09.10.2017

7 Jahre Stillstand? Ein Rückblick auf die sportliche Entwicklung der Ära Welling - Ein Kommentar

von Dominik Gsell

Das Regionalliga-Murmeltier grüßt mal wieder: Rot-Weiss Essen sieht bereits im Oktober 2017 die Tabellenspitze nur noch mit dem Fernglas und hat sich von seinem Trainer Sven Demandt getrennt. Im zweiten Jahr "hoch3" liegen die Nerven bei Teilen des Anhangs blank und es mehren sich Stimmen, die nach Jahren der Stagnation im Regionalliga-Mittelfeld eine Veränderung nicht nur auf der Trainerbank begrüßen würden.

Im Fokus steht dabei Michael Welling, dem die sich häufenden Abfindungen entlassener Trainer und sportlicher Leiter angelastet werden. Tenor: Was nützt es, den Verein auf finanziell gesunde Füße gestellt zu haben, wenn das Geld permanent mit falschen Entscheidungen im sportlichen Bereich und daraus resultierenden Abfindungen zum Fenster rausgeschmissen wird?

Die mittlerweile siebte Saison in der Regionalliga wird mit hoher Wahrscheinlichkeit am Ende wieder nicht mit dem anvisierten Aufstieg enden, der neue Trainer wird bereits mit Perspektive auf das dritte Jahr "hoch3" verpflichtet. Zeit für einen kompletten Neuanfang? Auch selbstkritische Stimmen sind bei Teilen der Anhängerschaft zu vernehmen, schließlich sei es nicht erst seit der Ära Welling ein rot-weisses Phänomen, dass Spieler und Trainer vorher und nachher bessere Leistungen abliefern würden, als während ihrer Zeit an der Hafenstraße. Dieser Rückblick auf die sportliche Entwicklung seit der Insolvenz im Juni 2010 ist der Versuch, die sportliche Entwicklung mitsamt der vielen Personalentscheidungen einzuordnen und das Zusammenspiel mit dem rot-weissen Umfeld zu beleuchten. Kann man von anhaltender Stagnation sprechen? Welche Fehlentwicklungen waren absehbar, welche Personalentscheidungen zum jeweiligen Zeitpunkt sinnvoll? Rufen Spieler an der Hafenstraße tendenziell weniger Leistung ab als anderswo? Ist der Druck an der Hafenstraße allein im stetig steigenden Anspruch des Publikums begründet? Welchen Anteil hatten die sportlichen Entscheidungsträger an dieser Entwicklung?

2010: Neustart in der Oberliga mit Trainer Waldemar Wrobel

Den Anfang stellt der sportliche Tiefpunkt der Vereinsgeschichte dar: Rot-Weiss Essen spielt zum ersten und einzigen mal fünftklassig. Zum Glück kann RWE auf eine U23 zurückgreifen, die in der abgelaufenen Saison in derselben Spielklasse den fünften Platz belegte und mit Trainer Waldemar Wrobel sowie Teammanager Damian Jamro bereits ein eingespieltes Funktionsteam hat. Die Entscheidung, mit den Verantwortlichen weiterzumachen, liegt angesichts der Insolvenz auf der Hand, zumal nicht viel Spielraum für Experimente da ist. Als Ziel ausgegeben wird zunächst einmal Platz 5 in Liga 5 - der drohende Untergang des Vereins, sowie einige schmerzhafte Pleiten in der Vorbereitung lassen die Erwartungshaltung im Umfeld auf ein Minimum schrumpfen. Routinier Alexander Thamm leitet mit seinem Tor des Monats gegen Homberg dann allerdings eine Bilderbuch-Saison ein, die den jüngeren Fans fast zwei Jahrzehnte nach Jürgen Röbers Aufstiegsmannschaft nun endlich auch eine Truppe bietet, mit der sich jeder auf den Rängen identifizieren kann. Der Aufstieg wird zum Selbstläufer und nebenbei kann auch noch der Niederrheinpokal errungen werden. Im Viertelfinale wird der klassenhöhere Erzrivale aus Wuppertal mit 4:1 aus dem Stadion geschossen und abgesehen von einem 1:2 in Hüls bleibt RWE bis zum Aufstieg in Siegen ungeschlagen, vereinzelt gemurrt wird erstmals beim 1:3 gegen Wegberg-Beek bei der Aufstiegssause beim anschließenden Heimspiel, doch ernsthafte Kritik am erfrischenden Fußball der Wrobel-Elf bleibt aus - mit viel Euphorie geht es in die Sommerpause.

