Der Fehlstart – eine Analyse
Regionalliga Nord, 19.08.2007. Die 53. Spielminute
im Signal-Iduna-Park zu Dortmund: Nach einer Standardsituation
prüft Michael Lorenz mit einem Flachschuss aus
kurzer Distanz BVBII-Keeper Höttecke, der den
Ball abwehren kann. Begleitet wurde die Szene von
fast schon euphorischem Applaus durch die mitgereisten
RWE-Fans – man ist bescheiden geworden unter
den treuen Auswärtsfahrern, jede Torchance wird
dankbar honoriert. Und wenn nach dieser Szene bei
dem einen oder anderen doch wieder das zarte Pflänzchen
der Hoffnung erblühte, man könnte zumindest
eine Halbzeit lang sehen, was Heiko Bonan vor der
Saison angekündigt hatte, so gab es schon Minuten
später die große Ernüchterung –
die Sturm- und Drangphase war schon wieder vorbei,
bevor sie richtig begonnen hatte. Die Lorenz-Chance
sollte das erste und das letzte Mal sein, dass Höttecke
ernsthaft eingreifen musste.
Der angekündigte Offensivfußball blieb
also bislang aus. Einen Hurra-Fußball verbunden
mit lockeren Siegen hat wohl niemand erwartet, genauso
aber haben selbst die größten Schwarzmaler
nicht damit gerechnet, was heute Realität ist:
Platz 18 mit einem Treffer aus vier Spielen. Dabei
ist gar nicht in erster Linie der Tabellenplatz das
Besorgniserregende, sondern die Tatsache, dass wir
völlig zurecht im Keller stehen. Es mangelt den
Spielen nicht nur an Toren, sondern auch schon an
Torchancen. Wuppertal hat in einem Spiel so viele
Tore geschossen wie wir über die gesamte Saison
Torchancen hatten. Eher biedere Mannschaften wie die
von Ahlen oder Dortmund, die man nicht gerade als
Synonym für stabile Abwehrreihen nennt, halten
unsere Offensive problemlos aus dem eigenen Strafraum
fern. Dazu kommen eine Dreierkette, die jederzeit
für einen Aussetzer gut ist und ein Mittelfeld,
das ihm wahrsten Sinne des Wortes flügellahm
ist.
Die Angst, selbst das Minimalziel „Dritte Liga“
zu verpassen, ist allgegenwärtig. Bereits nach
vier Spieltagen liest man in der Zeitung die ersten
Durchhalteparolen und es scheinen nur noch Strohhalme
zu sein, an die man sich als Fan klammert. Strohhalme
wie das Cottbus-Spiel: Mensch, da hat die Mannschaft
doch gezeigt, was möglich ist! Oder war es doch
nur ein typisches Pokalmatch, in dem der Underdog
einem recht lustlosen Goliath durch Kampf und Engagement
den Schneid abkaufen kann? Ich weiß es nicht,
aber ich wäre nicht überrascht, wenn wir
erst in der zweiten Pokalrunde gegen Kaiserslautern
wieder eine im Vergleich zum Ligaalltag ganz andere
RWE-Mannschaft erleben dürften.
Die üblichen Abstimmungsschwierigkeiten, mit
der jede neu zusammengesetzte Zweckgemeinschaft zu
kämpfen hat, sind diesmal leider nicht das einzige
Problem, das den schwachen Saisonstart verursachte.
Es folgt der Versuch einer Erörterung der multikausalen
Zusammenhänge aus der Sicht eines Fans:
1. Die potenziellen Leistungsträger tragen
kaum Leistung
Bonans 3-4-3-System mit vielen jungen Spielern sollte
getragen werden von einer erfahrenen zentralen Achse,
die (in der Theorie) der umsichtige Abwehrchef Sereinig,
der wiedererstarkte Spielgestalter Haeldermans und
der hierzulande unbekannte, aber mit vielen „Tor“schusslorbeeren
ausgestattete Stoßstürmer Lindbaek bildeten.
In der Praxis sieht Bonans Welt jedoch anders aus:
Haeldermans verletzte sich kurz vor dem Saisonauftakt
und konnte noch keine Minute spielen. Und hatte man
sich Sereinigs hohe Fehlerquote in der Vorbereitung
noch mit der Qualität der internationalen Testspielgegner
schöngeredet, so musste man inzwischen leider
feststellen, dass Stellungs- und Abspielfehler, Langhölzer
ins Niemandsland und sein langsamer Antritt auch zum
Ligaalltag gehören – Sereinig präsentierte
eine erschreckende Palette von Anti-Eigenschaften
eines verteidigenden Führungsspielers. Nachdem
er sich zuvor schon zweimal hatte auswechseln lassen
müssen, war in Dortmund folgerichtig kein Platz
mehr für Sereinig in der Startelf. Vermisst hat
ihn niemand.
