Die Stimmung ist am Tiefpunkt – mal wieder! - Ein Kommentar
Nach der desaströsen Leistung vom Freitagabend gegen Kray ist die Zeit der Kommentare in der lokalen Medienlandschaft gekommen: Während die Reviersport diverse Fehlentscheidungen des neuen Vorstandes Sport erkannt haben will und vom Verkauf der Vereinsseele spricht, prangert die WAZ die Ungeduld der Anhängerschaft an und fordert eine Stärkung des „Wir-Gefühls“ ein. Die Wahrheit dürfte wie so oft dazwischen liegen, aber zu welchen Anteilen?
Das Folgende ist der Versuch einer Analyse, weshalb die Stimmung trotz der von allen gewünschten Professionalisierung des Vereins nach so kurzer Zeit wieder auf dem Nullpunkt angekommen ist. Basierend auf 30 Jahren Hafenstraßen-Erfahrung soll dabei vor allem die Reaktionen der Anhänger auf die diversen Neuerungen und Personalentscheidungen eingegangen werden.
Identifikation: ein bei der neuen Führung und Mannschaft unterschätzter Faktor?
In einer Phase, in der der große Identifikationsfaktor „Georg-Melches-Stadion“ weggebrochen ist und sich die Anhängerschaft im neuen Stadion ohne Stallgeruch immer noch nicht so richtig heimisch fühlt, ist die Existenz von Identifikationsfiguren besonders wichtig. Das scheint aber noch nicht alle neuen Spieler und Verantwortlichen erreicht zu haben, denn aus verschiedenen Fankreisen häufen sich die diesbezüglichen kritischen Stimmen: Angefangen beim langjährigen ehrenamtlichen Kameramann André Fabritz (hörte auf, weil aus seiner Sicht „einige versuchen, RWE neu zu erfinden“ und das nicht mehr sein Verein sei), über den offenen Brief der Ultras Essen vom 31.07.14 bis zu den Aussagen unseres Aufsichtsrat-Fanvertreters vom 06.09.14 in seinem Thread im RWE-Forum: Sie alle blasen in dasselbe Horn, nämlich, dass eine notwendige Professionalisierung und ein angemessener Umgang miteinander sich nicht gegenseitig ausschließen.
Es handelt sich also nicht um Kritik, die der Verein irgendwelchen einzelnen Forums-Krakeelern zuordnen kann und deshalb keine Bedeutung zuzumessen braucht, es ist fundierte, unabhängig voneinander hervorgebrachte Kritik aus wichtigen Teilen des Fanlagers, das kann und darf der Verein nicht ignorieren!
Gemeint ist damit nicht nur der vereinsinterne Umgang miteinander, sondern auch der mit der Anhängerschaft. Natürlich können die Spieler nicht jeder Einladung folgen und jedem Stammtisch beiwohnen. Aber Vollzeitfußballer sollten doch zumindest das hinbekommen, was frühere Teilzeitfußballer im Verein geschafft haben. Und wenn nicht, dann sollte eine kurze freundliche Absage per E-Mail doch das mindeste sein, was man erwarten kann. Selbst das ist aber offenbar keine Selbstverständlichkeit, wenn man den Stellungnahmen der Ultras und des Fanvertreters Glauben schenken darf. Identifikationsaufbau zwischen den neuen Spielern und Fans? Das genießt jenseits des Fußballplatzes von der Mannschaftsseite aus scheinbar keine Priorität.
Auch die viel diskutierte Personalentscheidung Wagner ließ unter den Anhängern Zweifel aufkommen, ob man Identifikation nur als Worthülse verwendet oder doch ernst nimmt.
