Bericht Georgien
„Bist du jetzt bei den Blauhelmen?“, war nur eine von vielen Reaktionen, wenn wir – mein Duisburger Kumpel Tobias und ich – von unserer geplanten Reise durch den Kaukasus gesprochen haben. Die Arbeitskollegen reagierten etwas ungläubig, aus dem Freundeskreis wurde Spott geerntet, Mutter machte sich Sorgen und Vater fragte auf dem Weg zum Flughafen, ob wir die Unterkünfte – bei den günstigen Preisen – mitverteidigen müssten.
Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Die Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer ist seit jeher stetig brodelnder Krisenherd mit scheinbar unlösbaren Konflikten. Diese sind zum Teil heute noch präsent sind und im Laufe der Reise auch immer wieder Thema gewesen.
Erste Station sollte Georgien sein. Das Heimatland Stalins, dem Vater der Sowjetunion, von der am 9. April 1991 die Unabhängigkeit erklärt wurde. Zwei Jahre zuvor wurden bei Massenprotesten, angetrieben durch Glasnost und Perestroika von Michail Gorbatschow, noch mehrere Menschen brutal durch die Rote Armee getötet. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR bekam Georgien Probleme mit Separatismus, so dass bis heute Gebiete ohne staatliche Kontrolle existieren. Zu Beginn der 90er Jahre forderte die Region Südossetien Anschluss an das russische Nordossetien und wird seitdem durch ein De-facto-Regime regiert und von russischen Truppen unterstützt. Als Georgien 2008 die Hoheit mit Waffengewalt zurückerlangen wollte, zerschlugen russische Truppen die Bemühungen und rückten bis 50 km vor Tiflis vor, bevor die EU intervenieren konnte. Seitdem herrscht Waffenstillstand. Ähnlich verhält es sich mit der im Westen gelegenen Region Abchasien, die sich 1992 mit russischer Unterstützung für unabhängig erklärte. Als Staaten anerkannt werden beide Regionen aber nur von je fünf Ländern auf der Welt.
Auf unserer Route, WizzAir brachte uns günstig nach Kutaissi, bekamen wir von diesen Umständen nicht viel mit. Unsere Blicke richteten sich nach der Landung erstmal auf die Ausläufer des Großen Kaukasus‘, bevor wir mit dem Taxi eine Wechselstube im Stadtzentrum ansteuerten. Während die Rinderherden neben und auf den Straßen den turbulenten Verkehr sehr gelassen beobachteten, waren die uniformierten Bullen nicht ganz so entspannt. Der Taxifahrer hatte seinen Wagen kaum rechtswidrig abgestellt, da hatte ein Polizist schon einen Strafzettel über 10 Lari (1 EUR = 3 GEL) geschrieben.
Nachdem das Gepäck im Hostel abgeladen war, ging es zügig los, um die drittgrößte Stadt des Landes zu erkunden. Viele junge Georgier zieht es in die Hauptstadt Tiflis, so dass auffällig viele ältere Menschen unterwegs waren. Vorbei an übelsten Bretterbuden, die nur mit ihrer Lage direkt am Fluss Rioni und der unfreiwillig lichtdurchlässigen Fassade punkten konnten, trugen uns unsere Füße den gesamten Ukimerioni-Hügel hinauf, bis wir die Bagrati-Kathedrale erreichten. Auch wenn diese 2017, aufgrund von Rekonstruktionsarbeiten, von der Liste der UNESCO-Weltkulturerbe gestrichen wurde, ist sie nach wie vor das Highlight der Stadt. Allein für den Blick auf die Stadt mit den Gebirgsketten des Kaukasus‘ im Hintergrund ist ein Besuch lohnenswert.
