„Los, bewegen Sie endlich Ihren Arsch!“,
schreit mich die hünenhafte Dame von der Security
an. „Wenn Sie nicht bald einsteigen, kann ich
nicht mehr für Ihre Sicherheit garantieren.“
Ich blicke mich um, sehe in einiger Entfernung vermummte
Gestalten, die sich uns schnell nähern. Obwohl
meine Augen nicht mehr die besten sind, und ich seit
Jahren überlege, sie durch hochwertigeres Material
zu ersetzen, kann ich deutlich die metallenen Schlagringe
an ihren Fingern erkennen. Eine etwas altmodische
Waffe, schießt es mir durch den Kopf, aber sehr
effektiv. Wessen Gesicht einmal Bekanntschaft mit
solch einem Ring gemacht hat, wird dies sein Leben
lang nicht vergessen. Instinktiv fasse ich an meine
Stirn, fahre mit meiner Hand über altes Narbengewebe.
„Nun machen Sie doch. Sie gefährden nicht
nur Ihre eigene Gesundheit, sondern auch die der anderen
Gäste.“ Bevor ich reagieren und in den Bus
steigen kann, bekomme ich einen kräftigen Stoß
von hinten. Ich stolpere in den Innenraum des Gefährts
und suche bei ein paar herumstehenden Leuten halt.
Die Türen schließen sich; der Bus fährt
los. Ich schaue aus dem Fenster, erwarte, dass uns
die Vermummten folgen oder mit Steinen bewerfen. Doch
Fehlanzeige, der Spieß hat sich inzwischen gedreht.
Nun sind sie es, die davon rennen. Blaurotes Sirenengeheul.
Mehrere Einsatzwagen rasen an uns vorbei. Ich verdrehe
meinen Kopf, möchte noch ein wenig an dem Spektakel
teilhaben. Der Busfahrer nimmt darauf jedoch keine
Rücksicht. Er biegt in eine Nebenstraße
und überlässt den Ausgang der Begegnung
meiner Fantasie.
„Das ist ja fast so wie früher.“, giftet
ein merklich angetrunkener Herr neben mir. „Seitdem
sie die Auflagen aufgelockert haben und wieder Unterprivilegierte
in die Stadien lassen, herrschen Chaos und Gewalt.
Es ist schon traurig, dass man als Zuschauer eines
harmlosen Fußballspiels wieder um sein Leben
fürchten muss.“ „Jetzt übertreiben
Sie mal nicht.“, entgegne ich ihm. „Sie
scheinen vergessen zu haben, was früher so abging.
Ich erinnere mich an Spiele, da wurden im Vorfeld
reihenweise aktenkundige Randalierer aus dem Verkehr
gezogen oder ganze Stadtteile abgeriegelt. Wenn mich
mein Gedächtnis nicht trügt, musste sogar
mal eine gesamte Diskothek geräumt werden, weil
unter den Gästen federführende Krawallmacher
vermutet wurden. Nein, nein, diese paar Rotznasen
mit ihren albernen Mundschützen und Retro-Schlagringen
sind kein Vergleich zu früheren Erlebnisorientierten.“
Während sich der Bus seinen Weg zu unserer Landestelle
bahnt, rekapituliere ich die entscheidenden Szenen
des Spiels. Julian Klose, Sohn des amtierenden Weltmeisters
Miroslav Klose - was ihm als Spieler nie gelang, schaffte
er im letzten Jahr als Trainer der indischen Nationalmannschaft
- befindet sich seit Wochen in einer herausragenden
Form. Ihm allein haben wir es zu verdanken, dass wir
auch das 27. Auswärtsspiel in Folge ungeschlagen
geblieben sind. Er markierte nicht nur den einzigen
Treffer am heutigen Abend, sondern verantwortete auch
die taktisch-kluge Dezimierung unseres Gegners. Einem
doch ziemlich rüden Foul seinerseits war es nämlich
zu verdanken, dass Dorian Süßkind, gefährlichster
und erfolgreichster Stürmer der laufenden Saison,
mit Verdacht auf Bänderriss ausgewechselt werden
musste. Inzwischen beträgt unser Vorsprung auf
den Zweitplatzierten beruhigende elf Punkte, sodass
uns die dritte Meisterschaft hintereinander acht Spieltage
vor Saisonende kaum noch zu nehmen ist.
Schon von weitem höre ich die kreischenden Rotorblätter
unseres Helikopters. Gedankenverloren lehne ich meinen
Kopf gegen das Fenster, atme die Alkoholausdünstungen
meines Nachbarn und hoffe, dass es während unseres
Heimflugs zu keinerlei Turbulenzen kommt. Aus den
Augenwinkeln mustere ich den Fremden, frage mich,
wer dieser Kerl ist. Um im Stadion Alkohol trinken
zu dürfen, muss man entweder ein hohes Tier sein
oder verdammt gute Beziehungen haben. Wahrscheinlich
ist er Politiker oder Funktionär oder beides.
