis, um uns besser orientieren
zu können. Da die Staatsgewalt die Stromversorgung
lahm gelegt hatte, mussten wir uns wieder vielmehr
auf unsere Sinne verlassen, was erstaunlich gut funktionierte.
Ich schloss die Augen und sog die Luft in meine Lungen.
Es war auf einmal alles so einfach, meine Existenz
auf das Wesentliche reduziert. Mich verlangte es einzig
und allein, unbeschadet in die Arena zu kommen und
meinen Brüdern und Schwestern bei ihrem Kampf
gegen die Uniformierten beizustehen. Über alles
andere würde ich mir dann Gedanken machen, wenn
es soweit war.
Nachdem wir einen kleinen Hügel erklettert hatten,
bot sich uns ein gleichermaßen imposantes und
bedrohliches Schauspiel. Am nächtlichen Himmel
schwirrte ein halbes Dutzend Helikopter; mehrere Suchscheinwerfer
huschten über das Areal und rissen hässliche
Löcher in die Dunkelheit. Immer wieder fielen
Schüsse. Sogar die Detonation einer Handgranate
glaubte ich zu vernehmen. Eine Weile verharrten wir
auf der Anhöhe und beobachteten das Geschehen.
Überall herrschte emsige Betriebsamkeit. Zahlreiche
Schwestern und Brüder trugen Absperrgitter, ganze
Betoneinheiten und weiteres Inventar aus der Arena
und errichteten daraus Barrikaden. Die verglasten
Galerien, die an den Außenwänden entlang
liefen, wurden behelfsmäßig mit Zeitungspapier
abgeklebt. Auch über die Kuppelkonstruktion schlichen
einige Gestalten und machten sich an der Landestelle
zu schaffen. Es hatte den Eindruck, als bereitete
man sich tatsächlich auf eine längere Belagerung
vor.
„Siehst Du das?“, flüsterte mir Reinhold
zu. „Die haben sich inzwischen organisiert; die
überlassen nichts dem Zufall. Und das nach so
kurzer Zeit. Unfassbar! Erinnert mich irgendwie an
früher, als wir noch regelmäßig mit
den Bullen aneinander geraten sind. Haben uns seinerzeit
ein paar ordentliche Scharmützel mit denen geliefert,
manchmal tagelang, wobei das natürlich nichts
gegen das ist, was hier gerade stattfindet.“
Der Mond schob sich hinter der Wolkendecke hervor
und tauchte die Landschaft in fahles Licht. „Unsere
Jungs und Mädels sind ganz schön angepisst;
da hat sich einiges angestaut. Aber musste wohl mal
sein. Sind ja schließlich Menschen und keine
Maschinen, die man nur zu programmieren braucht.“
Mein Gefährte aus Berlin hatte Recht, Maschinen
waren wir keine. Dies bedeutete aber nicht zwangsläufig,
dass wir noch als vollwertige Menschen durchgingen.
Schon vor langer Zeit hatten wir dem Teufel unsere
Seelen verkauft. Warum wir von dem Handel auf einmal
nichts mehr wissen wollten, darüber lässt
sich bloß spekulieren.
Als wir da so saßen und das Treiben auf der
Straße gespannt verfolgten, fragte ich mich,
ob die abgelaufene Saison genauso erfolgreich verlaufen
wäre, wenn wir nicht den Deal mit GenNetIndia
– unserem neuen Hauptsponsor – abgeschlossen
hätten. Anfangs hatten sich mir bei dem Gedanken
die Nackenhaare gesträubt, ein Unternehmen zu
repräsentieren, das mit menschlichem Zuchtmaterial
handelte. Später leuchteten mir die Vorteile
durchaus ein. Nicht nur, dass wir am enormen Reichtum
des asiatischen Branchenführers direkt partizipierten,
nein, auch unser Kader profitierte davon, indem er
kostengünstig runderneuert wurde, ohne dass er
dafür ausgetauscht werden musste. Eine Welle
der Empörung brach über das Land. Eine internationale
Bürgerbewegung forderte lautstark, dass menschliche
Ersatzteile ausschließlich in lebensbedrohlichen
und somit ethisch vertretbaren Situationen Verwendung
finden dürften. Erst als die Moralapostel erkannten,
dass für kleines Geld nicht nur die eigene Leistungsfähigkeit
gesteigert, sondern vor allem die Lebenserwartung
erheblich verlängert werden konnte, ebbte der
Protest merklich ab.
Reinhold zögerte etwas, als ich darauf drängte,
endlich die Böschung hinab zu steigen und sich
unseren Brüdern und Schwestern anzuschließen.
„Du bist tatsächlich bereit, Dein gesamtes
bisheriges Leben hinter Dir zu lassen, hä?“
Er sprach die Worte merkwürdig langsam aus, so
als sollten sie sich auf ewig in mein Gehirn brennen.