War die Diskussion um den schon früh bekanntgegebenen Abgang von Holger Lemke doch recht schnell abgeebbt, da er keinen gültigen Vertrag mehr für 2014/15 besaß und sich trotz seines unstrittigen Einsatzwillens nur in der Oberliga als Stammspieler durchsetzen konnte, so kochten die Emotionen bei Vincent Wagner doch deutlich höher. Die Entscheidung, DIE Identifikationsfigur unter den Spielern trotz gültigen Vertrages abzuschieben, drohte schon früh und absehbar zum Boomerang zu werden. Die Erwartungshaltung an die neuen Innenverteidiger wuchs nämlich fast zwangsläufig kräftig an: Jeder einzelne neue Verteidiger musste besser sein als Wagner, nur das würde rechtfertigen, ihn nicht mal als Backup zu halten.
Die Folgen dieser Entscheidung bekommt zurzeit vor allem Neunaber zu spüren, der als Nr.1-Verteidiger und Kapitän gegen Oberhausen und Kray sogar die früheren schwachen Auftritte von Wagner nochmal deutlich unterbot.
Wagner, der im Gegensatz zu Wrobel inzwischen freilich das eine oder andere Wort zuviel mit der Presse über die Trennung gesprochen hat, stellte vor dem Spiel gegen Dortmund eine viel diskutierte Frage: Warum zahlte man ihn lieber aus, anstatt einen langjährigen Leistungsträger auf der Bank sitzen zu haben? Diese Frage konnte Dr. Harttgen ihm scheinbar nicht beantworten, folglich sah der neue Vorstand Sport trotz der Brisanz auch keine Notwendigkeit, die Entscheidung den Anhängern näherzubringen. Schade, denn vielleicht gibt es ja gute Gründe, die wir nicht sehen. Die Möglichkeit, erklärend-beschwichtigend auf die hochkommenden Emotionen einzuwirken, wie es früher Dr. Welling regelmäßig machte, wurde nicht wahrgenommen. Wir haben es halt zu schlucken.
So muss der Verein weiterhin mit den Diskussionen leben: Wenn man Wagner – wovon alle Fans aufgrund des laufenden Vertrages ausgingen – einfach als Backup behalten hätte, was wäre eigentlich die schlimme Konsequenz für den Verein gewesen? Hätte man das Saisonziel mit einem Wagner als Verteidiger Nr. 5 etwa auf Platz 10 runterkorrigieren müssen?
Nochmal zur Erinnerung: Wir reden hier nicht über die gewollten Vertragsauflösungen mit Spielern wie Wingerter oder Sauter, die kaum was für den Verein geleistet haben, und auch nicht über einen abgehalfterten Altstar im Spätherbst seiner Karriere, sondern über einen sich mit dem Verein voll identifizierenden, langjährigen Leistungsträger im besten Fußballalter. Man entschied sich aber gegen Identifikation und muss jetzt mit den Folgen leben.
Nur am Rande: Indirekt hat diese Identifikationsentwicklung und -diskussion aber auch einen überraschenden Gewinner hervorgebracht: Walter Ruege! Zu Zweitligazeiten noch als zu bieder und langweilig kritisiert und schon als Auslaufmodell abgestempelt, hat er sich inzwischen zur festen Größe entwickelt und genießt eine Anerkennung, von der er vor Jahren wohl nur träumen konnte. Er gilt inzwischen als die einzige Konstante im Verein, als die Stimme, die in Gedanken das alte Georg-Melches-Stadion noch mal aufleben lässt. Der Einsatz des Field-Sprechers gegen RWO wurde sehr kritisch gesehen, und wenn er überhaupt weitere Einsätze bekommen sollte, so waren sich fast alle einig, dann nur neben, aber nicht anstelle von Walter Ruege. Ein Glück, dass die sportliche Führung offenbar keinen Einfluss auf die Besetzung des Stadionssprechers hat!
Die Abschaffung der U23 – Entscheidung ok, aber trotzdem ein Schnellschuss?
Es geht jetzt überhaupt nicht mehr um die Frage, ob die Entscheidung, die U23 abzuschaffen, wirklich richtig war. Es geht vielmehr um den Zeitpunkt und die Art und Weise der Umsetzung.