Kulinarisch eingeweiht wurde die Reise mit zwei großen Fleischspießen und einer Portion Chinkali. Aus gesundheitlichen Gründen tunlichst nicht mit Zyankali zu verwechseln. Bei dieser georgischen Spezialität handelt es sich um gefüllte Teigtaschen, die würzig sind, aber auf meinem Gaumen jedoch keinen bleibenden Eindruck hinterlassen konnten. Der Preis für das Programm mit Brot und Getränk für unter zehn Euro hingegen schon. Den weiteren Abend ließen wir dann im Hostel ausklingen. Dort trafen wir zunächst Dato, den Sohn des Herbergsvaters, mit dem wir uns im Vorfeld für eine Tagestour am morgigen Samstag verabredet hatten. Dato ist Medizinstudent, spricht dank eines Auslandsjahres in Wien passables Deutsch und ist überaus freundlich, was er mir gegenüber mit diversen Herzchen-Emojis zum Ausdruck brachte. Bevor wir uns verabschiedeten, warnte Dato, dessen Mutter uns zwischenzeitlich schon mit Wein versorgte, uns noch vor, dass sein Vater womöglich auch noch auf ein Gläschen vorbeischauen würde. Wir begaben uns in die Gesellschaft der anderen Gäste, die bunter hätte nicht sein können: Zwei Deutsche, ein Inder mit Ukulele, ein jüdischer Israeli mit kasachischen Wurzeln, eine Thailänderin, ein Bulgare, eine russische Mutter mit einem geistig etwas beeinträchtigten Kind, ein US-Amerikaner und die georgischen Gastgeber quetschten sich in einen kleinen, völlig überhitzten Raum. Ehe das Oberhaupt der Familie erschien. Der als äußerst freundlich angekündigte Vater schimpfte scheinbar noch im Türrahmen stehend mit seiner Frau, hatte aber schnell ein Strahlen im Gesicht, als diese die beinahe leere Weinflasche gegen eine volle Pulle austauschte. Mit Hilfe eines bunten Potpourris aus verschiedensten Sprachen wurden wir informiert, dass der Wein hausgemacht ist. Als passionierte Biertrinker konnten wir uns dafür nicht begeistern, genauso wenig aber auch die nächste Runde ablehnen. Mit der Gepflogenheit, dass erst ein voll stehen gelassenes Glas als ‚Nein‘ akzeptiert wird, waren wir noch nicht vertraut gemacht worden. Und so wurde die Diskussionsrunde weiter mit hausgemachtem Wein befeuert. Womöglich angeregt von dessen Alkoholgehalt, hatte ich den Vater bei jedem Schluck als Barfußwinzer in einem Fass voller Trauben vor Augen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass das abgelederte Sofa, in dem wir längst versunken waren, ein Mitbringsel aus der Ruhrmetropole Essen war. Der Vater hatte das Schmuckstück vor zehn Jahren als Beifang vom Essener Autokino mitgebracht. Europas größter Gebrauchtwagenmarkt, gleich hinter dem Stadion von Europas bester Fußballmannschaft gelegen, war auch in Tiflis später noch einigen Georgiern ein Begriff. Essen international! Mit fortschreitender Zeit wurden die Gespräche immer tiefgreifender. Die Diskussionen um die geostrategischen Kriege der Amerikaner, den Nahostkonflikt und die Krisenregionen im Kaukasus, wurden nur gelegentlich von einem indischen Volkslied auf der Ukulele unterbrochen. Als soweit alle aktuellen Problemzonen auf dieser Welt behandelt waren, fragte uns der Amerikaner tatsächlich, ob Deutschland nie irgendwelche Konflikte gehabt hätte. Der Israeli und unsereins warfen sich irritierte Blicke zu, konnten uns aber allesamt ein Lächeln, sowie eine sarkastische Antwort, nicht verkneifen, bevor dieser Wortwechsel zum Schlussstrich des Abends auserkoren wurde.
Die Nacht im ersten Hostel war einwandfrei. Wir hatten zwar ein 6-Bett-Zimmer gebucht, jedoch das Glück auf unserer Seite, dass genau unsere beiden Betten durch eine Wand separiert waren. Das Bett nahm zwar nahezu die gesamte Fläche des Séparées ein, sodass wir wohl weniger Beinfreiheit als im Billigflieger hatten, dafür aber etwas mehr Privatsphäre. Am nächsten Morgen wurde schnell geduscht und das inkludierte Frühstück einverleibt, während der Vater des Hauses sich abermals auf georgische Traditionen berief und den wehrlosen Gästen einen Chacha, einen georgischen Wodka, servierte. Für die Übernachtung mit Frühstück und die reichhaltige Versorgung mit Muntermachern wurden letztlich rund 2,30 EUR pro Nase fällig. Ein Trinkgeld, mit dem wir uns für die großartige Gastfreundschaft bedanken wollten, wurde ohne Kompromisse abgelehnt. Wahnsinn!