2011: Die Rückkehr des Anspruchsdenkens

Ginge es nach dem Willen des Großteils der freudentrunkenen RWE-Fans würde die Truppe um Lamczyk, Lenz, Enzmann und Co. einfach unverändert weitermachen und bis in die Bundesliga durchmarschieren. Damian Jamro und Waldemar Wrobel machen den Träumereien jedoch einen Strich durch die Rechnung: Am Ende der Saison wird knallhart analysiert, wem der Sprung in die Regionalliga zugetraut wird. Publikumsliebling Alexander Thamm gehört nicht dazu. Sein Vertrag wird nicht verlängert, weil Wrobel und Jamro einen Spieler mit besserer Spieleröffnung und anderem Zweikampfverhalten suchen. Mit Maik Rodenberg und Sebastian Jansen werden zwei Innenverteidiger verpflichtet, deren Verletzungsgeschichte für die enttäuschte rot-weisse Seele bereits ein gefundenes Fressen ist. Neuzugang Markus Heppke wird aufgrund seiner Vergangenheit in Wuppertal und Gelsenkirchen ebensowenig mit Begeisterungsstürmen empfangen wie Güngör Kaya, der seinen Ruf als Söldner und Problemfall bereits vor Saisonbeginn weg hat. Die Marschrichtung setzt nicht etwa das Publikum, sondern das sportliche Führungsduo Jamro/Wrobel: Gesucht werden Spieler, die trotz kleinem Budgets den Kader verbessern. Dafür nimmt man gewisse Risiken in Form von charakterlichen Problemfällen, langen Verletzungshistorien oder Scheitern bei vorherigen Stationen in Kauf.

Diese als knallharte Kalkulation empfundene Vorgehensweise kühlt den Kuschelkurs zwischen Mannschaft und Fans bereits im Vorfeld etwas ab, doch die Aufstiegseuphorie überwiegt zunächst und trägt das Team zur Pokalsensation gegen Union Berlin, sowie zu einem Traumstart mit 10 Punkten aus 5 Spielen. Danach gibt es jedoch einen heftigen 0:4-Dämpfer bei der von Sven Demandt trainierten Zweitvertretung aus Mönchengladbach. Jansen und Rodenberg fallen bereits verletzt aus und befeuerten die Thamm-Diskussion aufs Neue. Als auch noch Vincent Wagner sich verletzt, wird die Mannschaft in der Tabelle immer weiter durchgereicht und scheidet gegen Hertha BSC aus dem DFB-Pokal aus. Obwohl Wrobel fast drei Monate ohne Sieg bleibt, steht er nicht zur Debatte. Ein Sieg über die Zweitvertretung des verhassten Nachbarn wendet das Blatt und bis zum Saisonende kriegt RWE die Kurve, um die Spielzeit auf einem guten achten Platz zu beenden. Die Wettaffäre bestätigt jedoch die Vorbehalte gegen Kaya, mit Jasmund und Lehmann ruinieren auch zwei Aufstiegshelden ihren Ruf und der Umbau der Mannschaft schreitet fort. Nicht nur das Georg-Melches-Stadion nimmt Abschied, auch Leon Enzmann wird würdig verabschiedet. Obwohl er in der Regionalliga kein Scheunentor mehr trifft wird der Publikumsliebling nicht etwa ausgepfiffen, sondern mit lustigen Gesängen bedacht und feiert gemeinsam mit dem Anhang und einem überdimensionalen Bierglas. Er wird zur neuen Saison durch Marvin Ellmann aus Oberhausen ersetzt und dem Umbau nach dem Leistungsprinzip fällt nach und nach fast die gesamte Aufstiegsmannschaft zum Opfer - mit dem logischen Ergebnis, dass die Fans fortan erwarten, mit dem Aussortieren der alten Helden einen deutlichen, sportlichen Sprung vollziehen zu können. Für 2012/2013 heißt dies, die Spitzengruppe der Regionalliga anzuvisieren.