Die Diskussion um die U23 kam zunächst mal völlig überraschend: Zum einen war die U23 gerade erst unter hohem Aufwand und großem Jubel zurück in die Oberliga geführt worden, zum anderen war Harttgen jahrelang im Jugendbereich von Werder Bremen tätig, und dort spielt in der Oberliga sogar schon die dritte (!) Mannschaft, ohne dass Sinn und Zweck einer solchen Ausbildungsmannschaft in Frage gestellt wurden. So kam niemand auf die Idee, dass die von Bayer Leverkusen losgetretene Diskussion auch in Essen eine Rolle spielen würde. Dieser Eindruck täuschte, aber das erklärt erstmal nur den anfänglichen Aufschrei unter den Anhängern, als die RS erstmals von diesen Überlegungen berichtete. Dass die Diskussion heute immer noch nicht erloschen ist, hat vermutlich andere Gründe:
Auf der Pressekonferenz zum neuen Jugendkonzept (23.05.) oder im Jawattdenn-Interview mit Dr. Harttgen wurden die folgenden Säulen des neuen Konzepts ohne U23 hervorgehoben:
- Eine Stärkung der A-Jugend, weil der Sprung von der A-Jugend-Bundesliga in die Regionalliga nicht besonders groß sei.
- Die Stärkung der A-Jugend erfolge durch Halten von starken B- und C-Jugend-Spielern, die bisher schon früh zur Bundesliga-Konkurrenz abgesprungen sind.
- Ein fester, vertraglich fixierter Kooperationspartner, bei dem sich Spieler entwickeln können, die Talent, aber den Sprung in die erste nicht direkt geschafft haben.
Die A-Jugend ist abgestiegen. Kann passieren. Aber der Leistungsunterschied zwischen der Niederrheinliga, in der Kantersiege an der Tagesordnung stehen, und der Regionalliga West ist enorm, das hat auch Andreas Winkler in einem früheren Interview mit uns festgestellt. Offiziell wird heute aber auf heile Welt gemacht und dass der Abstieg überhaupt kein Problem sei, was nicht nur im Widerspruch auch zu anderen früheren Aussagen Winklers, sondern ebenfalls zur überraschend kurzfristigen Entlassung des A-Jugendtrainers Rudnik mitten im Abstiegskampf steht. Dass ein Abstieg aufgrund des neuen Konzeptes keine ernsthaften Konsequenzen haben werde, bekam Rudnik bei seiner Entlassung vermutlich nicht zu hören.
Einen festen Kooperationspartner gibt es zudem auch (noch?) nicht, obwohl man in der Pressekonferenz vom 13.05. angekündigt hatte, kurz vor einem Abschluss mit einem „ambitionierten Oberligisten“ zu stehen. Heute wissen wir, dass es sich um den ETB handelte. Die Verhandlungen scheiterten und eine Alternative scheint nicht in Sicht, Informationen bezüglich dieses Themas kommen vom Verein seit Wochen nicht mehr. So bleibt für die Anhänger als sichtbare Produkte des neuen Jugendkonzeptes zurzeit Folgendes:
- die U23 exisitert nicht mehr
- ein fester Kooperationspartner ist nicht in Sicht
- die A-Jugend spielt gegen Straelen und Klosterhardt statt gegen Schalke und Dortmund
Es wirkt von außen wenig professionell und diskussionswürdig, wenn man die U23 schon abschafft, bevor man die Voraussetzungen für die angekündigten Veränderungen vertraglich fixiert hat. Weshalb also diese Eile bei der Abschaffung der U23? Man könnte die Eile vielleicht noch nachvollziehen, wenn man schnell mehr Etat-Spielraum für die erste Mannschaft hätte schaffen wollen, aber eine Abschaffung der U23 auch aus finanziellen Gründen wurde von Dr. Harttgen und Dr. Welling explizit ausgeschlossen. Dann bleibt unter den Anhängern die immer noch diskutierte Frage: Was sprach Zwingendes dagegen, in dieser Saison erstmal im Hintergrund alle Voraussetzungen bezüglich des Koop-Partners zu schaffen, so dass man erst am Ende der Spielzeit 2014/15 die U23 zurückgezogen hätte und gleichzeitig den neuen Koop-Partner und im Idealfall sogar eine wiederaufgestiegene A-Jugend hätte präsentieren können?