Wir verabschiedeten uns herzlich von allen und machten uns mit Dato auf den Weg, um einige Naturspektakel in der Umgebung abzufahren, bevor es am Nachmittag nach Tiflis gehen sollte. Erster Anlaufpunkt war eigentlich der Sataplia-Nationalpark, in dem es z.B. Dinosaurierspuren zu bewundern gibt. Der Park hatte allerdings geschlossen, sodass wir alternativ die Prometheushöhle besuchten. Da Tropfsteinhöhlen schon hierzulande mehrfach bewundert wurden, konnte das Alternativprogramm uns nicht vom Hocker hauen, auch wenn die Dimensionen der großen Hallen in der Höhle eindrucksvoll waren. Umso größer war die Vorfreude auf den Okatse-Canyon. Vorbei an Kühen, Schweinen, Schafen, Hühnern und Hunden, die hier und dort die Straße überquerten oder gar seelenruhig auf selbiger schliefen, erreichten wir den Zielort nach rund einer Stunde Fahrt durch Berg und Tal. Nach einem kräftezehrenden Fußmarsch, für den Dato uns je ein Getränk spendierte, konnten wir endlich über ein wackeliges Geländer am Rande des Canyons entlangspazieren. Der Blick 100 Meter in die Tiefe zum reißenden Okatse River, die Aussicht auf die Felswände des Canyons – wie aus dem Bilderbuch. Auf der in die Schlucht ragenden Aussichtsplattform des 700 Meter langen Fußgängerstegs, der seitlich an den Klippen befestigt war, harrten wir noch einige Zeit aus, um die Szenerie komplett aufzusaugen. Nachdem aus jedem erdenklichen Winkel ein Foto geschossen wurde, machten wir uns mit Dato auf den Weg zurück, um den nahegelegenen Kinchkha-Wasserfall zu besuchen. Die Gespräche mit Dato, immer zwischen Deutsch und Englisch wechselnd, waren über den gesamten Tag hinweg spannend und informativ. So erfuhren wir unter anderem, dass der Ottonormalverbraucher in Georgien kaum mehr als 100 EUR im Monat verdient. Besserverdienende, Anwälte und Ärzte, kommen bisweilen auf 500 EUR. Das relativierte wiederum die 50 EUR, die wir zusammen für sieben Stunden mit unserem Privatguide hinblätterten. Für deutsche Verhältnisse natürlich ein unschlagbarer Preis! Am besagten Wasserfall angekommen, mussten wir feststellen, dass die neugeschaffene Besucherplattform noch nicht eröffnet war. Bis zuletzt war dieses Fleckchen Erde noch nicht touristisch erschlossen und kostenfrei zu besuchen. Über Stock und Stein schafften wir es dennoch, sehr nah an den Ort des Geschehens mit seinen 88 Metern Fallhöhe zu kommen. Wie auch beim Canyon, war es besonders schön, dass diese Spots noch nicht überlaufen sind und man wirklich in aller Ruhe – wir waren fast alleine – die Landschaft und das Geplätscher des Wassers auf sich wirken lassen konnte.
