Der Kreis hat sich geschlossen: am 22.05.2004 fegte eine begeisternd aufspielende RWE-Mannschaft die Zweitvertretung von Schalke mit 7:0 aus dem Lorheide-Stadion und sicherte damit den Aufstieg in die 2. Liga. An diesem Tag war für jeden klar, dass der Verein auf der Woge der Begeisterung zu neuen Ufern getragen würde. Treue Fans, neue Anhänger und zusätzliche Sponsoren würden die wirtschaftliche Gesundung ermöglichen.

Das erfahrene Team auf der Geschäftsstelle würde eine konkurrenzfähige Mannschaft zusammenstellen. Die herannahende 100-Jahr-Feier würde zusätzliche Aufmerksamkeit und Mittel mobilisieren. Der Aufschwung im Verein und in der Region würde den baldigen Bau des neuen Stadions ermöglichen. „Das Wunder von Bern“ kam in die Kinos und bei geschickter Ausnutzung dieses kostenlosen Marketings wäre RWE in aller Munde.

Knapp fünf Jahre später kann man nach einer demütigenden Niederlage gegen den Nachwuchs der Erzrivalen den Aufstieg aus der 4. Liga abschreiben, nach fünf Trainerwechseln spielt immer noch und wieder ein Team im GMS, das die Ansprüche der Fans nicht erfüllt, wirtschaftlich ist der Verein kein Stück vorangekommen und das neue Stadion hängt zumindest am seidenen Faden. Die jüngsten Stellungnahmen der Stadtspitze zaubern zwar einen Silberstreifen an den Horizont, doch enthebt das die Leitung des Vereins nicht von der Pflicht, ihre Hausaufgaben zu machen.

Ist es denkbar, dass wir es an der Hafenstraße mit Problemen zu tun haben, die tiefer reichen als eine Kaderzusammenstellung oder taktische Anweisungen durch den jeweiligen Trainer?

Wie kann es sein, dass insgesamt mehr als 100 Spieler unter sechs verschiedenen Trainern und drei verschiedenen sportlichen Leitern konsequent im entscheidenden Moment versagen? Woran liegt die zunehmende Entfremdung zwischen der immer noch schier unglaublichen Anzahl von Anhängern und den jeweiligen Mannschaften? Kann es sein, dass nicht alle Beteiligten die gleichen Ziele anstreben?

Im SPIEGEL vom 8.12.2008 war zu lesen: „Man redet in der Bundesliga zwar gern von der Markenbildung, das Spiel der Mannschaft selbst aber scheint nicht dazuzugehören. Um das Knäuel von Inhalt und Präsentation zu entwirren, müssten die Clubs jedoch wissen, wofür sie eigentlich stehen.“ Das scheint auch bei RWE die große Frage zu sein.

Es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: „Wofür steht eigentlich der Verein Rot-Weiss Essen?“


Bei der Beantwortung der Frage offenbart sich eine erstaunliche Differenz zwischen dem eigenen Anspruch und der Außenwahrnehmung, wobei letztere fraglos näher an den Tatsachen ist. Man kann die empfundene Position des Vereins und das, was er derzeit wirklich ist, plakativ mit anderen bekannten Marken charakterisieren.

Wenn er ein Auto wäre, dann käme er als Opel daher – eigentlich kerngesund und nur wegen der Machenschaften anderer in einer vorübergehenden Krise. Tatsächlich erinnert der Verein aber eher an Rover oder MG.

Wenn er ein Einzelhändler wäre, würde er sich als Tengelmann sehen – ein etwas verstaubter Gigant im Ruhrgebiet, der nur ein wenig Restrukturierung benötigt. Tatsächlich hat der Verein mehr Ähnlichkeit mit Hertie.

Wenn er ein Urlaubsziel wäre, würde man sich an der Hafenstraße als Teneriffa sehen – gut besucht, nur etwas Image-Auffrischung wäre nötig. Tatsächlich denkt die Außenwelt eher an Rimini.

Wenn der Verein ein Sportartikler wäre, dann käme natürlich nur Reebok in Betracht – ein Riese, der durch das Verramschen seiner Produkte abgerutscht ist, aber unter neuer Führung wieder ganz groß rauskommen wird. Tatsächlich bestehen mehr Parallelen mit Hummel.

Zusammenfassend: Anhänger und Umfeld des Vereins wurden und werden von den Verantwortlichen darin bestärkt, der Club sei ein schlafender Riese, der nur durch unglückliche Umstände vorübergehend hinter die Vereine aus Dortmund, Gelsenkirchen, Bochum und sogar Duisburg zurückgeworfen wurde. Sobald an einigen Stellschrauben richtig gedreht würde, wäre die Rückkehr früherer glanzvoller Zeiten selbstverständlich. Die Marke sei intakt und würde ihre einstige Strahlkraft zurückgewinnen.