Lindbaek musste lange Zeit seinen Trainingsrückstand
aufarbeiten, womit auch Woche für Woche seine
Nichtnominierung begründet wurde. Nach Kurzeinsätzen
lief er gegen Ahlen erstmals von Beginn auf. Auffällig
waren jedoch nur sein körperloses Spiel und einige
Stockfehler. Die Hoffnung, er könnte auch mal
mit einer starken Einzelaktion etwas reißen,
zerschlug sich schnell. Ohne maßgenaue Bälle
in den 16er – und die gibt es zur Zeit nicht
– blieb (und bleibt?) Lindbaek blass. Das ist
auch Bonan nicht entgangen, in Dortmund saß
Lindbaek wieder auf der Bank. Dabei scheint ihm inzwischen
sogar der letztjährige Verbandsligaspieler Wagner
abzuhängen, obwohl dieser sich in der Liga bislang
auch nicht als kaltschnäuziger Vollstrecker präsentiere.
Aber Wagner weiß wenigstens seinen Körper
und seine raumgreifenden Schritte gewinnbringend einzusetzen,
so dass er in Dortmund den Einwechsel-Vorzug gegenüber
Lindbaek erhielt.
Die Befürchtung kommt auf, auch die Kapitel der
„Starverpflichtungen“ Sereinig und Lindbaek
könnten in Vertragsauflösungsgesprächen
enden und die länger werdende Liste der Auslandsfehleinkäufe
der jüngeren Vergangenheit bereichern.
Es brechen also drei wichtige Säulen (und damit
bei der Formulierung des Saisonziels sicher fest eingeplante
Qualität!) weg, die kaderintern nicht gleichwertig
ersetzt werden können.
Weitere Spieler, von denen man sich einiges versprochen
hat, können ebenfalls nicht überzeugen.
Einem Kiskanc scheint das Jahr in der Zweiten Liga
eher geschadet als genutzt zu haben. Seinem Konkurrenten
Brandy reicht es aus, eine brauchbare Flanke pro Spiel
zu schlagen, um die Nase vorn zu haben. Dass Kotula
in Wilhelmshaven als offensivstark galt, kann in Essen
bislang niemand bestätigen. Überhaupt findet
sich im gesamten Team niemand, der aus vollem Lauf
gefährliche Flanken vor, und nicht wie oftmals
gesehen hinter das Tor schlagen kann. Es bleibt deshalb
zu hoffen, dass Haeldermans schnell fit wird und direkt
wieder an die Vorbereitungsform anknüpfen kann.
Seine Steilpässe und Standards fehlen der Offensive
an allen Ecken und Enden, auch wenn Ersatzmann Gorschlüter
seinen Job ordentlich macht.
2. Die fehlende Teamhierarchie
Vor zwei Jahren hatten wir ausreichend Erfahrung und
individuelle Qualität, um auch nach totaler Verunsicherung
Zwei-Tore-Rückstände noch in einen Sieg
umwandeln zu können (Düsseldorf, Hamburg).
Mehrere Spieler waren in der Lage, das Heft in kritischen
Situationen in die Hand zu nehmen und die Kameraden
mitzuziehen. Das erscheint heute undenkbar. Bonan
forderte schon früh mehr Kommunikation auf dem
Platz ein, aber ohne eine funktionierende Hierarchie
ist das ein schwieriges Unterfangen. Die vorgesehenen
erfahrenen Platzhirsche sind keine, sie haben entweder
mehr mit sich selbst und der eigenen Leistung zu kämpfen,
als dass sie Anweisungen geben und notfalls auch mal
einen Mitspieler „zur Sau“ machen könnten
(Sereinig, Kotula, Lindbaek), oder sie sind charakterlich
einfach keine lautstarken Alpha-Tierchen (Masuch,
Guie-Mien).
Dieses Problem sollte im Laufe der Saison jedoch behoben
werden können, früher oder später wird
sich eine Hierarchie bilden. Haeldermans und Kapitän
Stefan Lorenz werden nach ihrer Rückkehr in die
Startelf sicher in der Lage sein, Führungsrollen
zu übernehmen.
3. Die aufkommende Verunsicherung und die Rolle der
Fans
Befindet man ich erstmal in einem Negativsog, wird
daraus schnell eine Kopfsache. Wir alle haben die
Folgen des 2:2 aus dem Vorsaison-Heimspiel gegen Paderborn
noch in bester Erinnerung. Nun steckt der Karren wieder
im Dreck, es brennt auf allen Ebenen. Eine junge Mannschaft
ist natürlich leicht zu verunsichern, insbesondere
dann, wenn sie sich nicht an den erfahrenen Spielern
aufrichten kann. Hier könnten die Fans unterstützend
wirken, das fällt den frustrierten RWE-Anhängern
aber zunehmend schwer.
Nicht jede Kritik seitens der Fans ist unberechtigt
und mundtote Fans wünscht sich sicher auch niemand,
aber es kommt doch sehr auf das „wie“ an.
Wenn die eigenen Spieler beim Eckball oder sogar schon
vor dem Spiel ausgepfiffen werden, hat das sicher
nichts mehr mit konstruktiver Kritik zu tun. Das ist
eine gefährliche, wenn auch sicher nach allen
Misserfolgen nicht ganz unverständliche Tendenz,
der aber unbedingt entgegen getreten werden muss.