2012: RWE auf dem Weg an die Spitze

Nach den ersten beiden Wrobel-Jahren lässt sich rückblickend betrachten, dass die Spieler bei RWE ihren Leistungshöhepunkt erreicht hatten. Keiner der von ihm aussortierten Spieler landet bei einem Verein, der sportlich vor RWE steht. Die meisten finden unterhalb der Regionalliga ein neues Zuhause, nur Timo Brauer wechselt - allerdings aus freien Stücken - nach Aachen in die dritte Liga. Mit ihm fehlt eine weitere Identifikationsfigur und so stehen beim Saisonauftakt in Oberhausen nur noch 4 Spieler aus der Aufstiegsmannschaft in der Startelf. Auch Vincent Wagner landet zunächst auf der Bank und kann sich erst im Verlauf der Hinrunde ins Team zurückkämpfen. Alte Verdienste werden bei Wrobel knallhart dem Leistungsprinzip untergeordnet, eine im Hinblick auf seine spätere Entlassung gerne vergessene Vorgehensweise. Ellmann erwischt beim Sieg in Oberhausen einen Traumeinstand, lässt im Verlauf der Saison aber die Regionalliga-Tauglichkeit vermissen. "Da hätten wir auch Enzmann behalten können!", lautet spätestens nach seinem verschossenen Last-Minute-Elfmeter in Wuppertal der Tenor der Fans.

Nach einem 1:5 in Siegen ist auch die Karriere von Aufstiegstorwart Dennis Lamczyk erledigt. Er findet sich alsbald auf der Tribüne wieder und sitzt nach einer öffentlichen Schlammschlacht seinen Vertrag aus. Durch die Vorgeschichte der Causa Thamm wird Welling, Jamro und Wrobel von einigen Fans erneut vorgeworfen, einen der Aufstiegshelden abgesägt zu haben, wenngleich diesmal Einigkeit über die Notwendigkeit einer Verbesserung auf der Torwart-Position herrscht. Das Verhältnis der Fans zu Wrobel ist weiterhin keine Liebesbeziehung, doch da seine Mannschaft sich, angeführt vom überragenden Kerim Avci, in der Spitzengruppe festsetzen kann, steht er nach wie vor zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Im März 2013 nimmt RWE dann Tuchfühlung zur Tabellenspitze auf und vor dem Duell mit Fortuna Köln machen erste, leise Aufstiegsträume die Runde. Über 2 1/2 Jahre lang geht es sportlich stetig bergauf, ohne dass Michael Welling daran in der Entscheidungsfindung großen Anteil hätte: Er verbessert die finanzielle Ausgangslage und Wrobel erfüllt alle vorgegebenen Ziele. Gegen die Zweifel der Fans hält er unter anderem an Cebio Soukou fest und formt ihn zu einem Top-Spieler der Regionalliga. Mit wenigen Ausnahmen wie Huschka oder Ellmann erweisen sich seine Verpflichtungen als sportliche Verstärkungen und spielen bei RWE am Limit.

26.3.2013: Die Welle bricht - Wrobels erste Krise

Das Top-Spiel gegen Fortuna Köln geht mit 0:1 verloren. Die junge RWE-Mannschaft wird von den abgezockten Kölnern mit einer harten Spielweise niedergerungen und es herrscht Einigkeit im rot-weissen Lager, dass es für ganz oben eben doch noch nicht reicht. Das Spiel stellt jedoch einen Wendepunkt dar, denn auch innerhalb der Mannschaft scheint der Glaube an den großen Wurf verloren gegangen zu sein. Gibt es gegen Köln noch großen Applaus, wird das 0:0 gegen Kray eine Woche später mit einem Pfeifkonzert bedacht. In der weiteren Rückrunde setzt es ein peinliches Pokalaus in Hönnepel-Niedermörmter, eine 0:5-Klatsche in Hüls, ein 1:6 gegen Sven Demandts Gladbach II, ein 0:2 bei der Duisburger Zweitvertretung und eine 1:2-Heimniederlage gegen Wuppertal. Die Kritik an Wrobel wird lauter - er könne eben nur mit Jugendspielern, nicht mit gestandenen Profis. Dem Team fehle es an Führungsspielern, die systematisch aussortiert würden, weil der Diktator keine mündigen Spieler dulde - so die bisweilen polemische Kritik. Wrobels dünnhäutige Art in Pressekonferenzen wird zunehmend zum Boomerang und zur neuen Saison wird von ihm erwartet, um den Aufstieg mitzuspielen.