„Bereit bin ich wohl“, antwortete ich. „Dennoch
habe ich nicht die geringste Idee, was auf uns zukommen
wird. So etwas erlebe ich zum ersten Mal. Selbst im
letzten Jahrtausend ist mir nichts Vergleichbares
widerfahren.“ Reinhold musterte mich mit funkelnden
Augen. „Du hast keine Ahnung, womit Du es zu
tun hast. Und dennoch meinst Du, für das hier
bereit zu sein. Bedenke, dass es zwar einen Weg hinein,
nicht aber wieder hinaus gibt. Noch ist es möglich,
umzukehren und einen auf reumütig zu machen.
Schlagen wir uns einmal auf die Seite des Mobs, sind
wir gesellschaftlich für immer unten durch.
Es stand völlig außer Frage, jetzt noch
einen Rückzieher zu machen. Ein Leben zwischen
Apartment, Büro, Stadionkneipe und Arena konnte
ich mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen.
Ich wollte dies alles bis zum letzten Augenblick auskosten,
ganz egal, welchen Preis ich dafür zu zahlen
hatte. „Nun gut, Du hast eine Entscheidung getroffen.
Das ist doch schon mal was. Es ist zweifellos vernünftig,
sich in den Abgrund zu stürzen. Wir müssen
sterben, damit wir endlich leben können.“
Während ich noch über Reinholds kryptische
Worte nachdachte, bugsierte mein Freund seinen ungelenken
Körper den Abhang hinunter. Ich ließ meinen
Kopf in den Nacken fallen, genoss diesen Augenblick
der Einsamkeit und Ruhe. Erst als Reinhold ungeduldig
meinen Namen rief, schreckte ich aus meinen Träumereien
auf und setzte mich ebenfalls in Bewegung.
Wir wurden freundlich von unseren Brüdern und
Schwestern empfangen. Eine junge Frau mit kahlrasiertem
Schädel hielt uns ein Flasche mit einer gelblichen
Flüssigkeit entgegen. „Sie nennen es Die
Taufe.“, rief sie uns zu. „Ich musste da
auch durch.“ Ein stechender Geruch stieg mir
in die Nase, als ich das Gesöff an meine Lippen
führte. Obwohl ich nur einen winzigen Schluck
nahm, hatte ich das Gefühl, flüssiges Eisen
zu verschlucken. Ich spürte, wie mein Gesicht
rot anlief. Meine Kehle brannte höllisch, und
ich verlangte lautstark nach einem Krug Wasser. Reinhold
grinste wie blöd. „Was bist Du nur für
eine Memme! Reich’ das Zeug mal rüber. Hatte
schon seit Ewigkeiten nicht mehr das Vergnügen,
Selbstgebrannten zu kosten.“ Freudestrahlend
nahm Reinhold einen ordentlichen Schluck aus der Flasche.
Sein rechter Mundwinkel zuckte ganz leicht. Ansonsten
hielt er sich tapfer. „Nicht schlecht!“,
sprach er nach einer Weile. „Kratzt allerdings
etwas im Hals.“
Wir traten ins Innere der Arena und schauten uns um.
Unsere Brüder und Schwestern leisteten ganze
Arbeit. Die Mehrheit von ihnen befand sich auf den
Rängen und brach die Sitzschalen aus ihren Verankerungen.
Andere waren gerade im Begriff, mitten auf dem Spielfeld
ein Feuer zu entzünden. Zwischendurch wurde gesoffen
und gelacht; keinerlei Anzeichen von Nervosität
oder gar Angst. „Wir hörten von einer Auseinandersetzung
mit einer Polizeieinheit.“ Reinhold hatte einen
übergewichtigen Herrn in voller Ruhrstadt-Montur
abgepasst. „Blut soll geflossen sein, sehr viel
Blut sogar. Wo müssen wir hin, um ein bisschen
mitzumischen? Oder ist der Spaß bereits vorbei?“
„Da seid ihr etwas spät dran.“, lallte
der Dicke. „Die paar Witzfiguren wurden schon
gleich in der ersten Nacht fertig gemacht und irgendwo
eingesperrt. Aber keine Sorge! Ihr habt nichts verpasst;
das Beste kommt erst noch. Wenn die da draußen
nicht mitspielen, wird morgen der erste Kopf rollen.
Ich bin schon ganz aufgeregt.“ „Wie meinst
Du das?“, hakte ich ein. „Wessen Kopf soll
morgen rollen?“ Der Dicke glotzte mich erstaunt
an. „Natürlich der Kopf des Bullen, oder
meinst Du etwa Deiner. Vor ein paar Stunden gingen
unsere Forderungen raus – mitsamt dem Ultimatum.
Die sollen wissen, dass wir es ernst meinen.“
(mp)