Masse ist nicht gleich Klasse - Ein Kommentar
Fußballinteressierte Zuschauer, die am Dienstagabend das Live-Spiel auf Sport1 verfolgt haben und mit der Regionalliga West nicht sonderlich vertraut sind, werden sich ob der schlechten Stimmung gegen die eigene Mannschaft gewundert haben: Steht RWE etwa erneut kurz vor dem sportlichen und finanziellen Exitus? Könnte man meinen, denn selbst in den schlechtesten Abstiegsjahren kam es nicht zu solchen Szenen wie in Velbert oder gegen Wattenscheid.
Was ist eigentlich passiert? Zum ersten Mal seit Wrobels Amtsantritt
droht das Saisonziel verpasst zu werden. Die Mannschaft steht nach zehn
Spielen im Mittelfeld der Liga und spielt dabei keinen guten Fußball.
Schon seit dem dritten Spieltag wird die Entlassung des Trainers
gefordert und inzwischen wird die auch Mannschaft von den eigenen
Anhängern verhöhnt.
Um es direkt zu betonen: Zufrieden ist derzeit niemand. Es gibt gute
Gründe dafür, eine Trainerdiskussion zu führen und die Taktik, Personalpolitik
etc. zu hinterfragen, ganz klar. Dieser Kommentar hat deshalb nicht zum
Ziel, eine solche Diskussion zu unterdrücken, sie ist legitim und
vielleicht sogar notwendig. Es geht viel mehr um die Art und Weise, mit
der man seinen Unmut zum Ausdruck bringt:
Das derzeitige Fan-Verhalten im Stadion konterkariert alles, was den
„Mythos Hafenstraße“ ausmacht! Der beliebte Westkurven-Gesang „Wir
steh´n zu dir, scheiß auf Liga vier!“ scheint mit einer zeitlich
begrenzten – und inzwischen abgelaufenen – Gültigkeit versehen oder nur
eine inhaltsleere Phrasenhülle gewesen zu sein. Selbst in den sportlich
noch so desolaten Jahren mit satten Altstars und katastrophalen internen
Strukturen war eine so früh aufkommende und dauerhaft anhaltende
Antipathie der eigenen Mannschaft gegenüber während der Spiele nicht
gegeben.
Erinnerungen werden wach an frühere Krisenzeiten, zum Beispiel an
Koblenz 2007 unter Lorenz-Günther Köstner, dessen Methoden das Fanlager
spalteten. In einer der spielerisch wohl übelsten Zweitligapartien aller
Zeiten führte eine Kopfball-Bogenlampe von Boskovic nicht nur zu einem
glücklichen 1:0-Auswärtsieg, sondern auch zu einem geradezu ekstatischen
Jubel in der Gästekurve. Unabhängig davon, was für große Missstände im
sportlichen und administrativen Bereich damals im Verein herrschten, und
völlig egal, ob man der Pro- oder Anti-Köstner-Fraktion angehörte, an
erster Stelle standen die drei Punkte für den Verein, auch wenn sie mit
Anti-Fußball geholt wurden! In Velbert dagegen musste man sich fast
schon dafür rechtfertigen, wenn man sich über den
Last-Minute-Siegtreffer durch Knappmann tatsächlich gefreut hat.
Auch in der Saison 2000/2001 war der Frust groß. Altinternationale wie
Andrej Polunin oder Marinho Carrilho trugen ihr Trikot auf dem Platz
spazieren und führten den ambitioniert gestarteten Verein in die
Abstiegszone der Regionalliga. Im Heimspiel gegen Uerdingen blieb der
Block K in den ersten 15 Minuten aus Protest gegen die schwachen
Leistungen leer. Die Message kam an und Uerdingen wurde mit einer
3:0-Packung nach Hause geschickt, Fans und Mannschaft feierten. Stiller
Protest statt Häme, Freude über eigene Treffer statt Pfiffe gegen die
eigene Tormusik, Jubel über drei Punkte anstatt Ärger wegen des Sieges,
weil der ungeliebte Trainer so im Amt bleibt – es gibt also auch andere
erfolgreiche Arten von Protest als die derzeitig angewandten.
Heute muss die Mannschaft in den Spielen nicht einfach nur ohne
Unterstützung auskommen, sondern auch noch gegen die eigenen Fans
arbeiten. Warum eigentlich, wenn man doch den Trainer als
Hauptverantwortlichen ausgemacht hat? Die Mannschaft scheint jedenfalls intakt zu sein, sonst wäre sie nicht
schon dreimal nach einem 0:2 zurückgekommen, und zwar teilweise wie
erwähnt inmitten der kontraproduktiven Stimmung.
Inzwischen könnte ich nicht mal mehr ausschließen, dass am kommenden
Samstag der Jubel nach einem möglichen Schalke-Tor in der Rot-Weissen
Kurve lauter ausfällt als unter den Blauen. Ich hoffe, ich werde mich
über einen ebenso möglichen glücklichen Sieg auch freuen können ohne
gleichzeitig kritische Blicke zu empfangen, die einem das Gefühl geben,
man würde sich moralisch verwerflich verhalten, wenn man in der
augenblicklichen Situation der Mannschaft zujubelt.
Es ist nicht nur die Mannschaft, die in der noch jungen Saison ein
trauriges Bild abgibt. Masse bedeutet auch auf den Tribünen nicht
zwangsläufig Klasse.