2013: Knappmanns Verpflichtung und Wrobels Abstieg

Statt junger Perspektivspieler werden zur neuen Saison erstmals namhafte Verstärkungen geholt, Marcel Platzek kehrt zu seinem Jugendverein zurück, war in Mönchengladbachs U23 jedoch bereits zum Regionalliga-Goalgetter gereift. Alexander Langlitz kommt sogar mit Europapokal-Empfehlung für die rechte Außenbahn und mit Benjamin Wingerter kann RWE den Dreh- und Angelpunkt des Meisters Sportfreunde Lotte verpflichten. Im Sturm soll es nach Enzmann und Ellmann diesmal Knappmann richten. Sportlich lösen die Verpflichtungen Zuversicht aus, doch mit Knappmanns Verpflichtung setzen sich Wrobel und Jamro selbst unter allerhöchsten Druck. Der als Söldner verschrieene Knappmann ist den RWE-Fans vor allem durch seinen Mittelfinger im Trikot des WSV in Erinnerung geblieben und seine Verpflichtung stößt überwiegend auf Ablehnung. Mit Knappmann, Koep und Platzek stehen drei Stürmer im Kader, die in der Vorsaison noch zweistellig geknipst haben. Dazu kommen mit Sawin und Soukou - der sich allerdings zu Saisonbeginn schwer verletzen sollte - zwei weitere, gestandene Offensivkräfte hinzu. Wrobel bastelt ein extrem offensives 4-3-3, um das Offensivpotenzial unter einen Hut zu bekommen und Knappmann bestmöglich einzubinden.

Zum Saisonauftakt gegen Leverkusen erreicht die Mannschaft jedoch nur ein 2:2 und das zweite Spiel gegen Viktoria Köln geht unglücklich mit 1:2 verloren. Als am dritten Spieltag bei der Düsseldorfer Zweitvertretung jedoch nach 2:0-Führung noch 3:4 verloren wird, hängen die Fans erstmals auf den Barrikaden und fordern Wrobels Entlassung. Wingerter und Knappmann sind über ihren Zenit und können an ihre alten Leistungen nicht mehr anknüpfen, Langlitz ist in Folge der extrem offensiven Ausrichtung der Außenverteidiger und daraus resultierenden Fehlern stark verunsichert und bekommt kein Bein auf die Erde. Die drei Königstransfers erweisen sich als Flops und RWE verliert früh den Kontakt zur Spitze. Der über drei Jahre lang in sportlichen Entscheidungen quasi unsichtbare Welling wird von Teilen der Fans zum Handeln aufgefordert. Wellings Eingeständnis, die nötige Urteilskraft und Kompetenz nicht zu besitzen, mündet in der Suche nach einem geeigneten Vorstand Sport. Wrobel bekommt das Team auch bis zur Rückrunde nicht in die Spur und die erste, wichtige Amtshandlung Wellings im sportlichen Bereich wird die Installation Uwe Harttgens als Vorstand Sport.

2014: Die Ära Harttgen und jede Menge zerschlagenes Porzellan

Bei der Vorstellung sind alle begeistert von dem Mann mit der beeindruckenden Vita: Ein ehemaliger Bundesliga-Spieler, Diplom-Psychologe, erfahren in der Arbeit in der Nachwuchsleitung der DFL und Werder Bremens. Endlich kann Welling sich wieder um die Finanzen kümmern und ein echter Profi übernimmt den sportlichen Bereich - und wie: Trainer Wrobel wird nach einem 4:0-Erfolg entlassen, für ihn übernimmt Marc Fascher. Bereits hier ist die Kommunikation alles andere als optimal. Die heilige Kuh U23 wird abgemeldet, der halbe Kader inklusive der letzten Relikte der Aufstiegsmannschaft wird zur Sommerpause entsorgt. Von Kommunikation mit den Fans oder rituellem Angrillen hält Harttgen wenig, im Verbund mit Fascher hat er schnell den Ruf der kühlen Norddeutschen weg. Die Ausbootung Wagners und Lemkes verwandelt die Hafenstraße bereits vor Saisonbeginn in ein Pulverfass.

