Alle Jahre wieder...
Nicht nur zur Weihnachtszeit ist dieser altbekannte Spruch bei Anhängern von Rot-Weiss Essen bekannt und scheinbar stets aktuell. Mit gewohnt großem Enthusiasmus sowohl von Vereins- als auch von Fanseite starteten die Bergeborbecker die laufende Regionalligasaison 2015/16, kurz vor Toresschluss der Hinrunde ist die Ernüchterung groß.
Lediglich 22 Zähler aus 17 Partien konnten die Essener erringen, vor dem kleinen Revier-Derby bei der Dortmunder Zweitvertretung schaut der Traditionsverein eher Richtung Oberliga, denn in die Aufstiegsregion. Da ist die Fanseele einmal mehr geschunden, seit nunmehr sieben Jahren, mit einem einjährigen Intermezzo in Liga 5, kickt RWE in der viertklassigen Regionalliga, derzeit ist keine Besserung in Sicht. Was sind die Gründe des Status Quo? Ein Versuch der Aufarbeitung.
Trainer und sportliche Leitung
Gerade 32 Lenze ist Rot-Weiss Essens Chefcoach Jan Siewert jung. Vom DFB gekommen sind die Rot-Weissen die erste echte Trainer-Station des Newcomers. Ambitioniert und wortgewaltig stellte sich Siewert zu Saisonbeginn vor. Man wolle die Fans mit echtem Hafenstraßenfußball begeistern und mitnehmen, offensiv und dominant agieren. Die Vorbereitung machte Appetit auf mehr, RWE fegte mit 7:0 über den Lokalrivalen ETB hinweg und trotzte dem spanischen Zweitligisten Real Mallorca ein Remis ab. Dann kam der erste Spieltag. Die Rot-Weissen spielten den SC Wiedenbrück zunächst an die Wand, machten jedoch keinen Treffer, dann sah Jeffrey Obst eine höchst überflüssige Rote Karte. Auch in Unterzahl ließen sich die Essener nicht die Butter vom Brot nehmen, um dann doch in der Schlussviertelstunde mit 0:3 unterzugehen. Ein seltsames Spiel. Eine Woche später begeisterte RWE seine Anhänger im Pokal gegen der Erzrivalen Fortuna Düsseldorf über 120 Minuten, war die klar bessere Mannschaft, um dann im Elfmeterschießen einzugehen wie eine Primel. Wer weiß, was möglich gewesen wäre, hätte die neu formierte Truppe beide Spiele vom Ergebnis besser über die Bühne gebracht.
Fortan war fußballerisch wenig Klasse zu sehen, auch ein 9:1 gegen Erndtebrück kann nicht über den Gesamteindruck hinweg täuschen. Trainer Siewert würfelte seine Truppe fast von Spiel zu Spiel durcheinander, Personal und Formation wechselten so häufig, dass sich keine Mechanismen ausprägen konnten. Fraglich ist, ob ein solch unerfahrener Coach die nicht seltenen Krisensituationen an der Hafenstraße zu meistern weiß. Zweifel sind angebracht. Umgekehrt war das Siewertsche Grundverständnis vom Fußball in den ersten Saisonspielen durchaus zu sehen. Es bleibt zu hoffen, dass er seinen Kader auf diesen Weg zurückführen kann. Den Ex-Alemannen Kevin Behrens hat er jedenfalls bereits suspendiert und ausgemustert, weil eben dieser nach Meinung des Trainers den gemeinsamen Weg verlassen hatte. Neuerdings ist Siewert auch mit Cebio Soukou über Kreuz. Hier gilt es den richtigen Gradmesser zwischen notwendiger Autorität und Aktionismus zur Krisenbewältigung zu finden. Ein 108-jähriger Traditionsverein wie RWE ist keine DFB-Nachwuchsmannschaft und kein Experimentierfeld. Eine klare Linie ist notwendig. Findet Jan Siewert diese, besteht noch Hoffnung auf Besserung. Trainer zu sein bedeutet allerdings mehr als Vokabeln wie Gegenpressing, Offensivfußball oder Dominanz in einen Verbal-Cocktailmixer zu packen. Mit Andi Winkler haben die Essener einen Mann mit Stallgeruch als krasses Gegenmodell zum borniert und kaltblütig auftretenden Uwe Harttgen als sportlichen Leiter installiert. Einst ein von den Fans geschätzter Kicker, tritt Winkler geerdet auf. Allerdings fehlt ihm ebenso die Erfahrung wie Jan Siewert. Bislang auch ein glückliches Händchen.
