Zwischen Tradition und Moderne
"Damals waren wir für die Regionalliga
einfach zu gut und für die erste Liga zu schwach.
So war für den Zuschauer immer was los. Entweder
Aufstiegs- oder Abstiegskampf", erinnert sich
"Ente" Lippens im Reviersport-Sonderheft
"100 Jahre Rot-Weiss Essen" an seine Zeit
als Aktiver Anfang der siebziger Jahre.
Fast scheint es, als sei die Zeit stillgestanden.
Noch heute ist RWE ein Fahrstuhlclub. Nur dass man
jetzt zwischen zweiter und dritter Liga pendelt und
die Chancen auf einen Platz im Fußball-Oberhaus
gleich null sind.
Und das, obschon in den vergangenen Jahren viel Geld
investiert wurde, um zunächst auf- und dann nicht
sofort wieder abzusteigen. Spieler wurden gekauft,
verkauft, ausgeliehen, suspendiert, nicht weniger
als acht Trainer standen in den vergangenen fünf
Jahren verantwortlich an der Seitenlinie.
Fragt man Werner Kik, einen der RWE-Bundesligaspieler
der ersten Stunde, nach der Meistermannschaft von
1955, er könnte von A wie August Gottschalk bis
W wie Willi Köchling vermutlich noch heute alle
im Schlaf aufsagen. So wie die meisten Fans sich genau
an "ihre" Mannschaften erinnern werden.
Für die einen ist es der legendäre Sturm
aus den Siebzigern mit Burgsmüller, Lippens und
später Mill und Hrubesch, für die nächsten
die 93er-Truppe um Frankie Kurth, Joschi Margref,
Ingo Pickenäcker, "Haken-Olli" Grein,
Dondera, Bangoura und wie sie alle hießen ...
"Der Fan durfte damals immer das Gefühl
haben, da stehen ein paar auf dem Platz, die leben
den Verein, die arbeiten für RWE, die sind der
Club", meint "Putsche" Helmig, auch
so ein RWE-"Urgestein", der seine Karriere
als Jugendspieler bei RWE und Schuhputzer der Profis
begann.
Wenn man in zehn, zwanzig, dreißig Jahren jemanden
nach der Elf von 2006 oder 2007 fragen wird, an wen
wird er sich erinnern? Bemben, Zaza, Kläsener?
Özbek, Calik, Kiskanc? Wer ist aktuell der Kopf
auf dem Platz, wer reißt die anderen mit und
sich selbst bedingungslos den Hintern für RWE
auf? Man kann der jetzigen Mannschaft nicht absprechen,
sich redlich zu bemühen. Doch langt das?
Es fehlt eine Leitfigur. Für die Spieler, vor
allem aber für die Fans. Putsche Helmig und Frankie
Kurth waren welche, Ente Lippens und Werner Kik auch.
Zuletzt Erwin Koen, der langjährige Linksaußen
und Bjarne Goldbaek, der dänische Mittelfeldmotor,
den die Liebe zum Ruhrpott und seinen Menschen von
London nach Gladbeck ziehen ließ. Ali Bilgin,
der gebürtige Bergeborbecker hätte eine
werden können. Nun jagt ihn die halbe türkische
Liga.
Der echte "Hafenstraßen-Roar", die
bedingungslose Aneinanderkettung von Fans und Mannschaft
- unheilvoll mitzerstört durch die unsägliche
Blocktrennung - wird erst dann wieder in volle Blüte
treten, wenn sich der RWE-Anhänger auf der Tribüne
mit dem Team total identifizieren kann. Das kann niemals
passieren, wenn man alle zwei Jahre eine völlig
runderneuerte Mannschaft vorgesetzt bekommt. Kontinuität
ist wichtig. "Stallgeruch" auch. Warum nicht
mal längerfristig auf die Jugend setzen? Özbek
und Calik haben bewiesen, dass sie sich durchsetzen
können, auch wenn sie noch Zeit zur Entwicklung
brauchen werden.
Stallgeruch bringen auch die zahlreichen verdienten
RWE-Spieler mit, die sich in den Medien mehrfach angeboten
haben, für den Verein aktiv werden zu wollen.
Warum nicht alte Kontakte nutzen, manchen Graben zuschütten
und die großen Namen vergangener Zeiten einbinden?
Von einem Otto Rehhagel, Willi Lippens oder auch Frank
Kurth können die jungen Leute unendlich viel
lernen. Und wenn es nur ein Besuch beim Training der
A-Jugend wäre mit dem Tenor: "Schaut her,
bei RWE kann man wirklich was bewegen!" Selbst
ETB-Trainer Frank Kontny, als Sportlicher Leiter an
der Hafenstraße oft geschmäht, könnte
mit seinem Näschen für junge Fußballtalente,
bewiesen nicht nur durch das Entdecken und Fördern
der Altintop-Zwillinge in Wattenscheid, dem Verein
gute Dienste erweisen.
Um etwas zu bewegen, braucht ein Verein ein solides
Management. Die Zeiten der Gebrauchtwagen- und Gemüsehändler,
der falschen Doktoren sind Gott sei Dank passé.
Dank Rolf Hempelmann, der als Präsident im Licht
der Öffentlichkeit steht, und Nico Schäfer,
der als kluger Kaufmann im Hintergrund die wirtschaftlichen
Geschicke lenkt, steht der Verein auf einer guten
Grundlage. Doch wo liegt die sportliche Kompetenz
in der Vereinsführung? Wer kann Erfolg oder Misserfolg
der angestellten Sportlichen Leitung oder des Trainers
evaluieren? Auch hier liegt ein mögliches Betätigungsfeld
für ehemalige Rot-Weiße.
Zu einem Geburtstag - einem runden zumal - wünscht
man in aller Regel Glück. Doch was, wenn der
Jubilar wir alle sind? Schließlich sind wir
alle RWE, "vom rotznasigen Bengel zum tatterigen
Greis, und selbst der Kerl im BMW ist heute irgendwie
rot-weiß". Wünschen wir uns also etwas
handfesteres: Wünschen wir uns eine Mannschaft,
die uns mitreißt, uns mitnimmt, uns jubeln und
trauern, aber niemals kalt lässt. Wünschen
wir uns Originale wie Sirenen-Willi, Glockenhorst
oder Lothar. Wünschen wir uns, dass in den Teams,
die das RWE-Signet auf der Brust tragen, das gemeinsame
Ziel alle persönlichen Fehden hinten an stehen
lässt. Wünschen wir uns eine gute Zusammenarbeit
zwischen Vereinsführung, Trainerstab und Sportlicher
Leitung. Wünschen wir uns denkwürdige Spiele
gegen würdige und fragwürdige Gegner. Wünschen
wir uns Erfolg. Wünschen wir uns weitere 100
Jahre und noch mehr - immer wieder RWE!
Thomas Mollen