Als der Saisonstart nach einem 2:4 gegen den FC Kray endgültig in die Hose geht, explodiert das Pulverfass schließlich. Die gewünschte Professionalität hat zur Folge, dass es keinerlei Identifikationsfiguren mehr auf oder neben dem Platz gibt - Trainer Fascher hat schon früh keinen Kredit mehr. Am 9. Spieltag kommt die bereits enteilte Viktoria aus Köln und führt bis zur 85. Minute problemlos mit 1:0 an der Hafenstraße. RWE dreht völlig aus dem Nichts das Spiel, siegt mit 2:1 und gewinnt in der Folge fast jedes Spiel. Aus einem stabilen 4-4-2 heraus versteht sich die Fascher-Elf vor allem darauf, tief zu stehen und über Standards sowie gute Einzelleistungen zum Erfolg zu kommen. Plötzlich ist RWE Herbstmeister und träumt doch wieder vom Aufstieg. Die Kritik an Harttgen und Fascher wird vom Tabellenstand überstrahlt, bis Cebio Soukou in der Winterpause des Dopings überführt wird, das Spiel in Lotte als Niederlage gewertet wird und die Tabellenführung im Regionalliga-Topspiel in Aachen vor 30.000 Zuschauern abgegeben wird.

Aus den ersten fünf Spielen nach der Winterpause ohne den gesperrten Soukou holt RWE nur einen Sieg bei vier Niederlagen, allesamt mit 0:1. Entgegen anderslautender Absprachen verlängert Harttgen den Vertrag mit Fascher und kurze Zeit später werden beide entlassen. Zurück bleibt ein Trümmerhaufen in Form einer Mannschaft, die in 8 Spielen ganze 2 Tore erzielen konnte, sowie ein zerrüttetes Verhältnis zwischen Fans und Verein. Im Nachhinein erweist sich die erste große Entscheidung Wellings im sportlichen Bereich als großer Reinfall. Jürgen Lucas und Markus Reiter kehren interimsweise die Scherben zusammen, holen immerhin den Niederrheinpokal 2015 und arbeiten gemeinsam mit Welling ein Konzept für die Zukunft aus.

2015: Hafenstraßenfußball

Anhand des Zeitstrahls merkt man bereits, dass fünf Jahre Welling vergangen sind und während dieser Zeit seine einzigen Entscheidungen die Einstellung und Entlassung Uwe Harttgens in Abstimmung mit dem Aufsichtsrat waren. Nach der massiven Kritik an Faschers Defensiv-Fußball entwirft RWE fortan das Modell "Hafenstraßenfußball", das zunächst einmal den Spaß am Spiel zurückbringen soll. Trainer wird Neuling Jan Siewert aus dem Jugendbereich des DFB. Ihm zur Seite gestellt wird dann allerdings der größte Fehler der Ära Welling: Andreas Winkler.

Der Jugendkoordinator wird zum Sportdirektor und fabriziert bei der Kaderzusammenstellung eine wahre Vollkatastrophe. Der wechselwillige Soukou wird zum Verbleib gezwungen und verweigert in der Hinrunde zeitweise die Arbeit. Den Sturm soll Kevin Behrens von Alemannia Aachen verstärken und erweist sich als Unruhestifter, der noch vor der Winterpause suspendiert wird. Um Kasim Rabihic zu verpflichten, nimmt Winkler dessen Berater in Form von Olwa-Luta, Al-Khalaf und Cekic gleich ein ganzes Paket nicht regionalligatauglicher Jung-Kicker ab. Für den mittelmäßigen Außenverteidiger Jeffrey Obst legt RWE Ablöse auf den Tisch, aus Norwegen kommt Joachim Osvold und liefert erschreckende Leistungen ab. Spielmacher Vojno Jesic kann die Erwartungen nicht erfüllen und in der Winterpause werden mit Nagel, Thelen, Gulden und Yesilova Spieler nachverpflichtet, die nicht ein Spiel für RWE machen.

Mitten in dieses Transfer-Wirrwarr und mit der Bürde der Verletzung Marvin Studtruckers versucht der überambitionierte Siewert das Rad neu zu erfinden. Die Vorjahresachse aus Zeiger, Baier und Platzek findet sich auf der Bank wieder und Neuling Moritz Fritz wird zum Kapitän ernannt. Gespielt werden soll ein gepflegter Ballbesitzfußball mit Variationen zwischen hoch positionierter Dreier- bzw. Viererkette, sowie hohem Pressing. Beim Saisonauftakt gegen Wiedenbrück sieht das bis zur roten Karte für Jeffrey Obst auch gut aus, geht dann aber mit 0:3 in die Hose. Ein tolles Pokalspiel gegen Düsseldorf geht im Elfmeterschießen verloren und ein Tor von der Mittellinie verhindert gegen Rödinghausen drei Punkte. "Fußballgott, wo bist du?", fragt der sichtbar hoch veranlagte, aber mit seiner ersten Trainerstation überforderte Siewert und findet trotz eines zwischenzeitlichen 9:1 über Erndtebrück und einiger überzeugender Auftritte keine richtigen Antworten.

