Eine Kerbe für jeden Tag. Für jede Sekunde,
Minute, Stunde, die ich in diesem gottverdammten Loch
verbringen muss. Eine Wand voller Kerben. Steingewordene
Lebenszeit. Tausende Geschichten, die ich mir immer
und immer wieder anhöre. Ich versuche sie zu
zählen, die Kerben, gebe ihnen Gesichter, Namen,
Biographien. Manchmal reden sie zu mir ohne Unterbrechung,
manchmal schweigen sie tagelang. Dann verstumme ich
ebenfalls, verkrieche mich in mir selbst und luge
nur gelegentlich unter meinen Lidern hervor. In solchen
Momenten bin ich verzweifelt, finde nirgendwo Halt,
egal was ich auch mache. Mein Herz beginnt zu rasen,
droht zu explodieren. Ich will schreien, weinen, schreien,
meinen Kopf gegen das Mauerwerk schlagen. Doch die
Kerben wachen über mich, achten darauf, dass
ich keine Dummheit begehe.
Um sechs Uhr schaltet sich das Licht ein. Grelles
Licht. Kaltes Licht. Erst im Flur, etwas später
auch in den Zellen. Durch eine kleine Öffnung
in der Stahltür reichen Aufseher das Frühstück.
Brot, Marmelade, Kaffee. Fast so wie in der „Stadionkneipe“.
Ich esse, ohne Hunger zu verspüren; ich lege
mich wieder auf meine Pritsche, ohne müde zu
sein. Ich tue es einfach, so aus Gewohnheit, weil
es nichts anderes zu tun gibt. Meine Finger streichen
über die nackte Steinwand, tasten sich von Kerbe
zu Kerbe. Wie viele mögen es sein? Von wie vielen
Händen hineingeritzt? Ich weiß es nicht,
kann es nicht einmal erahnen. So etwas spielt hier
keine Rolle, Zeit spielt hier keine Rolle. Perfektionierte
Monotonie, die alles und jeden zu brechen weiß.
Zeit, Zeit, Zeit. Licht an, Licht aus. Essen, schlafen,
essen, schlafen. Und zwischendurch mal pissen. Niemand
sagt mir, wie lange ich schon hier bin. Glaube ich
meinen Kerben, sind es gerade einmal fünf Wochen.
Mir kommt es allerdings so vor, als sitze ich schon
eine Ewigkeit, als wäre ich in dieser Zelle geboren.
Erinnerungen verwischen, lösen sich aus ihrer
Struktur. Was gestern real war, ist heute erdacht.
Blutergüsse schimmern blau und rot auf meiner
Brust. Ein Pfeifen aus meiner Lunge. Ich spüre
meinen Körper, giere nach Amphetaminen, hinter
denen ich mich verstecken kann. War tatsächlich
ich es, der den Stein aufgehoben und geworfen hatte?
Was genau hatte sich nach dem Heimspiel gegen die
Berliner zugetragen? Wie schon unzählige Male
zuvor, versuche ich zu rekonstruieren, wie es zu den
Krawallen gekommen war. Bilder schießen durch
meinen Kopf, lassen sich nicht bändigen. Ich
suche nach Erklärungen, doch ich finde keine.
Es war einfach so passiert, ohne einen ersichtlichen
Grund.
Strahlte damals die Sonne? Oder war es einer dieser
trüben Frühlingstage, an denen es ununterbrochen
regnet? Ich habe es vergessen. Woran ich mich hingegen
erinnern kann, ist, dass meine Stimmung schon nach
dem Aufstehen auf dem Tiefpunkt war. Ich hatte eine
scheiß Laune, und das, obwohl wir Deutscher
Meister waren. Das letzte Spiel stand auf dem Programm,
das ultimative Fußballfest, danach ging es in
die wohlverdiente Sommerpause. Dennoch fühlte
ich mich seltsam ausgehöhlt, vermisste die Aufregung,
die sonst immer Besitz von mir nimmt, wenn ein Besuch
in der „Ruhr-Are[n]a“ näher rückt.
Einen Augenblick überlegte ich sogar, einfach
im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu verschlafen,
bis es lautstark an meiner Tür klopfte und ein
gutgelaunter Kai Eintritt verlangte. Was mit mir los
sei, fragte er mit breitem Grinsen, und ob ich jetzt
völlig am Rad drehe. Normalerweise kämen
meine Depressionen doch erst nach dem Spiel und nicht
vorher. Kommentarlos kleidete ich mich an und folgte
Kai aus meinem Apartment.
Ein Film, ohne Chronologie. Blutverschmierte Gesichter.
Ein kleines Mädchen, das nach seiner Mutter rief.
Explosionen, Rauchschwaden. Vermummte, die sich auf
eine Gruppe Polizisten stürzten und sie so lange
mit Tritten malträtierte, bis sich niemand mehr
bewegte. Panzerfahrzeuge, donnernde Helikopter. Pressevertreter
und Schaulustige, mit Kameras bewaffnet. Eine Welle
der Gewalt, die mich erfasste und in unbekannte Sphären
trug. Adrenalin schoss durch meine Venen. Meine Lethargie
war wie weggeblasen. Ich schüttelte mich, befreite
mich von meinen Ketten. Zum ersten Mal seit langer
Zeit hatte ich wieder das Gefühl, richtig zu
leben. Nicht weichgespült, nicht nach Vorgabe,
sondern unberechenbar, archaisch, brutal. So wie es
eben unserer Natur entsprach.
