25.09.2013

Masse ist nicht gleich Klasse - Ein Kommentar

von Michael Jaskolla

Fußballinteressierte Zuschauer, die am Dienstagabend das Live-Spiel auf Sport1 verfolgt haben und mit der Regionalliga West nicht sonderlich vertraut sind, werden sich ob der schlechten Stimmung gegen die eigene Mannschaft gewundert haben: Steht RWE etwa erneut kurz vor dem sportlichen und finanziellen Exitus? Könnte man meinen, denn selbst in den schlechtesten Abstiegsjahren kam es nicht zu solchen Szenen wie in Velbert oder gegen Wattenscheid.

Was ist eigentlich passiert? Zum ersten Mal seit Wrobels Amtsantritt droht das Saisonziel verpasst zu werden. Die Mannschaft steht nach zehn Spielen im Mittelfeld der Liga und spielt dabei keinen guten Fußball. Schon seit dem dritten Spieltag wird die Entlassung des Trainers gefordert und inzwischen wird die auch Mannschaft von den eigenen Anhängern verhöhnt.

Um es direkt zu betonen: Zufrieden ist derzeit niemand. Es gibt gute Gründe dafür, eine Trainerdiskussion zu führen und die Taktik, Personalpolitik etc. zu hinterfragen, ganz klar. Dieser Kommentar hat deshalb nicht zum Ziel, eine solche Diskussion zu unterdrücken, sie ist legitim und vielleicht sogar notwendig. Es geht viel mehr um die Art und Weise, mit der man seinen Unmut zum Ausdruck bringt:
Das derzeitige Fan-Verhalten im Stadion konterkariert alles, was den „Mythos Hafenstraße“ ausmacht! Der beliebte Westkurven-Gesang „Wir steh´n zu dir, scheiß auf Liga vier!“ scheint mit einer zeitlich begrenzten – und inzwischen abgelaufenen – Gültigkeit versehen oder nur eine inhaltsleere Phrasenhülle gewesen zu sein. Selbst in den sportlich noch so desolaten Jahren mit satten Altstars und katastrophalen internen Strukturen war eine so früh aufkommende und dauerhaft anhaltende Antipathie der eigenen Mannschaft gegenüber während der Spiele nicht gegeben.

Erinnerungen werden wach an frühere Krisenzeiten, zum Beispiel an Koblenz 2007 unter Lorenz-Günther Köstner, dessen Methoden das Fanlager spalteten. In einer der spielerisch wohl übelsten Zweitligapartien aller Zeiten führte eine Kopfball-Bogenlampe von Boskovic nicht nur zu einem glücklichen 1:0-Auswärtsieg, sondern auch zu einem geradezu ekstatischen Jubel in der Gästekurve. Unabhängig davon, was für große Missstände im sportlichen und administrativen Bereich damals im Verein herrschten, und völlig egal, ob man der Pro- oder Anti-Köstner-Fraktion angehörte, an erster Stelle standen die drei Punkte für den Verein, auch wenn sie mit Anti-Fußball geholt wurden! In Velbert dagegen musste man sich fast schon dafür rechtfertigen, wenn man sich über den Last-Minute-Siegtreffer durch Knappmann tatsächlich gefreut hat.

Auch in der Saison 2000/2001 war der Frust groß. Altinternationale wie Andrej Polunin oder Marinho Carrilho trugen ihr Trikot auf dem Platz spazieren und führten den ambitioniert gestarteten Verein in die Abstiegszone der Regionalliga. Im Heimspiel gegen Uerdingen blieb der Block K in den ersten 15 Minuten aus Protest gegen die schwachen Leistungen leer. Die Message kam an und Uerdingen wurde mit einer 3:0-Packung nach Hause geschickt, Fans und Mannschaft feierten. Stiller Protest statt Häme, Freude über eigene Treffer statt Pfiffe gegen die eigene Tormusik, Jubel über drei Punkte anstatt Ärger wegen des Sieges, weil der ungeliebte Trainer so im Amt bleibt – es gibt also auch andere erfolgreiche Arten von Protest als die derzeitig angewandten.

Heute muss die Mannschaft in den Spielen nicht einfach nur ohne Unterstützung auskommen, sondern auch noch gegen die eigenen Fans arbeiten. Warum eigentlich, wenn man doch den Trainer als Hauptverantwortlichen ausgemacht hat? Die Mannschaft scheint jedenfalls intakt zu sein, sonst wäre sie nicht schon dreimal nach einem 0:2 zurückgekommen, und zwar teilweise wie erwähnt inmitten der kontraproduktiven Stimmung.

Inzwischen könnte ich nicht mal mehr ausschließen, dass am kommenden Samstag der Jubel nach einem möglichen Schalke-Tor in der Rot-Weissen Kurve lauter ausfällt als unter den Blauen. Ich hoffe, ich werde mich über einen ebenso möglichen glücklichen Sieg auch freuen können ohne gleichzeitig kritische Blicke zu empfangen, die einem das Gefühl geben, man würde sich moralisch verwerflich verhalten, wenn man in der augenblicklichen Situation der Mannschaft zujubelt.

Es ist nicht nur die Mannschaft, die in der noch jungen Saison ein trauriges Bild abgibt. Masse bedeutet auch auf den Tribünen nicht zwangsläufig Klasse.