Angenommen, Dr. Harttgen hätte im Frühsommer folgendes verkündet: „Wir haben kein dazu passendes Konzept, aber wir schaffen einfach mal willkürlich die U23 ab und schauen, was passiert!“ Der Verein hätte heute sportlich für Außenstehende kaum anders aufgestellt sein können, die sichtbaren Folgen wären dieselben.
Mehr Transparenz ist also auch hier notwendig, die offiziellen Aussagen bleiben schwammig: Dass man die Spieler „bestmöglich und individuell fördern und ausbilden“ möchte, ist selbstverständlich. Aber was konkret haben die diesjährigen A- und B-Jugendlichen mehr als die vorherigen Jahrgänge? Was sind die Facetten der besseren Förderung? Wie ist der Stand der Dinge bezüglich eines festen Kooperationspartners? Und was macht eigentlich „Putsche“? Die Diskussion um die U23 wird so schnell nicht aufhören, solange die Umsetzung des neuen Konzepts keine sichtbaren positiven Effekte hat. Das kann nicht von heute auf morgen gehen, aber, siehe oben, man hätte diesen Schritt auch langsamer angehen und in diesem Sommer einen großen Stimmungskiller weniger lostreten können, um später besser vorbereitet das neue Konzept starten zu können.
Nicht nur der Zeitpunkt, die Art und Weise der Abschiebung der U23 sorgte auch hier für kritische Stimmen: Warum erfuhren die Spieler der U23 nach eigenen Aussagen nur aus den Medien von den aktuellen Strömungen? Es gibt zwar keinen Vereinsgrundsatz, der ihn dazu zwingt – aber hätte sich Dr. Harttgen einen Zacken aus der Krone gebrochen, wenn die Mannschaft von ihm persönlich und nicht durch Zeitungen über die Zukunft der U23 informiert worden wäre? Es hätte nichts an den Tatsachen geändert, aber einen etwas besseren Eindruck hinterlassen. Das war aber nur ein kleiner Nebenkriegsschauplatz.
Der Trainer: Weshalb wirkt der neue Trainer, den wir alle wollten, schon nach sechs Spielen der neuen Saison in Fankreisen so verbraucht?
Seine Vergangenheit, in der er sich eher als Defensivspezialist einen Namen gemacht hatte, kann kein Grund sein (Ganz im Gegenteil, seine Defensivstrategien hat er wohl komplett in seiner Heimat gelassen). Spätestens nach den ersten Stürmer-Transfers sprach auch nicht mehr viel dafür, dass wir auch mit der neuen Mannschaft weiterhin die „kontrollierte Offensive“ zu sehen bekommen würden. Dass er schon bei diversen Vereinen wegen Erfolglosigkeit gefeuert wurde – geschenkt! Denn wenn man einen Profi-Trainer haben möchte, dann gehört das einfach dazu. Die Grundstimmung war also positiv.
Aber: Auch er konnte die von Wrobel vorhandene Mannschaft nicht mehr wie erhofft auf den Leistungsstand der Saison 2012/13 bringen, die letzten Heimspiele waren spielerisch noch schlechter als in den letzten Heimspiele unter Wrobel. Die nicht seltene Gefahr, dass ein während der Saison neu verpflichteter Trainer schon ein wenig Kredit verspielt, bevor die neue, nach eigenen Vorstellungen zusammengestellte Mannschaft ihre ersten Einsätze hatte, war real.
