„Wir sind deutscher Meister!“, titelte
die Westdeutsche. Auf Litfaßsäulen, mit
elektronischen Lettern. Wochenlang. Und über
das komplette Stadtgebiet verteilt. „Niemand
konnte uns stoppen!“ Egal wo und wann ich mein
E-Book aufschlug, überall las ich vom dritten
Titelgewinn in Folge. Nichts anderes zählte.
Die Welt hatte aufgehört zu atmen, gab sich ganz
dem Augenblick hin. „Nun lehren wir Europa das
Fürchten!“ Der Nachthimmel, hell illuminiert
durch eine gigantische Projektion der Meisterschale.
Darunter die Jahreszahlen der drei gewonnen Meisterschaften.
2027, 2028, 2029. „Wir sind stolz auf euch!“
Ausnahmezustand in der „Stadionkneipe“.
Fans aus dem gesamten Bundesgebiet versammelten sich
in unserem Refugium, tanzten, tranken und sangen,
so als gäbe es keinen Morgen.
Auch der Verein ließ sich nicht lumpen. Die
Feierlichkeiten gingen über mehrere Tage. Brot
und Spiele für die Massen. Sogar das strikte
Alkoholverbot wurde vorübergehend aufgehoben.
Zu befürchten gab es freilich wenig. Die Stimmung
war ausgelassen und friedlich. Glückliche Menschen
soweit das Auge reichte. Und ich mittendrin. Trunken
vor Freude, ohne Sinn und Verstand. Wir feierten,
als wären wir am Gewinn des Titels direkt beteiligt
gewesen, als hätten wir selbst die Gegner reihenweise
vom Platz gefegt. Ein ungeheures Gemeinschaftsgefühl
erfasste uns. Unsere Gedanken, unsere Körper
wurden eins. Kein Ich, sondern ein gewaltiges Wir.
Scheiß auf die Vergangenheit, scheiß auf
die Zukunft. Was zählte, war der Moment. Und
dieser hatte etwas Erhabenes, etwas Zeitloses. Dann
irgendwann wachten wir auf.
Wir streben nach Unsterblichkeit und finden doch bloß
unsere Begrenztheit. Zumindest mir geht es so. Nachdem
sich mein Ich wieder aus seiner klebrigen Wir-Hülle
geschält hat, überkommt mich eine große
Leere. Ich greife nach dem Glücksgefühl,
das mich die letzten Tage und Wochen beherrschte,
bekomme es aber einfach nicht zu fassen. Wie feiner
Sand rieselt es durch meine Finger. Ich staune über
mich selbst, frage mich, wie es möglich ist,
dass der köstliche Nektar von gestern heute solch
bitteren Beigeschmack hat. Verzweifelt durchleuchte
ich die finstersten Winkel meiner Seele, begebe mich
auf die Suche nach der Zauberformel, die Wasser zu
Wein und Eisen zu Gold werden lässt. Jedoch erfolglos.
Das Reich der Schatten ist einfach zu groß.
Und niemand kann mir dort sagen, ob der Gral tatsächlich
existiert.
Ich blicke aus dem Fenster meines Apartments. Graue
Wolkenfelder überziehen den abendlichen Himmel
und lassen die Projektion seltsam verschwommen erscheinen.
In weiter Ferne erheben sich die Flutlichtmasten unserer
Arena, die sich gleich Tentakeln dem Firmament entgegenstrecken.
Bei gutem Wetter kann ich von meiner Wohnung aus die
Hubschrauber beobachten, wie sie Spieler und Verantwortliche
im Stundentakt her- oder wegfliegen. Bewaffnete Wachmannschaften
patrouillieren dann an den Eingängen und passen
auf, dass kein Unbefugter das Gelände betritt.
Rein kommt nur, wer sich ausweisen kann. Da kennen
die Jungs keinen Spaß.
Ziemlich genau ein Jahr ist es her, als sich der so
genannte Mauervorfall ereignete. Irgendein armes Schwein
hatte ein Loch in den Zaun geschnitten, um sich das
Training der ersten Mannschaft anzuschauen. Nicht
einmal eine Stunde später fuhr man ihn durch
den Haupteingang wieder raus. In einem Leichenwagen.
Es sei ein Unfall gewesen, hieß es von offizieller
Seite, der stark angetrunkene Eindringling sei in
eine Baugrube gestürzt und habe sich dabei das
Genick gebrochen. Unterschiedlichste Verschwörungstheorien
machten die Runde. Einmal erhielt ich sogar Bildmaterial,
auf dem deutlich eine Einschusswunde im Kopf des Unglücklichen
zu erkennen war. Natürlich ein Fake – und
dazu noch ein schlechter.
Die Arena befindet sich auf einem riesigen Areal.