Im Gegensatz zu Marc Fascher schafft er es immerhin, die Fans ins Boot zu holen und darf bis zur Rückrunde trotz der drohenden Abstiegsränge weiterarbeiten. Nach einer rekordverdächtigen Unentschieden-Serie und Niederlagen gegen die Top-Teams Viktoria Köln und Sportfreunde Lotte muss Welling dann jedoch die Reißleine ziehen und verpflichtet in Abstiegsnot Sven Demandt als neuen Trainer. Dieser ist den Fans vor allem als Trainer der Meistermannschaft aus Gladbach positiv in Erinnerung geblieben, schließlich setzte es einige heftige Pleiten gegen den Angstgegner der Rot-Weissen. Demandt setzt auf defensive Stabilität im 4-2-3-1 oder 4-4-2 und vermeidet Experimente. Es gibt keinen Widerstand gegen seine Verpflichtung oder seine Spielweise und mit 16 Punkten aus 8 Spielen gelingt schließlich auch dank des einzig überzeugenden Winterneuzugangs Frank Löning der Klassenerhalt. Ein wenig beachteter Fakt der Rettung ist jedoch, dass die Gegner der Demandt-Elf Erndtebrück, Velbert, Ahlen, Aachen, Schlacke II, Oberhausen, Kray und Dortmund II hießen - gegen diese Gegner holte auch Siewert satte 14 Punkte. Der viel zitierte Hafenstraßenfußball verschwindet angesichts der Abstiegsangst wieder in der Mottenkiste und Sven Demandt erhält freie Hand, um das Team zu stabilisieren und ins obere Tabellendrittel zu führen. Statt Hafenstraßenfußball heißt es nun...

2016 bis jetzt: ...zusammen hoch³!

In drei Jahren soll RWE in die dritte Liga aufsteigen und der Ergebnisfußball ist zurück. Es gelingt Sven Demandt in Jahr 1, die Defensive zu stabilisieren und das Team auf einen fünften Rang, sowie durch den Duisburger Aufstieg trotz des verlorenen Niederrheinpokalfinales in den DFB-Pokal zu führen. Die Hoffnungen ruhen auf punktuellen Verstärkungen für 2017 und einer auf der stabilen Defensive aufbauenden, verbesserten Spielkultur. Sah man die Mängel bei eigenem Ballbesitz im Vorjahr noch als Ausläufer der Fastabstiegssaison, galten bei voller Vorbereitung und gezielten Verstärkungen 2017/2018 keine Ausreden mehr. Mindestens auf Tuchfühlung zur Spitze sollte die Mannschaft sich bewegen.

Stattdessen ein gewaltiger Rückschritt: Defensive Anfälligkeit bei Standards, keinerlei Balance zwischen Offensive und Defensive mit Mängeln im Umschaltspiel, in Heimspielen keinerlei Plan den eigenen Ballbesitz konstruktiv zu nutzen, stattdessen lediglich gute Auswärtsauftritte, die allerdings dennoch nicht in Siege umgemünzt werden können. Nach 11 Spielen ist auch für Sven Demandt Schluss und obwohl nun alle Finger in Richtung Welling zeigen muss die Frage erlaubt sein, was ernsthaft gegen Sven Demandts Verpflichtung im Frühjahr 2016 sprach.

Ein Trainer aus der eigenen Jugend, der bereits in der Regionalliga Meister wurde, einen Ausflug in Liga 3 vorweisen konnte und in seinen Spielen gegen RWE regelmäßig ansehnliche Schützenfeste fabrizierte. Lag es daran, dass er in Gladbach eine hochtalentierte U23 zur Verfügung hatte, die unabhängig vom Trainer bereits in den Jugendmannschaften eine Spielphilosophie vermittelt bekommen hatte? Ist Demandt etwa eher ein verwaltender Trainer, der bei der Vermittlung einer eigenen Spielphilosophie an eine Seniorenmannschaft an seine Grenzen stößt? Wenn ja, wäre dies aus seinem Engagement in Wehen abzusehen gewesen?