Manche Fans fühlen sich nach den ersten Spielen der neuen Saison an Heiko Bonan zurückerinnert: Seit Bonan gab es keinen Trainer, bei dem bestimmte Entscheidungen für alle so wenig nachvollziehbar waren. In den meisten Fällen treffen zwei Meinungen mit guten Argumenten für beide Seiten aufeinander, aber es gibt inzwischen keinen einzigen Anhänger mehr, der z.B. noch irgendeinen plausiblen Grund für die erneute Aufstellung von Neunaber gegen Kray nennen kann (wenn man eine vertraglich fixierte Stammplatzgarantie mal ausschließt). Schlechter kann kein Nakowitsch oder auch irgendein Spieler agieren. Ausgerechnet in diesem Jahr, wo doch mehrfach betont wurde, dass man für jede Position gleichwertige Alternativen auf der Bank habe, kommen diese selbst bei extremen Formschwächen der Stammverteidiger nicht zum Einsatz.
Warum? Das kann nur der Trainer beantworten. Solange er das aber nicht tut, werden die Diskussionen, Spekulationen und das Unverständnis nicht enden. Auch, dass Neunaber nach seiner schon recht durchwachsenen Vorbereitung als Kapitän bestimmt wurde, war zu diesem Zeitpunkt schon eine Kontroverse, aber noch erklärbar. Heute nicht mehr. Würde Neunaber nicht die Binde tragen, es käme wohl niemand auf die Idee, dass er der Kapitän der Mannschaft ist. Keine Ansagen auf dem Feld, nach Gegentoren erweckt er den Anschein von Gleichgültigkeit. Längst haben auf dem Platz inoffiziell Platzek und Baier die Kapitäns-Aufgaben übernommen.
Er kann einem schon Leid tun, der Neunaber, ist er doch indirekt, wie oben beschrieben, auch ein Opfer der Ausbootung von Wagner.
Wenn Fascher nach dem noch glücklich gewonnnen Bochum-Spiel ankündigt, die Ursachen für die schwachen Defensivleistungen gefunden und behoben zu haben und sich in beiden darauffolgenden Spielen jeweils vier Hütten fängt, dann ist das wohl ein klassisches Eigentor. Insbesondere der schnelle Systemwechsel nach 15 Minuten gegen Oberhausen erinnerte wieder an eine ähnliche Situation unter Bonan.
Auch nicht als unproblematisch wird die hohe Anzahl von gewünschten Vertragsauflösungen gesehen. Wenn er sich nicht in der Lage sieht, mit den Leuten zu arbeiten, die vertraglich noch gebunden sind, dann verursacht er dem Verein damit zunächst mal ein Problem. Man zahlt den Spielern eine Abfindung und als Gegenleistung erhält der Verein lediglich das Ausräumen des Spindes. Oder, wie bei Wingerter, man zahlt das volle Gehalt dafür, dass er beim Training teilnimmt. Im Fall Guirino zahlte man sogar eine Abfindung für einen noch zwei Jahre gültigen Vertrag, um später festzustellen, dass mit Huckle der gewünschte Ersatz für Guirino überhaupt nicht mehr finanziert werden konnte. Nur aufgrund des Verzichts auf einen beträchtilichen Teil seines Gehalts konnte die Backup-Position letztlich doch noch besetzt werden.
Und letztendlich – siehe Wagner – geht alles einher mit einer Erwartungshaltung unter den Fans, dass die Neuen sichtbar besser sind als die Geschassten. Diesen Nachweis konnten viele Spieler noch nicht erbringen.
Es gibt noch weitere kritische Aspekte, das sind nur beispielhaft einzelne Gründe, die dafür verantwortlich sein können, dass auch Fascher seinen Welpenschutz schon früh verloren hat.
Der Umbruch: War er von den Fans gewollt? Und reagieren sie jetzt über?
Es waren Veränderungen gewollt, in erster Linie auf der Trainerbank. Auch Dr. Harttgen wurde mit viel Wohlwollen empfangen und als der richtige Mann angesehen, insbesondere aufgrund seiner Erfahrung im Jugendbereich. Dass die Veränderungen aber so heftig, so kurzfristig, so radikal ausfielen, haben viele Anhänger nicht kommen sehen und es setzte bei einigen Fans Schnappatmung ein.