Einschließlich aller Leistungs- und Sportzentren,
der Reha-Klinik sowie sämtlicher Verwaltungsgebäude,
Bahnhöfe, Lande- und Parkplätze nimmt es
die Ausmaße einer Kleinstadt an. Angeblich stammen
die Pläne aus dem Jahr 2018, zwei Jahre bevor
die Städte zusammengelegt wurden. De facto begannen
die Arbeiten aber erst 2021. Eine mächtige Euphoriewelle
erfasste uns alle und ließ uns darüber
hinwegsehen, dass abermals eine ganze Stadt dem Erdboden
gleich gemacht wurde. Nachdem es zunächst die
Mülheimer City erwischt hatte, musste nun Bottrop
dran glauben. Binnen achtzehn Monaten entstand eine
ultra-moderne Sportstätte, die ihresgleichen
sucht. Dass solch hehres Unterfangen gewisse Opfer
verlangte, leuchtete uns allen ein. Und da Bottrop
wahrlich nicht zu den Schönheiten des Ruhrgebietes
gehörte, blieb auch die Protestbewegung in einem
überschaubaren Rahmen. Ihr Widerstand gegen die
Bauherren währte keine drei Wochen. Die Anführer
erhielten Immobilen in gehobener Lage. Das Fußvolk
gab sich mit weitaus weniger zufrieden.
Bis heute hat kaum jemand begriffen, was da mit uns
passierte. Man hatte uns zwar eine neue Identität
gegeben, uns aber der alten beraubt. Plötzlich
lebten wir alle in einer Stadt. Weit über fünf
Millionen Menschen. Im größten Moloch der
Republik. Zwar fühlten wir uns anfangs noch als
Essener, Dortmunder oder Duisburger und legten auch
großen Wert darauf, als solche wahrgenommen
zu werden. Doch tat die Regierung alles dafür,
aufsteigenden Lokalpatriotismus im Keim zu ersticken.
Wir hatten keine Chance; die Verlockungen waren einfach
zu groß. Die Politiker versprachen uns den Himmel
auf Erden und hielten in gewisser Weise sogar Wort.
Wir bekamen ein Regierungsviertel, das in einer Liga
mit dem Pentagon spielt. Sie bauten uns ein unterirdisches
Autobahnnetz, welches das tagtägliche Verkehrschaos
endlich Geschichte werden ließ. Dazu noch eine
grenzenübergreifende Innenstadt, die in ihrer
Pracht und Modernität sogar mit den asiatischen
Megatowns mithalten kann.
Die Regierung hielt uns ein paar Leckerli hin, und
wir griffen beherzt zu. Und da Politiker durchaus
schlaue Menschen sind, speisten sie uns nicht nur
mit Glasperlen und billigem Fusel ab, sondern gaben
uns vom besten Opium zu kosten. Sie ließen das
einstige Zugpferd in unserer Region wieder auferstehen.
Den Fußball. Von den Reviervereinen spielte
nach der Städtevereinigung nur noch der Vfl Bochum
in der ersten Liga, natürlich gegen den Abstieg.
Alle anderen wichtigen Klubs waren seit dem Skandal
in der Saison 2015 / 2016 mehr oder weniger von der
Bildfläche verschwunden. Da war es nahe liegend,
dem Vfl die Lizenz abzukaufen und einen ganz neuen
Verein aus dem Boden zu stampfen. Nachdem die Arena
fertig gestellt war, lockte man mit großzügigen
Gehältern Stars aus dem In- und Ausland. Das
Konzept ging voll auf. Schon in der ersten Spielzeit
erreichten wir einen respektablen sechsten Platz.
Nur eine Saison später gewannen wir den nationalen
Pokal. Der FC Ruhrstadt United hatte seine Feuertaufe
erfolgreich überstanden.
Wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht, interessierten
sich auch wieder die Menschen für Fußball.
Immer mehr kamen in die Arena und feierten ihre neuen
Helden. Es dauerte keine drei Jahre, bis der Verein
voll akzeptiert war. Erfolg macht eben sexy; leise
Zweifel waren schnell ausgeräumt. Noch heute
überkommt mich eine Gänsehaut, wenn ich
an das Spiel gegen die Eintracht aus Frankfurt zurückdenke.
Zum ersten Mal in unserer noch jungen Geschichte verkündete
der Stadionsprecher ein ausverkauftes Haus. 106.000
Zuschauer. Dicht an dicht. Das hatte es noch nie gegeben.
Ich schnalze mit der Zunge, damit sich das Fenster
automatisch verdunkelt. Meine Stimmung befindet sich
immer noch auf dem Nullpunkt. Solche Durchhänger
habe ich gelegentlich. Aber ich weiß: Je näher
der nächste Spieltag heranrückt, desto besser
geht es mir. Allein die Aussicht auf meine Droge bewirkt
für gewöhnlich Wunder. Am Wochenende spielen
wir zu Hause gegen Union Berlin. Der Saisonabschluss.
Obwohl es um nichts mehr geht, nehme ich die Partie
außerordentlich ernst. Aus einem mir unerfindlichen
Grund habe ich eine unendliche Aversion gegen die
Hauptstadt. Immer wenn ich da bin, fühle ich
mich hundsmiserabel. Nicht, dass mir jemals was passiert
wäre. Dennoch kann ich mir keinen Ort auf Erden
vorstellen, wo ich mich weniger gerne aufhalte. Ein
Sieg ist Pflicht. Alles andere hätte katastrophale
Folgen auf meinen Gemütszustand.
(mp)