Entscheide Dich, rot oder weiß! Ein grauhaariger, etwas untersetzter Herr starrt mich mit glühenden Augen an. Er hält mir seine Handflächen entgegen, auf denen zwei ovale Pillen liegen. Die eine rot, die andere weiß. Sag schon! Du hast nicht ewig Zeit. Ich bin wie paralysiert, kann keinen klaren Gedanken fassen. Mein Gegenüber wird allmählich nervös. Sein linker Mundwinkel beginnt zu zucken; auf der Stirn glitzern Schweißperlen. Wachen oder träumen? Gewinnen oder verlieren? Du musst endlich eine Entscheidung treffen, kannst Dich nicht ewig vor Deiner Verantwortung drücken. Ich konzentriere mich, gebe mir Mühe, der Situation Herr zu werden. Die rote oder die weiße Pille? Wieso muss ich mich dazwischen entscheiden? Ich nehme natürlich beide.

Es kratzt ein bisschen im Hals, nachdem ich die Kapseln hinuntergeschluckt habe. Die Gesichtszüge meines Gegenübers scheinen zu entspannen, seine Nervosität ist wie weggeblasen. Eine interessante Wahl. Nun trag' auch die Konsequenzen. Ich reibe mir verwundert die Augen, als der Fremde auf die Größe eines Kaninchens zusammenschrumpft. Langsam beuge ich mich herab, versuche, ihn im Genick zu fassen zu bekommen. Doch er hat gute Reflexe und entwischt mir durch meine Beine. Fürchte Dich nicht vor dem Abgrund. Früher oder später erwischt es uns alle. Obwohl er längst über alle Berge ist, höre ich seine Stimme. Ich denke über seine Worte nach, beobachte sie etwas argwöhnisch aus der Distanz. Sie wechseln permanent ihre Gestalt, spielen mit mir Katz und Maus. Dann ein lauter Knall. Die Worte brechen auseinander, zerfallen in bedeutungslose Zeichen. Taumel überkommt mich; ich verliere das Gleichgewicht und stürze in ewige Finsternis.

Während ich falle, bin ich Vater und Sohn, Mutter und Tochter. Ich bin Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bin Anfang und Ende. Ich bin das Kind, das bittere Tränen vergießt, als sein Verein den schweren Gang ins Unterhaus der Liga antritt. Ich bin der Teenager, der Jubelsprünge macht, als sein Verein in den bezahlten Fußball zurückkehrt. Ich bin der Mann, der nicht einmal mit der Wimper zuckt, als sein Verein den Spielbetrieb einstellt. Ich bin der Greis, der selig lächelt, als sein Verein zum wiederholten Male die Meisterschaft gewinnt. Sternenmeere ziehen an mir vorbei. In rasender Geschwindigkeit. Erinnerungen. Wahllos durcheinander gewürfelt. Ich fühle Übelkeit in mir aufsteigen, möchte die Bilder aus meinem Kopf verbannen. Doch sie sind stärker, halten mich fest mit ihren Klauenfingern. Wie wild rudere ich mit meinen Armen, flehe sie an, sie mögen mich endlich in Ruhe lassen. Vergebens! Niemand da, der mir zuhört.

Allmählich komme ich zu mir. Verdammt, denke ich. Nie wieder billiger Synthetik-Sprit aus Übersee. Das Zeug verursacht nicht nur einen höllischen Kater, sondern zermatscht einem außerdem die Birne. Wenn es so läuft wie beim letzten Mal, habe ich noch Tage später Halluzinationen, sehe womöglich wieder Fledermäuse, obwohl die Viecher schon seit Jahren ausgestorben sind. Ich wanke ins Bad, kann mich kaum auf meinen Beinen halten. Dort angekommen blicke ich in den Spiegel. Mir gegenüber steht ein alter Mann. Das Haar schütter, die Wangen eingefallen. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und greife zur Aspirin-Pumpe. Mit zittriger Hand setze ich sie an meine Halsschlagader und jage mir ihren Inhalt direkt in die Blutlaufbahn. Welch wunderbares Vergessen. Wärme durchfließt meinen Körper und vertreibt sämtliche Pein. Jetzt noch eine Tasse Kaffee, und der Tag kann beginnen.

Als ich die "Stadionkneipe" betrete, empfängt mich gähnende Leere. Außer mir hat es anscheinend noch keine Menschenseele aus ihrem Apartment geschafft. Ich setzte mich an einen Tisch und bestelle mir ein kleines Frühstück. Der Kaffee tut gut, und da sich immer noch niemand eingefunden hat, mit dem ich ein wenig plaudern könnte, laufe ich ein bisschen umher und betrachte die zahlreichen Fotografien an den Wänden. Die meisten Bilder sind in Farbe und stammen aus dem letzten Jahrtausend. Was war doch im Pott der Teufel los, nachdem Rot-Weiß Essen völlig überraschend die deutsche Meisterschaft gewonnen hatte. Kein Mensch hatte daran geglaubt. Am wenigsten die Essener selbst. Ich tauche ein in die über 100-jährige Vereinsgeschichte, erlebe noch einmal die zahlreichen Auf- und Abstiege, versetze mich in die Generationen von Fans, spüre ihre Wut, ihre Freude, als wäre sie meine eigene. Turbulente Zeiten liegen zurück – insbesondere die ersten Jahre nach dem Jahrtausendwechsel. Es war damals wie verhext. Kaum schöpfte man nach einem Sieg Hoffnung auf eine bessere Zukunft, setzte es eine unnötige Niederlage, die zerstörte, was vorher mühsam aufgebaut wurde. Und dann ging alles ganz schnell.