Wrobel hatte sich bei allem Dank für seine herausragende Aufbauarbeit nach der Insolvenz verbraucht und nach dem fünften Platz in der Saison 2012/13 war nach dem Fehlstart in die Saison 2013/14 die Sachlage für die Anhängerschaft klar: Die erfolgreiche Stammelf wurde bis auf Avci zusammengehalten und versagte trotz namhafter Verstärkungen, deshalb konnte nur der Trainer Schuld an der Misere sein. Es war Wrobel, der aus Sicht der Anhängerschaft wahlweise kein Konzept hatte, nicht (mehr) motivieren konnte, sich auf dem Transfermarkt Fehlgriffe leistete, falsch aufstellte, falsch auswechselte, keine Fehler einsah, usw…. Ein neuer Trainer sollte, so die Vorstellung, das in Angriff nehmen, was Wrobel nach vielen erfolgreichen Jahren nicht mehr gelungen ist: Den Kern der Mannschaft, die den fünften Platz belegt hatte, gezielt zu verstärken, um die Spitzenplätze anzugreifen zu können. Am besten unterstützt durch neue sportliche Kompetenz in der Administration. Und vorher hoffte man noch auf den klassischen "Neuer-Besen"-Effekt: Spieler wie Langlitz, Koep oder Wingerter, die nie an ihr altes Leistungsvermögen anknüpfen konnten, würden unter dem neuen Übungsleiter aufblühen.
Die Hoffnung wurde nicht erfüllt. Stattdessen haben wir "gefühlt", das hört man vielerorts im Stadion und nicht nur bei Fabritz, nicht nur einen neuen Trainer und Vorstand Sport, sondern auch einen neuen Verein erhalten, mit dem sich nicht mehr alle identifizieren können. Innerhalb eines halben Jahres unter der neuen sportlichen Führung gab es mehr unpopuläre und wochenenlang für Diskussionen sorgende Entscheidungen, als in fünf Jahren unter Welling / Jamro / Wrobel zusammen. Manche waren sicher notwendig und nachvollziehbar, andere nicht. Parallel zum Ärger und Unverständnis wuchs wie oben schon beschrieben die Erwartungshaltung: Mit 13 Neuzugängen – fast ausschließlich Vollprofis mit höherklassiger Erfahrung, einem erhöhten Etat und einem vermeintlich besseren Trainer war alles andere als ein Angriff auf die Spitzengruppe nicht akzeptabel. Und wenn die Mannschaftsleistung schon zu einem frühen Zeitpunkt der Saison sogar mit dem betont vorsichtigen Saisonziel (Platz 5 oder besser) nicht mehr in Einklang zu bringen ist, zeigt sich die Hafenstraße von ihrer anderen Seite. Die teurere Mannschaft knüpft spielerisch dort an, wo die alte aufgehört hat und weist dabei von Woche zu Woche eklatantere Defensivschwächen auf. Wenn sie zudem auch noch wie am Freitag in einem Derby jeglichen Kampfgeist vermissen lässt, dann ist die Reaktion vom Freitagabend zumindest nicht unerklärlich, zumal die Stimmung erst nach dem 2:3 kippte.
Umgekehrt erhält eine Mannschaft, die augenscheinlich kämpft, auch an der Hafenstraße Unterstützung und Applaus. Das war gegen Aachen der Fall, obwohl man nach der roten Karte das Offensivspiel quasi eingestellt hatte, und das war auch gegen Oberhausen der Fall, obwohl die Verteidigung ihren Namen schon in diesem Spiel nicht verdiente.
Trotzdem sind bestimmte Eigenarten der Westkurve, wie am Freitag das Bejubeln von Gegentoren oder der hämische Beifall, nachdem Heimann einen Ball mal gefangen hatte, eines Essener Anhängers unwürdig, erst recht am sechsten Spieltag.
Der Ärger ist nachvollziehbar, aber manche Reaktionen schießen deutlich über das Ziel hinaus.
