Gastkommentar: Der Gaucho-Tanz – oder die unerträgliche Schwere des Seins
Als sechs deutsche Fußballer am Dienstagmittag am Brandenburger Tor, unter ihnen der polnischstämmige Miroslav Klose und der mit kosovarischen Wurzeln ausgestattete Shkodran Mustafi sich aufmachten, eine kleine „Tanz“- und Gesangseinlage darzubieten, die fußballtypisch den besiegten Gegner ein wenig auf die Hörner nahm, nicht bösartig, nicht beleidigend, hätte sich wohl keiner von ihnen alpträumen lassen, was das deutsche Feuilleton anhand dessen für ein Fass aufmachen würde.
Ines Pohl, Redakteurin der TAZ, ließ sich zu der Aussage hinreißen, Deutschland habe nun wieder einmal sein wahres Gesicht gezeigt. Dieses sei natürlich nicht das des respektvollen und sportlich fairen Kickers, so erlebt über fast fünf Wochen WM in Brasilien, sondern das des hässlichen nationalistischen Deutschen. Die FAZ setzte da noch einen drauf, das Bild eines weltoffenen Deutschlands sei verspielt worden. Nun herrscht in diesem unserem nun weltmeisterlichen Lande ja Gott sei Dank die Meinungsfreiheit und auch der Presse sei gestattet, diese gewöhnungsbedürftige Interpretation einer im Grunde völlig harmlosen Einlage von sechs Männern aufzubringen.
Wohlgemerkt von Sechs, zwei Drittel der Mannschaft waren erst gar nicht daran beteiligt, wurden aber in Sippenhaft genommen. In Internetforen wurde dann Kevin Großkreutz für diesen Auftritt gerügt. Kevin Großkreutz, der zwar gerne mal die Lobby eines Hotels mit einer sanitären Anlage verwechselt und Döner-Weitwurf in Deutschland als Sportart etabliert hat, aber an dieser Aktion überhaupt nicht beteiligt war. So mischten sich schnell Dichtung und Wahrheit zu einem unappetitlichen Cocktail der Selbstgerechtigkeit. Deutschlands Fußballer arbeiten 8 Wochen an ihrem großen Ziel, fünf Wochen davon vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Niemand konnte selbst bei bösestem Willen feststellen, dass die sportliche Fairness dieser Truppe mit ihrem phänomenalen Mannschaftsgeist lediglich eine Maske für chauvinistisch-nationalistischen Größenwahn sei. Zumindest niemand, der sich ernsthafter mit Fußball auseinandersetzt als es an den Schreibtischen des deutschen Feuilletons passiert. Seit dem Schlusspfiff von Rio hatte diese Truppe einen 36-stündigen Feiermarathon hinter sich, sie hat den größten Tag ihres zumindest sportlichen Lebens erlebt, sie wurde angehimmelt und bewundert von zig Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Hier darf man mal für ein paar Sekunden den Boden unter den Füßen verlieren, zumindest Menschen tun dieses, denn diese hochbezahlten Profis sind in der Stunde ihres Triumphes keine erwachsenen Männer mehr, sondern sich ekstatisch freuende kleine Jungs, die das größte nur vorstellbare fußballerische Glücksgefühl erleben. Tage und Momente für die Ewigkeit. Und dann, liebe FAZ, soll ein harmloses Tänzchen dieser bierseligen euphorisierten Jungs ein Augenblick der nationalen Schande sein?
Mitten unter den Tänzern Miroslav Klose, ein Mann mit nun epochalem sportlichen Lebenswerk, WM-Rekordtorschützenkönig und nun Weltmeister. Doch neben diesen Etiketten darf man Miro Klose noch andere Dinge attestieren. Zum einen unvergleichbare Zurückhaltung, findet man einen Christiano Ronaldo häufiger in Gazetten wie der Bravo als bei sportlichen Siegesfeiern oder war ein David Beckham in erster Linie ein Modell, das nebenbei Fußball spielte, so ist Klose eine Allegorie der Bescheidenheit und Fairness. Mehrfach korrigierte er zuvor zu seinen Gunsten ausgefallene Schiedsrichterentscheidungen im Sinne des Gegners, niemals kam ihm ein böses Wort über andere über die Lippen.
Frau Pohl sollte sich also zunächst einmal kundig machen, wessen Lebensleistung sie hier unreflektiert diskreditiert. Die FAZ wiederum sollte, wenn sie Weltoffenheit fordert, nicht selber in der Rolle des miesepetrigen Spießbürgers agieren und ihre eigenen Ansichten so offenkundig konterkarikieren. Wenn aber die deutsche Qualitätsjournaille in diese wenigen Sekunden in ein Soziogramm der deutschen Gesellschaft transferieren möchte, so frage ich umgekehrt nach den Beweggründen für diese Erschaffung eines Skandals, der keiner ist. Einst, in seinen Anfängen, galt der Fußball als eine Sportart des Bürgertums, erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Bild der Arbeiter, der Proletensportart, der Fußlümmelei. Der Malocher konnte es mittels Fußball seinem Vorgesetzten mal so richtig zeigen, infolgedessen wandte sich das Bürgertum ab davon und schaute nun mit distanzierter und spöttischer Grundhaltung auf den Sport des kleinen Mannes.
Doch das Balltreten vereinte letztlich doch dann wieder alle Gesellschaftsschichten und die Entdeckung des Fußballs als absolutes Massenphänomen, das den Banker genauso in seinen Bann schlägt wie den Erzmalocher, veranlasste letztlich auch das Feuilleton dazu, nach jahrzehntelanger Verbannung dem Fußball wieder einen Platz in seinen Seiten einzuräumen. Freilich möchte es das auch zu seinen Regeln tun. Mit der überschäumenden Emotion, die dann auch in Unsportlichkeit und gar Chauvinismus münden kann, hat es natürlich seine Probleme, gleichzeitig fehlt ihm aber auch die Grundlage dazu, die Mechanismen dieser Sportart, die so dennoch so trefflich bewerten wollen, zu verstehen. Frau Pohl und den Leuten der TAZ sei empfohlen, vielleicht einmal selber Sport zu treiben und die Glücksgefühle kennen zu lernen, die selbst den kleinen Amateur- und Breitensportler angesichts großer Siege erfassen. Vom Schreibtisch und von der Oper aus lässt sich dieses schwerlich entdecken.
Vielleicht entdecken sie dann auch mal die Leichtigkeit des Lebens als die unerträgliche Schwere des Seins. Vielleicht verstehen sie dann auch, dass manchmal auch Häme und süße Rache dazu gehören. Dass die deutschen Fußballer die Argentinier, die im Falle des eigenen Sieges ihre Feier zur Generalabrechnung mit dem Erzrivalen Brasilien wie schon das gesamte Turnier über genutzt hätten, die ihnen nach dem Viertelfinale von Berlin 2006 statt der fälligen Gratulation wüste Tritte und Schläge am Mittelkreis schenkten, die ihnen nun in diesem Finale 120 Minuten auf die Socken stiegen und die Ellbogen ins Gesicht schlugen, besonders in ihr Herz geschlossen hätten, kann ich zumindest mir nicht vorstellen und dieses gleichzeitig sehr gut nachvollziehen.
Sven Meyering