"Na, Fabian, schwelgst Du wieder in Erinnerungen?" Eine Hand legt sich auf meine Schulter und drückt diese leicht. "Erinnerungen!", antworte ich, ohne mich umzudrehen. "Erinnerungen sind das einzige, was uns bleibt." Ich nehme wieder Kurs auf meinen Tisch und setzte mich. Kai, dem die Hand gehört, folgt mir und nimmt auf dem Stuhl neben mir Platz. "Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, Dein Leben sei ein riesiges Museum? Man sammelt im Laufe der Jahre einen Haufen Erinnerungen an und verbringt zunehmend Zeit damit, sie zu betrachten und zu pflegen. Für Neues ist kaum noch Platz." "Mensch Fabian, wie besoffen warst Du gestern eigentlich?" Kai grinst mich an. "Diese Gefühlsduselei hast Du immer dann, wenn Du zu tief ins Glas geblickt hast. Dabei gibt's doch gar keinen Grund, so melancholisch zu sein. Die Meisterschaft ist so gut wie im Sack. Und dann die gestrige Galavorstellung. Der totale Wahnsinn! Das war das beste Spiel, das ich seit langem gesehen habe. Ach, was sage ich. Das beste Spiel, das ich jemals gesehen habe."

Kai hat Recht. Für meine Schwermut ist natürlich der Suff verantwortlich. Ich sollte mich in der nächsten Zeit etwas zügeln, allein schon deswegen, um die demnächst anfällige Lebertransplantation noch etwas hinauszuzögern. Andererseits soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Und der Kantersieg gegen unseren ärgsten Konkurrenten aus Wolfsburg musste einfach begossen werden. Fünf Spieltage vor Saisonende beträgt unser Vorsprung auf die Niedersachsen unvorstellbare vierzehn Punkte. Auch wenn uns der Titel theoretisch noch zu nehmen ist, gab es gestern kein Halten mehr. Neben den Spielern erschienen sogar einige Verantwortliche an den Plexiglasscheiben und ließen sich von uns ausgiebig feiern. Es war ein äußerst gelungener Abend. So gelungen, dass ich mir jetzt die Frage stelle, wie viele Meisterschaften es noch braucht, bis sich meine alten Wunden endlich schließen.

Ich begebe mich zurück in mein Apartment, um mich noch mal für ein paar Stunden aufs Ohr zu hauen. Der Kaffee brachte nicht den erwünschten Erfolg, machte mich schließlich noch müder, als ich es eh schon war. Im Block D bleibe ich einen Augenblick stehen. Vielleicht sollte ich einfach ein paar alte unschöne Erinnerungen auslöschen. Inzwischen gibt es dafür spezialisierte Neurologen. Ein kleiner Eingriff am Großhirn und am Hypothalamus reicht schon aus, um seine Vergangenheit in die gewünschte Form zu bringen. Kein Vergleich zu den aufwändigen Operationen von früher. Natürlich gäbe es kaum Datenverluste, da alle Erinnerungen ordentlich archiviert würden und jederzeit wieder reaktiviert werden könnten. Ich könnte eine Menge unliebsames Zeugs aus meinem Gehirn eliminieren, so zum Beispiel den Auswärtsflug nach München. Vielleicht nicht das Spiel, aber zumindest den Unfall auf dem Weg zur Landestelle.

Ich steige in den Fahrstuhl und fahre hoch zum Block L, wo sich mein Apartment befindet. Schnell verwerfe ich den Gedanken, bestimmte Erinnerungen einfach auszulöschen. Das wäre totaler Quatsch. Immerhin hat es mich eine Stange Geld gekostet, in eine steingewordene Erinnerung einzuziehen. Als bekannt wurde, dass das Georg-Melches-Stadion abgerissen würde, nahm ich dies mit einer seltsamen Gleichgültigkeit hin. Erst Jahre später besann ich mich auf die schönen (und weniger schönen) Zeiten an der Hafenstraße und erwarb eines der neuen Apartments auf dem ehemaligen Stadiongelände. Ich war nicht der einzige Fan, der diese Idee hatte. Und so lebe ich seit geraumer Zeit in einer rot-weißen Enklave, deren Bewohner die Stockwerke nach den früheren Blöcken benannt und das Bistro im Erdgeschoss liebevoll "Stadionkneipe" getauft haben. Zusammen halten wir das Andenken an Herrn Melches in Ehren, wenngleich unser Herz längst für einen anderen Verein schlägt.


(mp)