2010-2017: Sieben Jahre Stillstand?

Nun also von sieben Jahren Stillstand durch Fehlentscheidungen zu sprechen wird der bewegten Entwicklung nicht gerecht. Zunächst einmal ging es mehr als zweieinhalb Jahre stetig bergauf, bis der große Einbruch unter Wrobel kam. Mit Harttgen und dessen Trainer Fascher konnte im Winter 2014/2015 dann sogar die Tabellenspitze errungen werden, ehe das große Missverständnis jede Menge Scherben hinterließ, die mit einem neuen Konzept "Hafenstraßenfußball" beseitigt werden sollten. Dieses Konzept, das naiv anmutete und nicht berücksichtigte, dass Fußball insbesondere in der Regionalliga nunmal Ergebnissport ist, scheiterte vor allem aufgrund der Besetzung des Posten des Sportdirektors. Sowohl Wrobel als auch Siewert hätten - Achtung: Spekulation! - an der Seite eines erfahrenen Sportdirektors mit vernünftigem Kader-Management und besserer Kommunikation mit den Anhängern vielleicht die gewünschte Entwicklung schaffen können. Die Demandt-Verpflichtung war aus der Abstiegsnot heraus geboren und wurde von allen in Verein und Umfeld als gute Entscheidung begrüßt. Summa sumarum bleiben in 7 Jahren gar nicht viele Entscheidungen übrig, die Welling direkt anzulasten sind.

Hätte er Uwe Harttgens Charakter vorher durchschauen müssen? Anhand einiger Vorstellungsgespräche? Ihn, den gleichberechtigten Vorstand Sport, in seinen Kompetenzen einschränken sollen? Oder ihn nach dem klaren Vertrauensbruch weiterarbeiten lassen? Hätte Welling sich in die sportlichen Entscheidungen Harttgens einmischen sollen, nachdem dieser extra verpflichtet wurde, um Welling das Feld abzunehmen, von dem dieser keine Ahnung hatte? Die Ära Harttgen ist ein großes Missverständnis das sich vor allem aus der Dynamik der sportlichen (Nicht-)Entwicklung unter Waldemar Wrobel ergeben hat und Welling kaum anzulasten. Das Ende dieser Ära ereignete sich vor gerade einmal zweieinhalb Jahren im Frühjahr 2015, bis dahin gibt es keine Entscheidung die man Welling ernsthaft als vorhersehbare Fehlentscheidung zuschreiben könnte.

Das Konzept Hafenstraßenfußball (bzw. die öffentliche Verkündung mit damit verbundener Anspruchshaltung an einen bestimmten Spielstil) und die Beförderung Andreas Winklers zum Sportdirektor war dann zweifelsohne ein Fehler. Aus dem Fehler Harttgen zog Welling jedoch die Lehren, keinen neuen Vorstand Sport zu installieren, der sofort folgenschwere und irreversible Entscheidungen (Abschaffung U23) treffen könnte, sodass es die kleine, interne Lösung Winkler wurde, die den Verein im Nachhinein in vieler Hinsicht teuer zu stehen kommt. Siewert war ein lohnenswertes Risiko, das unter anderen Umständen durchaus hätte funktionieren können. Bleibt also die Einstellung Demandts in höchster sportlicher Not, die von sämtlichen Anhängern begrüßt wurde und zunächst einmal ihren Zweck erfüllte. Hätte Demandt nun ernsthaft aufgrund möglicher Bedenken durch seinen Kurzaufenthalt in Wehen durch einen anderen Trainer ersetzt werden sollen, weil man ihm die Weiterentwicklung der Mannschaft nicht zugetraut hätte?

Obwohl Michael Welling also nach sieben Jahren die oberste Verantwortung für die Gesamtentwicklung des Vereins trägt, wird es bei genauer Betrachtung sehr schwierig, ihm vermeidbare Fehler vorzuwerfen. Von den wenigen Entscheidungen, die er getroffen hat, wurden die meisten allgemein als gut bewertet. Die Frage muss lauten, ob die richtigen Schlüsse gezogen wurden, um Fehler nicht zu wiederholen oder ob tatsächlich frischer Wind in der Vereinsführung die Ergebnisse verbessern könnte.

