10.06.2019

Von "Krachern", Euphorie und Erwartungshaltung... - Ein Kommentar

von Dominik Gsell

Wenn man als Rot-Weiss Essen-Fan in der Sommerpause von Leuten auf den Verein angesprochen wird, die in der Regel nicht mal wissen, in welcher Liga RWE gerade spielt, muss etwas besonderes passiert sein.

Am letzten Mittwoch war es wieder so weit, denn mit Christian Titz konnte ein echter "Kracher" (sogar BILD berichtet) für die rot-weisse Trainerbank verpflichtet werden. Im Kader findet außerdem gerade ein großer Umbruch statt, denn auch dort werden "Kracher" verpflichtet, bei denen RWE dem Vernehmen nach in einem Fall sogar zwei Drittligisten ausstechen konnte. "Wir wollen nicht um den Abstieg spielen, sondern uns an der oberen Tabellenregion orientieren.", sagt der Trainer bei seiner Vorstellung und klingt dabei angenehm bodenständig - immerhin steht gerade mal etwas mehr als der halbe Kader.

Für einige Fans stellt sich angesichts des konsequenten "Ausmistens" verbunden mit der Verpflichtung gestandener Regionalliga-Größen durch den neuen, bereits in Oberhausen erfolgreichen Sportdirektor jedoch bloß noch die Frage, ob es zur Relegation 2020 nach Cottbus, Erfurt oder doch nach Leipzig geht. Die entstandene "Kracher"-Euphorie dürfte im Hinblick auf den Dauerkarten-Verkauf zwar äußerst nützlich sein, doch wenn selbst die Regionalliga-Konkurrenz (diesmal in Form von Lottes Trainer Atalan) sich beeindruckt zeigt und die Favoritenrolle (mal wieder!) nach Essen schiebt, dann ist es höchste Zeit, an die vergangenen Jahre zu erinnern, bevor die ganze Euphorie nach dem ersten 0:0 gegen den SC Verl oder Fortuna Düsseldorf II wieder in Enttäuschung und Pfeifkonzerte umschlägt.

Sommer 2013: Nach einem guten vierten Platz in der Abschlusstabelle verstärkt sich Rot-Weiss Essen unter anderem mit den Regionalliga-Krachern Christian Knappmann, Marcel Platzek, Alexander Langlitz und Benjamin Wingerter. Am Ende der Saison 2013/2014 wird der Aufstieg nur knapp verpasst - durch ein 1:0 am letzten Spieltag über die Sportfreunde Siegen schiebt sich RWE an Düsseldorf II vorbei auf Tabellenplatz 9...

Sommer 2014: Mit Harttgen und Fascher sind endlich Profis am Werk, die den Kader mal so richtig ausmisten - diesmal werden mit Benjamin Baier, Mario Neunaber, Patrick Huckle und Tobias Steffen auch richtige Kracher verpflichtet, die RWE zur Herbstmeisterschaft führen. Tabellenplatz 6 stellt die Fans letztlich absolut zufrieden, verpasst man den Aufstieg doch nur um 13 Punkte...

Sommer 2015: Wieder ein Neuanfang, die Kracher Jeffrey Obst (für den sogar Ablöse gezahlt wird), Moritz Fritz, Kasim Rabihic, Gino Windmüller und Kevin Behrens verstärken das Grundgerüst (Baier, Zeiger, Platzek, Grund) des Herbstmeisters aus der Vorsaison. Mit etwas mehr Spielglück hätte es zum ganz großen Wurf gereicht, doch die Sportfreunde Lotte bringen die 35 Punkte Vorsprung auf RWE etwas glücklich ins Ziel und werden Meister.

Sommer 2016: Timo Brauer kehrt zurück! Kamil Bednarski kommt aus Wiedenbrück, Dennis Malura konnte bei Viktoria Köln überzeugen und Jan-Steffen Meier war das Herzstück der Wattenscheider Überraschungsmannschaft. Außerdem kommt mit Roussel Ngankam der Rohdiamant aus den deutschen Jugendauswahlmannschaften. Mit diesen absoluten Krachern wird RWE: Fünfter, 17 Punkte hinter Meister Viktoria Köln...

Sommer 2017: Jubel über einen echten Kracher - David Jansen kommt von Viktoria Köln! Mit Drittliga-Stammspieler Robin Urban und Kai Pröger (der sich ausnahmsweise wirklich als Kracher entpuppt) können zwei weitere Top-Verpflichtungen die eingespielte Truppe verstärken und RWE verdoppelt sein Ergebnis: Aus Platz 5 wird Platz 10...

Sommer 2018: Trainer Karsten Neitzel - der schon Holstein Kiel eine Liga höher in die Aufstiegsrelegation geführt hatte - kann unter anderem mit Lukas Raeder, Daniel Heber und Kevin Freiberger ein paar echte Kracher an Land ziehen und RWE grüßt nach 6 Spieltagen von der Tabellenspitze. Am Ende ist RWE Achter mit 21 Punkten Rückstand auf die Tabellenspitze und Karsten Neitzel entlassen.


Keineswegs soll an dieser Stelle der rot-weisse Pessimismus beschworen werden, ganz im Gegenteil: Natürlich sollte jeder Fan optimistisch in die neue Saison gehen, doch nachdem es RWE in einem knappen Jahrzehnt nicht ein einziges mal unter die Top 3 der Regionalliga geschafft hat, bleibt die Hoffnung auf den großen Wurf mit einer völlig neu zusammen gewürfelten Truppe zunächst bloßes Wunschdenken. Erfolge bei vorherigen Stationen hatten auch die Regionalliga-Meister Marc Fascher und Sven Demandt - höherklassig gekickt haben unzählige der gescheiterten Kicker der vergangenen Jahre. Wer kann schon die tatsächliche Qualität unserer Neuzugänge aus den anderen Regionalligen beurteilen?

Die Forderung RWE solle seine Aufstiegsambitionen offensiv formulieren, bringt nicht einen Punkt mehr in der Endabrechnung. Auch ohne Viktoria Köln gibt es in Form von Rödinghausen, Oberhausen, Aachen, den Zweitvertretungen aus Dortmund und Gladbach oder den Absteigern Fortuna Köln und Lotte starke Konkurrenz mit teils eingespielten Teams. Es wäre daher wünschenswert, dass Christian Titz Zeit bekommt, eine Spitzenmannschaft zu formen und die neue Mannschaft nicht mit der Erwartungshaltung überfrachtet wird, die schwierige Liga zu dominieren. Wenn es dann tatsächlich zum Aufstieg reichen sollte oder zumindest lange oben mitgespielt werden kann, bleibt noch genug Zeit, in Euphorie auszubrechen!