Solange der Einsatz stimmt, sollte die Mannschaft
unterstützt werden, auch wenn man bei einzelnen
Spielern diesbezüglich Zweifel haben könnte.
Wenn in den Schlussminuten nach einem extrem schwachen
Spiel mal ein Ball durch die Unterstützung der
Fans ins gegnerische Tor gebrüllt wird, kann
das in der Endabrechnung entscheidende Punkte bringen!
4. Das Spielsystem
Das Spielermaterial wurde in Hinblick auf Bonans System
verpflichtet, seine Wunschspieler finden sich jedoch
in diesem bislang nicht zurecht. Viele Gegentore fielen
nach dem gleichen Muster: Auf der Außenbahn
setzt sich der Gegner recht problemlos durch, die
Innenverteidigung rückt in Richtung des ballführenden
Gegners auf, dieser flankt auf den langen Pfosten
zu seinem völlig blank stehenden Mitspieler –
Tor! Am langen Pfosten, wo doch eigentlich der Außenverteidiger
der Viererkette stehen würde. Mit der Dreierkette
sollte dort der Flügelläufer warten, der
aber allzu oft nicht rechtzeitig zurückkehrte.
Viele Fans entdeckten deshalb ein großes Systemproblem
und bezeichneten die Dreierkette als „veraltet“.
Bonan sah dieses Problem nach dem Ahlen-Spiel nicht
– und ließ zur Überraschung Aller
in Dortmund plötzlich doch mit einem klassischen
4-4-2 spielen. Immerhin stand nach dem Spiel die Null
auch hinten. Viererkette forever?
Ich vermag nicht zu beurteilen, welches System für
unser Team von Vorteil wäre, aber eines ist klar:
wenn nach vier Spieltagen noch nicht einmal die Systemfrage
geklärt ist, trägt das sicherlich genauso
wenig zur Stabilisierung der Leistung und zum Abbau
der Verunsicherungen unter den Spielern bei wie ständige,
manchmal kaum nachvollziehbare Wechselspielchen in
der Startelf.
Fazit
Zu welchen Anteilen die jeweiligen Punkte wirken,
sei dahingestellt. Auch erhebt die Aufzählung
keinen Anspruch auf Vollständigkeit, andere aus
Fan-Sicht nicht einsehbare Faktoren spielen eventuell
auch eine Rolle. Nach den Eindrücken aus den
ersten vier Spielen wage ich aber die folgende Prognose:
Die Mannschaft besitzt in diesem Jahr nicht die Qualität,
um ernsthaft in den Aufstiegskampf eingreifen zu können.
Zu groß und vielschichtig sind die Baustellen,
die jetzt noch bearbeitet werden müssen, die
meisten anderen Teams sind uns hier um Wochen voraus.
Für mich aber nach wie vor vorhanden ist hinreichend
Qualität für Platz 10, selbst dann, wenn
sich Sereinig und Lindbaek auch weiterhin als unbrauchbar
erweisen. Jedoch wird auch Platz 10 kein Selbstläufer.
Will man den „Supergau“ vermeiden, muss
schnellstmöglich die Phase des Experimentierens
abgeschlossen werden. Bonan muss eine Stammelf finden,
in der sich eine funktionierende Hierarchie herauskristallisieren
kann. Bis dahin müssen wir hoffen, dass die wenigen
Lichtblicke wie Gorschlüter oder Güvenisik,
der zur Zeit als einziger Stürmer gehobenen Regionalligaanforderungen
gerecht wird, ihre starken Leistungen konstant abrufen
und die Mannschaft auf Kurs „Dritte Liga“
halten können.
Auch den Transfermarkt hat man hoffentlich noch im
Auge. Bevor man alle Hoffnungen auf den verletzungsanfälligen
Haeldermans setzt, sollte vielleicht bis zum 31. August
noch einmal nachgelegt werden.
Ansprüche, die vor der Saison noch im RWE-Forum
formuliert wurden („Welches Team soll eigentlich
stärker besetzt sein als wir?“) müssen
heruntergeschraubt werden. Als Fan sollte man verinnerlichen,
dass es nach dem Abstieg in diesem Jahr des Wiederaufbaus
einer neuen Mannschaft nur um Schadensbegrenzung gehen
kann. Darüber, ob Janßen und Bonan bei
der Kaderzusammenstellung gute Arbeit geleistet haben,
kann man sicherlich streiten. Die jungen Spieler verdienen
jedoch in jedem Fall unsere Unterstützung, unabhängig
davon, ob sie bereits uneingeschränkt regionalligatauglich
sind oder nicht. Notfalls muss man auch mal mit nur
einer Torchance in Dortmund leben können. Sollte
am Ende doch mehr als Platz 10 herausspringen –
umso schöner! Aber realistisch erscheint dies
nicht (mehr).
Michael
Jaskolla