Die Forderung einer Entlassung hat bei Fußballfans meistens etwas von der Forderung nach Abstrafung. Jahrelang war der Trainer dran, nun ist der vierte Trainer der Ära Welling entlassen, RWE steht immer noch in der Regionalliga, also muss jetzt Welling entlassen werden, damit jemand anderes Trainer einstellen und entlassen kann und dabei hoffentlich mehr Glück hat. Diese Methode verlagert das Trial-and-error-Prinzip nur eine Ebene nach oben und ist nicht zielführend.

Es spricht derzeit mehr dafür, das solide Fundament, auf das Welling den Verein gestellt hat, gemeinsam mit ihm zu erhalten und dafür dem sportlichen Beirat mehr Kompetenzen einzuräumen. Die vereinzelte Stimmung gegen Welling resultiert hauptsächlich aus den Ausgliederungsplänen (zu denen man absolut anderer Meinung sein kann!) und ist bei genauer Betrachtung nicht auf die wenigen Entscheidungen aus dem sportlichen Bereich zu stützen. Klar ist jedoch auch, dass eine Umstrukturierung des sportlichen Beirats hin zu einer Art Sportvorstand Light mittlerweile nötig ist, um Welling als vermeintlichen Alleinherrscher aus der Schusslinie zu nehmen. Eine differenzierte Sichtweise wird schließlich selten vorgenommen und so bleibt eben am Ende die Bilanz, dass seine Verdienste um ein gesundes, finanzielles Fundament nicht ansatzweise die entsprechenden sportlichen Erfolge nach sich ziehen konnten - und daraus erwächst (berechtigterweise) Unmut.

Eine Frage des Drucks?

Für die These des unmenschlichen Drucks an der Hafenstraße und daraus resultierende, verängstigte Leistungsträger gibt es übrigens überraschenderweise kaum Belege. Stattdessen deutet vieles eher auf eine nach den ersten beiden, erfolgreichen Jamro/Wrobel-Jahren über viele Jahre verfehlte Einkaufspolitik mit reihenweise Kaderleichen hin. Außer den Abgängen Brauer, Avci, Bonmann und Soukou - die auch bei RWE überzeugten - konnte sich lediglich das Lotter Trio Langlitz, Pires und Freiberger sportlich verbessern und spielt nun höher als RWE selbst. Die Legende von den nach ihrer RWE-Zeit wieder aufblühenden Kickern stammt noch aus Zweit- bzw. Drittligazeiten. In den letzten 7 Jahren wurde vor allem jede Menge Regionalliga-Mittelmaß verpflichtet und durch neue Durchschnittskicker wieder ersetzt. Dazwischen befanden sich unzählige Flops, die entweder in der Oberliga oder dem Ruhestand verschwanden. Die teilweise asozialen Ausfälle einiger Anhänger sind sicherlich nicht leistungsfördernd und absolut zu verurteilen, doch wer in den letzten Jahren bei RWE nicht überzeugen konnte, hat es in fast allen Fällen auch danach nicht mehr geschafft.

Die detaillierte Betrachtung der sieben Jahre legt außerdem offen, dass die Rückkehr des ungeduldigen Publikums unter tatkräftiger Mithilfe der sportlich Verantwortlichen erfolgte. Jamro und Wrobel, sowie noch einmal deutlich ausgeprägter Harttgen und Fascher ordneten dem sportlichen Erfolg alles unter und kommunizierten dies auch relativ offen. Unpopuläre Entscheidungen wie die Ausbootungen Thamms, Lemkes oder Wagners erfolgten Jahr für Jahr und bei den Zugängen wurde auf die Fanseele wenig Rücksicht genommen (Knappmann) - dass daraus besonders bei einem Verein mit der Vergangenheit und Größe von RWE Ansprüche erwachsen, sollte niemanden verwundern. Diese Ansprüche nun zu bedienen ist keine einfache Aufgabe, doch die These, dass Michael Welling in Verbund mit den sportlich Verantwortlichen seit Jahren einen Fehlschuss nach dem nächsten produziert hat ist so ebenfalls nicht haltbar. Vor allem mit Blick auf die chaotischen 1990er und 2000er Jahre sollte man ihm zumindest zugestehen, das Projekt "hoch3" in Ruhe weiterzuführen und nun einen Trainer zu präsentieren, der eine Mannschaft entwickeln kann, die dann im Folgejahr tatsächlich bis zum Schluss um den Aufstieg mitspielt.