Die Mannschaft
Es gibt kaum einen Trainer der Regionalliga West, der vor Begegnungen mit RWE nicht vor Essens grundsätzlichem starkem Kader warnt. Essen hat potenzielle Führungsspieler wie Philipp Zeiger, Marwin Studtrucker, Benjamin Baier, Kasim Rabihic oder Gino Windmüller unter Vertrag. Hinzu kommen etliche hoch angepriesene Talente. Es scheint nicht erklärbar zu sein, warum man so weit hinter den eigenen Ansprüchen hinterher hinkt. Hier darf zunächst darauf verwiesen werden, dass ein guter Kader noch lange keine gute Mannschaft bedeutet. Viel zu häufig gewinnt der Betrachter den Eindruck, dass nicht wirklich ein Team auf dem Platz steht, dass nicht alle Spieler den notwendigen Biss mitbringen, um auf dem Feld bestehen zu können. Packt ein Gegner den Knüppel Härte aus, so lassen sich die Essener ein um das andere Mal einfach den Schneid abkaufen. Es ist vielleicht eine Floskel, aber wo bitte ist der letzte Wille, sich in den Dienst einer Mannschaft zu stellen und das sprichwörtliche Gras zu fressen? Dank des weltweit vorbildlichen DFB-Ausbildungssystems verfügt Deutschland über eine solch hohe Anzahl an talentierten Jungprofis wie sehr wahrscheinlich noch nie in seiner Geschichte. Diese wirken allerdings auch immer gleichförmiger und austauschbarer. Taktisch perfekt geschult fehlen dem Kicker-Nachwuchs, auch und vor allem derzeit in den Diensten von Rot-Weiss Essen, mehr echte Typen, die Grundtugenden einzubringen verstehen. Spielertypen, die ganze Fankurven mitzureißen verstehen, denken wir nur an die 80er Jahre mit Putsche Helmig, Pferdelunge Detlef Laibach oder Generalgrätschenvertreter Olli Koch, sucht man heutzutage vergebens. Sie waren nicht die allerbesten Fußballer, trugen aber das Herz auf dem rechten RWE-Fleck.
Früher war nicht alles besser, aber einiges schon. Willi Lippens verzichtete auf Millionengehälter und Engagements bei Ajax Amsterdam oder Feyenoord Rotterdam. Heute ist ein Cebio Soukou beleidigt, wenn er in der Sommerpause trotz laufenden Vertrages nicht die Wechselfreigabe erhält. Wir erinnern uns, derselbe Spieler wurde trotz Langzeitverletzung und Dopingskandals, letzterer war nicht unwesentlich am RWE-Absturz der letzten Rückrunde mitverantwortlich, vom Verein nicht fallen gelassen. Umgekehrte Loyalität? Fehlanzeige. Auch Weinerlichkeit macht immer häufiger die Runde unter den RWE-Kickern. Vor Saisonbeginn verlautet nahezu jeder Spieler, wie „geil“ es sei, vor fünftstelliger Kulisse im Stadion Essen aufzulaufen. Wenn der Zuschauer dann kaum einmal ein gescheites Spiel zu sehen bekommt und irgendwann seiner Enttäuschung Luft macht, bekommt die Essener Spielergarde die Kehrseite dieser Medaille zu spüren und beklagt sich über den harschen Umgang mit ihr. Nun, wer dem Druck einer vollen Hütte an der Hafenstraße nicht standhält, sollte lieber beim SV Kleinkackenfenne die Stiefel schnüren. Bringt mehr und ihr erhaltet mehr, das darf der Fan dieser Mannschaft mitteilen!
Der Vorstandsvorsitzende Doc Welling
Michael Welling ist grundsätzlich ein Glücksfall für Rot-Weiss Essen. Der Verein ist wirtschaftlich auf Kurs, der „Doc“ findet immer neue und kreative Methoden, das Image des Revier-Kultvereins RWE Gewinn bringend zu kultivieren, hierbei sei auch eine besondere Fannähe zu nennen, die Welling auch seiner Mannschaft z.B. mittels eines gemeinsamen Fototermins mit den Fans zu vermitteln versuchte. Sportlich braucht der Doc aber einen guten Ratgeber an seiner Seite. Nach wie vor. Der Vorstandsvorsitzende war nicht ganz unbeteiligt am Paradigmenwechsel. Die Installierung von Uwe Harttgen als sportlichen Leiter, der mit Marc Fascher einen teuren sportlichen Chefangestellten zur Hafenstraße lotste und fortan auch bei Spielerverpflichtungen wieder finanziell ins Risiko ging, geht auch mit auf die Kappe Wellings. Ebenso das Ziehen der Reißleine im Sommer. Es fehlt eine echte, erkennbare und nachhaltige Linie.
Andererseits benötigt RWE den verbal starken Doc nach wie vor. So wie jetzt im Streit mit der GVE. In Zeiten der sportlichen Tristesse haut man gerne drauf auf den Traditionsverein aus Bergeborbeck, der solche Unsummen an Geld verschwendet. Mit den schwindelerregenden Kosten des Stadionbaus oder den desaströsen Frankenspekulationsgeschäften der Stadtspitze hat der Verein nichts zu tun und er sollte sich nicht an den Pranger stellen lassen. Die unverschämt zu nennenden Forderungen der städtischen Grundstücksverwaltung, die Essener mögen mehr als die vertraglich vereinbarte Stadionmiete entrichten, benötigen eine klare Form der Entgegnung. Darauf kann sich der RWE-Fan bei Welling in aller Regel verlassen. Auch darauf, dass Welling Sponsoren gewinnt. Nach der desaströsen Strunz-Ära lag RWE in Scherben. Welling kittete diese. Ein Verein wie RWE muss Gelder beschaffen. Nicht so, wie sich in Leipzig, Wolfsburg oder Hoffenheim das Geld den Verein beschafft. Wenn einige Anhänger nun auch den Kopf Wellings fordern, so sollte man diesen entgegnen, dass mit unreflektierter"Rübe ab!"-Politik selten ein Blumentopf gewonnen wurde.
Fazit
Es darf, soll und muss von allen im Verein mehr geleistet werden. Vom Trainer, von der Mannschaft, auch vom Vorstand. Wenn die Fans unzufrieden sind und laut werden, so ist das immer noch besser, als vor 250 Leuten in aller Seelenruhe zu kicken. Wem von den RWE-Kickern das allerdings lieber ist, der sollte dann auch schleunigst seine Zelte an der Hafenstraße abbrechen.
Sven Meyering