Sein Gesicht ist mir nicht bekannt, was allerdings
nichts zu bedeuten hat, da es sein könnte, dass
dies gar nicht sein richtiges Gesicht ist.
Wir starten mit rund 60-minütiger Verspätung.
Schuld daran hat der zweite Bus. Wie mir berichtet
wird, hat es doch noch einige Ausschreitungen unweit
des Münchener Stadtzentrums gegeben. Der Fahrer
und die Passagiere wähnten sich schon in heimatlichen
Gefilden, als plötzlich gut drei Dutzend Krawallmacher
auftauchten und den Bus am Weiterfahren hinderten.
Einige Spaßvögel erklommen das Dach und
schwenkten dort mit ihren Fahnen. Dies alles wäre
kaum der Rede wert gewesen, hätte der Fahrer
nicht überreagiert und einen dummen Fehler begangen.
Bei seinem Versuch, die ungebetenen Gäste wieder
los zu werden, verlor einer der armen Idioten das
Gleichgewicht und geriet sprichwörtlich unter
die Räder. Er starb angeblich noch an der Unfallstelle.
Die Polizei war mit der Situation absolut überfordert,
und so dauerte es eine ganze Weile, bis ein Ersatzbus
eintraf, der die verstörten Gästefans endlich
zum Hubschrauberlandeplatz bringen konnte.
Der Flug verläuft ruhig. Um mich herum betretenes
Schweigen. Die meisten halten es wohl aus Pietätgründen
für angebracht, weder den tragischen Vorfall
zu erwähnen noch sonst irgendwie Konversation
zu betreiben. Überall sehe ich betretene Mienen.
Mit so etwas hat hier kein Mensch gerechnet. Das sprengt
sämtliche hypothetische Untergangsszenarien.
Eine Niederlage in München wäre zwar theoretisch
möglich gewesen, aber daran geglaubt hat eigentlich
niemand. Einschließlich mir. Schon ein Unentschieden
hätte für einiges Staunen gesorgt. Immerhin
befinden sich die Bayern trotz ihres Goalgetters Süßkind
seit Beginn der Saison im Tabellenkeller. Dass man
aber im Rahmen eines Fußballspiels mit der Endlichkeit
allen Daseins konfrontiert wird, entzieht sich nicht
nur der Vorstellungskraft, sondern muss in gewisser
Weise auch als absurd bezeichnet werden. Schließlich
investiert man viel Geld und Zeit, um solch existentiellen
Quatsch einfach mal zu vergessen, und nicht, um ihn
sich bewusst zu machen.
Ich verspüre ein leichtes Kribbeln in meiner
Magengegend. Das passiert immer, wenn die Landung
kurz bevorsteht. Wir müssen die Stadtgrenzen
bereits überflogen haben. Angestrengt starre
ich auf den flachen Bildschirm über mir, suche
nach Anhaltspunkten, durch die ich unsere Position
genauer bestimmen kann. Glas und Beton. Hell erleuchtet.
Wir durchfliegen gerade die endlosen Hochhausschluchten
des neuen Verwaltungsbezirks. „Hier habe ich
mal gewohnt“, flüstert mir eine etwa gleichaltrige
Dame ins Ohr. „Ganz in der Nähe des Forums.
Ich habe immer schon in Mülheim gelebt, bin in
der ganzen Zeit nur ein einziges Mal umgezogen. Doch
dann rollten die Bagger an, und wir mussten unsere
Häuser räumen. Wissen Sie, ich finde es
ja nicht verkehrt, dass die Städte zusammengelegt
wurden, bin deswegen sogar das erste Mal in meinem
Leben wählen gegangen. Hätte ich jedoch
vorher gewusst, dass man dafür die ganze Innenstadt
plättet, hätte ich mein Kreuzchen garantiert
an einer anderen Stelle gemacht.“
Ich bin froh, wieder festen Boden unter meinen Füßen
zu spüren. Das Taxi wartet bereits an der Landestelle.
Mit wackeligen Beinen steige ich ein. „Wohin
soll’s denn gehen, Meister?“ „Zur Hafenstraße.“,
antworte ich. „Hafenstraße 97a.“ Schnell
sind wir unter der Erde, verlassen Stadtbahn 3 an
der Ausfahrt Alt-Essen Nord. Von hier aus braucht
es nur noch ein paar Minuten, bis zu meinem Apartment.
Ich überlege, wie ich den heutigen Tag beschließen
werde. Erst einmal heiß duschen. Danach genehmige
ich mir einen Malt. Vielleicht auch einen zweiten.
Immerhin sind wir heute das 27. Mal in Folge auswärts
ungeschlagen geblieben.
(mp)