Tatsächlich ist die Marke aber weitestgehend verbrannt. Kaum ein anderer Verein hat seit vielen Jahren die selbstgesteckten Ziele so konsequent verfehlt. Mit der Marke „Rot-Weiss Essen“ verbindet sich die Mischung von jahrzehntealten Erfolgen und tragisch-komischem Scheitern in der jüngeren Vergangenheit.


Wofür also sollte die Marke „Rot-Weiss Essen“ stehen?


Es ist an der Zeit, sich von der Wiederauferstehung der Zeiten Helmut Rahns, Willi Lippens´, Horst Hrubeschs oder Frank Mills zu verabschieden. Diese Zeiten kommen nicht zurück. Auch die Orientierung an den großen Revierrivalen ist kontraproduktiv. Den Vorsprung von 20 Jahren kann man in absehbarer Zeit nicht aufholen.

Es gilt, einen neuen – glaubhaften – Ansatz zu finden und das neue Markenimage konsequent auf allen Ebenen durchzusetzen. Wenn RWE ein Auto wäre, dann sollte es ein Skoda sein. Wenn der Verein ein Einzelhändler wäre, dann sollte er Manufaktum heißen. Als Urlaubsziel könnte er Juist sein, als Sportartikler Erima.

Was zeichnet diese Marken aus? Zunächst die Selbstbeschränkung. Skoda baut Autos, die auf den praktischen Nutzwert konzentriert sind. Manufaktum zielt mit einer begrenzten Auswahl altmodischer, aber hochwertiger Artikel selbstironisch am Durchschnitts-Konsumenten vorbei. Juist verzichtet auf Autoverkehr und Bettenburgen, dort wird das Gepäck auf dem Karren zum Hotel geschubst. Erima beschränkt sich auf Teamsport und liefert dort gute Qualität zu sehr guten Preisen.

Innerhalb der Selbstbeschränkung wissen diese Firmen aber sehr genau, was sie können. Darauf konzentrieren sie sich. Der Wettbewerb mit BMW, mit Quelle, mit Mallorca oder mit Adidas wird bewusst nicht gesucht. Es zählt nicht der Aufstieg in die Bundesliga der jeweiligen Branche, sondern die Integrität des Markenkerns – also das, wofür die Marke steht. Gerade so sind diese Firmen erfolgreich.

Was aber ist der Markenkern von RWE? Was macht den Verein unverwechselbar? Hier kann es nur eine Antwort geben: Rot-Weiss Essen ist ein

ARBEITERVEREIN IM INDUSTRIEGEBIET


Als letzter Revierverein steht RWE noch für die Tradition des Arbeitervereins, wenn auch nicht freiwillig. Sein Standort ist geradezu grotesk, das örtliche Umfeld zählt zu den sozial schwächsten Deutschlands, in den Jugendmannschaften sind deutsche Namen die Ausnahme.

Diese Tatsache gilt es zu akzeptieren und in ein positives Image zu drehen. Statt zwanghaft mit immer größerem Abstand den Großvereinen hinterher zu jagen, sollte man auf dem Markenkern aufbauen und sich differenzieren. Das Image des Vereins sollte geprägt sein von Bratwurst, Bier in Einwegbechern, Backstein-Architektur, Stehplätzen, Industrie, Schweiß, Humor und Ehrlichkeit. Das muss keinen Verzicht auf Stadion-Neubau, VIP-Bereich, Sponsorenbetreuung oder komfortable Sitzplätze bedeuten. Es ist aber entscheidend, diese in ein Marketingkonzept einzuordnen bzw. diesem unterzuordnen.


Was heißt das für die notwendigen Maßnahmen der nächsten Jahre?


Es heißt in erster Linie, das Herumdoktern an den Symptomen zu beenden. Der Verein ist nicht in der Krise, weil das Stadion in den letzten Jahren nicht ausgereicht hätte oder man Konkurrenten finanziell unterlegen gewesen wäre. Weder Kölmel noch DFB noch Stadt Essen noch die Rivalen im Revier noch fehlende Zuschauer, Sponsoren oder Geschäftspartner sind ursächlich für die Misere. Vielmehr befindet sich der Verein in einer selbstverschuldeten Abwärtsspirale aus Selbstüberschätzung, übersteigerten Erwartungen, frühzeitigen Enttäuschungen und panischen Reaktionen.