Fazit:
Die Hafenstraße ist kein leichtes Pflaster, das war sie auch nie und das kann deshalb niemanden überraschen. Insbesondere Torhüter hatten und haben es nach Frank Kurth schon traditionell schwer. Zu Zweitligazeiten sah sich mal Jürgen Gelsdorf schon nach zwei Spielen durch die Fans genötigt, Robert Wulnikowski auf die Bank zu setzen. Dagegen ist es jetzt fast noch ruhig. Trotzdem tragen die Anhänger zurzeit natürlich nicht zur Besserung bei. Es stehen aber Spieler im Kader, die im Laufe ihrer Karriere schon mit ganz anderem Druck umgehen mussten, als in der Regionalliga den fünften Platz zu erreichen oder den FC Kray zu besiegen.
Die Probleme sind hauptsächlich hausgemacht und nicht allein auf die Fankurve abzuwälzen. Die Unterstützung war bis zum 2:3 am Freitag auch absolut positiv, das Remis gegen RWO wurde wie ein Sieg gefeiert, obwohl die Probleme der Mannschaft schon offensichtlich waren. Die Westkurve ist aber kein Ort der geordneten Emotionen und wohldurchdachten Äußerungen. Umso wichtiger ist es, dass auch die Mannschaft den Dialog mit den Fans sucht, und zwar jenseits der Westkurve. Einladungen von Fanseite aus gibt es scheinbar genug, die Spieler müssen es nur wollen. Durch den persönlichen Kontakt ließe sich so mancher Geduldsfaden der Anhänger sicher wieder ein wenig stärken. Ansonsten hätte sich auch ein nicht fehlerfrei spielender Vincent Wagner nicht ein solches Standing erarbeiten können. Das Gefühl, dass sich die Mannschaft mit dem Verein identifiziert, ist unabdingbar. Gleiches gilt natürlich auch für Marc Fascher und Uwe Harttgen.
Ein Verein, der sein letztes Bundesligaspiel im Jahre 1977 bestritten hat, kann es sich nicht leisten, sein größtes Pfund, das ihm geblieben ist, zu verärgern oder gar zu verlieren – und zwar unabhängig davon, ob sich die Meinungen und Stimmungen der Anhänger nun förderlich auf die Leistungen der Spieler auswirken oder nicht. „Schützenswertes Kulturgut“ braucht ein Umfeld, das es als schützenswert ansieht.
Gleichwohl ist es viel zu früh, die Arbeit von Dr. Harttgen und Fascher abschließend zu bewerten. Auch "Vollprofis" können und dürfen Fehler machen und aus ihnen lernen. Einsicht vorausgesetzt, kann mit der Unterstützung der Fans auch endlich wieder ein wenig Ruhe zurückkehren. Auch die Mannschaft muss die Gelegenheit erhalten nachzuweisen, dass die Katastrophen-Leistung gegen Kray eine Ausnahme war. Sie steht aber in erster Linie in der Pflicht, nicht die Anhänger. Es spricht aber auch nichts dagegen, die Mannschaft gegen Mönchengladbach bedingungslos anzufeuern und mögliche Unmutsäußerungen, die hoffentlich nicht notwendig sein werden, erst nach dem Schlusspfiff kundzutun.
Es ist nicht klar, welche Rolle Dr. Welling, der wie kein anderer im Verein Stimmungen unter den Fans deuten und beschwichtigend einwirken kann (und das auch tut!), bei all den Veränderungen spielte. Ist er vereinsintern eine eher passive, eine skeptische, eine hinterfragende oder doch eine treibende Kraft gewesen? Im WAZ-Interview vor dem Lotte-Spiel wollte er die Frage, ob er alle Entscheidungen des Sportvorstandes teile, jedenfalls nicht mit einem klaren „ja“ beantworten, sondern wich der Fragestellung aus, indem er feststellte, dass ihm eine Kommentierung der sportlichen Entscheidungen nicht zustehe. Eine Aussage, die in viele Richtungen interpretierbar ist.
Herr Dr. Welling, wir hätten da mal ein paar Fragen!