Polizei und Regierung standen uns hilflos gegenüber.
So etwas hatten sie nicht kommen sehen, darauf waren
sie nicht vorbereitet. Grölend zogen wir durch
die Straßen, zerstörten alles, was uns
in die Quere kam. Ruhrstädtler und Berliner.
Eine unheilige Allianz. Wir traten etwas los, worauf
die gesamte Republik gewartet hatte. Von überall
kamen sie her, sogar aus dem benachbarten Ausland.
Wildfremde Menschen, die sich innerhalb weniger Stunden
zusammenrotteten und sich ganz ihren Trieben hingaben.
Als am Abend bekannt wurde, dass weite Teile der privaten
Sicherheitsdienste ihren Dienst quittiert hatten,
erklärte der Polizeisprecher das Gelände
rum um die Arena für verloren. Wir hatten gewonnen,
uns unseren Freiraum erkämpft. Die „Kampfzone“
war geboren.
Natürlich war uns bewusst, dass wir die „Kampfzone“
nicht ewig halten konnten. Unsere Vorräte waren
begrenzt. Die Staatsmacht musste nur darauf warten,
bis unsere Kräfte nachließen und wir freiwillig
aufgaben. Ihre Taktik war es, die offene Auseinandersetzung
zu vermeiden und das Gebiet hermetisch abzuriegeln.
Auf diese Weise verhinderte sie, dass sich uns weitere
Brüder und Schwestern anschlossen oder uns mit
Lebensmittel versorgten. Wir wurden regelrecht belagert,
doch das kümmerte uns nicht allzu sehr. Uns war
es egal, wie alles endete; wir verfolgten keine Ziele,
keine Absichten. Es zählte einzig und allein
der Moment, die kurzzeitige Rückkehr zu unseren
Wurzeln. Welch Befriedigung verschaffte es uns, das
zivilisatorische Korsett abzulegen und einfach nur
zu existieren. Keine Regeln, keine Zwänge. Mein
diffuses Stimmungstief war mit einem Schlag verschwunden.
Nachdem ich den ersten Tag vor allem alleine verbracht
hatte, schloss ich mich am zweiten einer Gruppe Berlinern
an, die einen kleinen Supermarkt besetzt hielt. Reinhold
Pfeffer, ein schlaksiger Endvierziger, nahm mich unter
seine Fittiche und erzählte mir aus seinem Kiez.
„Seitdem das Kalifat ausgerufen wurde, macht
es einfach keinen Spaß mehr in Neukölln.
Die Mullahs greifen mit eiserner Hand durch, sorgen
dafür, dass Neukölln zum spießigen
Vorzeigestadtteil verkommt. Meine Kumpels aus dem
Deniz-Imbiss sind nach und nach weggezogen, konnten
sich die horrenden Mieten nicht mehr leisten. Was
für ein Skandal! Sogar das Deniz musste schließen,
da das Ausschenken von Alkohol plötzlich als
Kapitalverbrechen galt. Bei euch gefällt’s
mir viel besser. Kneipen an jeder Ecke. Hätte
ich gewusst, dass im Westen so die Post abgeht, hätte
ich viel früher mal vorbeigeschaut.“ Anerkennend
prostete er mir mit billigem Fusel aus Übersee
zu. Beherzt griff ich zur Flasche und nahm einen kräftigen
Schluck.
Reinhold und ich verbrachten viel Zeit miteinander.
Tagsüber hielten wir uns im Supermarkt auf. Sobald
es dämmerte, zogen wir los und erkundeten die
Gegend. Helikopter kreisten über dem Gelände;
in regelmäßigen Abständen feuerte
ein automatisches Gewehr. Aufgeregt, aber glücklich
schlichen wir in Richtung Arena. Dort, so hieß
es, würde eine Polizeieinheit, die es nicht mehr
rechtzeitig rausgeschafft hatte, hartnäckig Widerstand
leisten. Etliche Verletzte hätte es gegeben,
sogar einen Toten, was allerdings niemand bestätigen
konnte. Euphorisiert vom Gedanken, an der letzten
großen Schlacht teilzunehmen, machten wir uns
auf den Weg. Anfangs mieden wir noch die großen
Straßen, aus Angst davor, von einer der zahlreichen
Überwachungskameras aufgenommen zu werden. Etwas
später warfen wir diese alberne Vorsichtsmaßnahme
über den Haufen. Bestimmt hatten irgendwelche
klugen Köpfe längst die Daten aller Brüder
und Schwestern zusammengetragen. Nein, aus dieser
Sache kamen wir sicherlich nicht mehr raus. Und –
was das Entscheidende war – wir wollten es auch
gar nicht. Die „Kampfzone“ war unser neues
Zuhause.
(mp)