Auf der Grundlage des oben herausgearbeiteten Markenkerns sollte intern und extern eine ehrliche Zwischenbilanz gezogen werden: bei Rot-Weiss Essen handelt es sich um einen stark verschuldeten Arbeiterverein in der 4. Liga.

In diesem Verein sollte mehr Wert auf die erbrachte Leistung gelegt werden als auf spektakuläre Erfolge. Sinn und Ziel der Arbeit ist nicht das Übertrumpfen von Vereinen in Nachbarstädten, sondern das Abliefern zufriedenstellender Bemühungen in einem einzigartigen Umfeld.

Aus diesem Grundsatz heraus sind die weiteren Entscheidungen zu treffen. Ein neues Stadion darf kein Selbstzweck sein! Wenn Investitionsmittel für einen kompletten Neubau im Stil nordenglischer Innenstadt-Stadien bereitgestellt werden, dann ist das ein Riesenschritt vorwärts. Notwendig wäre ein kompletter Neubau – trotz aller anderslautender Kommentare - derzeit nicht! In Kombination mit einer neuen Haupttribüne reichte die derzeitige Nord und Ost vollkommen aus. Das „Hufeisen“ als Alleinstellungsmerkmal könnte zunächst ebenfalls beibehalten werden. Also: kommt das neue Stadion – wunderbar! Kommt es wieder nicht, dann ist RWE eben noch deutlicher anders als andere Vereine.

Im Bereich Marketing und Merchandising muss der „Arbeiterverein im Industriegebiet“ in den Mittelpunkt rücken. Europaweit spielen Clubs in Parks und Arenen mit der Infrastruktur von Spitzenhotels. Gerade deshalb wird für immer mehr Fussballanhänger eine Alternative interessant.
Es gilt, die bislang als Makel empfundenen Unterschiede positiv zu besetzen. Retro-Trikots sind mit entsprechender Organisation machbar. Merchandising-Artikel können pfiffig unmodern sein. Auch im VIP-Zelt kommt die delikate Curry-Wurst mit guten Pommes oder „echten“ Brötchen besser an als der kläglich gescheiterte Versuch eines Vitello Tonnato! Warum keine Kokosnüsse zum Dessert?


Und auffem Platz?


Bei Übertragung dieses Konzept auf den sportlichen Bereich sieht das so aus:

1. Wird den Fans ehrliche Arbeit statt Aufstieg in Serie versprochen, dann sinkt die Erwartungshaltung auf ein vernünftiges Maß.

2. Eine Mannschaft kann unter den Gesichtspunkten der Leistungsbereitschaft und Identifikation in Ruhe aufgebaut werden. Es entfällt die Notwendigkeit, jede Saison den kompletten Kader auszutauschen.

3. Im Spiel selbst verändert sich der Ergebnisdruck in Leistungsdruck. Es muss okay sein, nach großem Kampf in letzter Minute geschlagen zu werden.

4. Steht RWE wieder für leidenschaftlichen Kampf und torreiche Spiele, dann ist auch vermittelbar, dass mangels entsprechender Voraussetzungen ein vorderer Platz in der 2. Liga in absehbarer Zeit nicht erreichbar ist.

Wohlverstanden: der Erfolg sollte nicht verhindert werden! Alle Beteiligten – Vereinsverantwortliche, Sponsoren, Geschäftspartner, Lokalpolitiker und Fans – sollten sich aber von der Fokussierung auf Aufstiege und Ligenerhalt lösen. Tatsächlich macht es mittlerweile doch wenig Unterschied, ob man gegen Wiesbaden, Sandhausen oder Trier spielt.

Wichtig sollte in Zukunft nicht mehr sein, dass in jeder Saison entweder der Aufstieg erzwungen oder der Abstieg um jeden Preis vermieden wird. Wichtiger sollte sein, dass man als Beteiligter bei RWE anders ist als der Rest. Hier kann dann eine Humba bei einer Niederlage nach großem Kampf stattfinden, ein würdiger Nachfolger für den „Schreck“ gefunden werden und Support erprobt werden, der nicht der zweite Aufguss von Ultra-Aktionen anderer Vereine ist.


Fazit


Es liegt nicht immer am Geld. Auch mit Kölmel-Lösung, neuem Stadion und Großkonzern als Hauptsponsor ist der Durchmarsch in die 2. Liga nicht garantiert. Andererseits verspricht ein durchdachtes Konzept „Marke RWE“ die Stabilisierung des Vereins mit überschaubarem finanziellen Risiko und vielen Optionen für die Zukunft.


Wilhelm 7117