Auf der Rückfahrt gab uns der 24-jährige Dato noch einige private Einblicke in sein Leben und erzählte von seiner Freundin, mit der er gerne bald zusammenziehen würde. Die Menschen in Georgien sind jedoch sehr gläubig, weswegen derlei Plänen eine Heirat vorhergehen muss, um gesellschaftlich nicht in Verruf zu geraten. Freundlicherweise fuhr Dato uns auf dem Rückweg direkt zum Busbahnhof und half uns noch die richtige Marschrutka nach Tiflis zu finden, die uns für drei Euro in die vier Stunden entfernte Hauptstadt brachte. Unser Trinkgeld konnte diesmal endlich an den Mann gebracht werden, was allerdings auch große Verlegenheit bei diesem auslöste. So verabschiedeten wir uns herzlich von Dato, der uns jeweils noch für ein Küsschen zu sich zog. Da wir diese Sitte noch häufiger unter Einheimischen beobachten konnten, fassten wir den Überfall letztlich als große Geste der Gastfreundschaft auf, wenn es auch mit den vielen Herzen und Liebesbekundungen über WhatsApp in den nächsten Tagen noch einige Indizien mehr für einen plumpen Flirtversuch geben sollte.
Kurze Zeit später saßen wir in einem klapprigen Gefährt und waren bereit für unsere erste Marschrutka-Fahrt. Naiv, wie ich war, hatte ich schon meine Reiselektüre hervorgekramt. Dass an Lesen nicht zu denken war, hätte mir spätestens bei Fahrtbeginn bewusst werden können, als sich der Mitfahrer vor mir bekreuzigte und letzte Stoßgebete in den Himmel schickte. Anschließend hämmerte der gläubige Sportsfreund seine Rückenlehne gegen meine Kniescheibe und ließ sich sanft von den Schwingungen der Marschrutka in den Schlaf wiegen. Ein besseres Unterhaltungsprogramm bot der kleine Junge zu meiner Linken, der mit seinem Kaugummi den gesamten Bus entstaubte. Vom Sitz über das Fenster wieder in den Mund. Lecker! Der kleine Kerl, vielleicht zehn Jahre alt, musterte mich immer wieder. Sicherlich würde er sich fragen, woher wir wohl kämen und was zwei westeuropäische Herrschaften so in Georgien treiben. Genauso sinnierte ich, was die kleine Familie von Kutaissi nach Tiflis zieht und hätte mich gerne mit ihm unterhalten, wenn die Sprachbarriere nicht wäre. Die Barriere existierte allerdings nur in meinem Kopf. Wenige Kilometer vor unserem Ziel fasste sich der Knirps ein Herz und fragte mich tatsächlich in bestem Englisch das, was ihn in den letzten Stunden so unter den Nägeln gebrannt haben muss: „Do you play Fortnite?“ – Besser lassen sich gedankliche Ketten nicht sprengen. Bejahen konnte ich seine Frage nicht, ihn dafür aber mit einem missratenen Floss Dance zum Lachen bringen.
Im regnerischen Tiflis an der Busstation Didube angekommen, waren wir eine mühsame Taxifahrt später im Hostel Aleon, dessen Eingang jeden Hausbesetzer abschrecken würde. Dafür hatten wir – im Tausch gegen ein Fenster – das erste und letzte Mal auf dieser Tour ein eigenes Bad und ein abschließbares Zimmer. Letzter Tagesordnungspunkt war die Nahrungssuche, für die wir uns auf die nahgelegene Flaniermeile begaben. Vor jedem Lokal stand eine hübsche Dame, die um unsere Einkehr buhlte. Wenn auch die Akquise immer höflich und nur einmal etwas aufdringlicher war, stellten wir uns innerlich schon auf eine Woche entnervten Slalomlauf um die kaukasischen Schönheiten ein. Die Annahme sollte sich aber nicht bestätigen. Im Gegenteil: Bereits in der ersten Bar bewies der tüchtige Kellner, dass Gastfreundschaft im Kaukasus stets über dem Geschäftssinn steht. Wir bestellten je ein Chatschapouri, ein pizzaähnliches, gebackenes Käsebrot. Der Kellner, sichtlich erfreut, dass wir uns eine georgische Spezialität einverleiben wollten, riet uns jedoch dazu, nur einen Fladen zu bestellen. Geschmacklich überzeugt und pappsatt konnten wir uns dafür abschließend nur bedanken.
Erste Aufgabe des neuen Tages war es, Tickets für die Nachtzüge nach Jerewan am Montagabend und nach Baku am Donnerstagabend zu buchen, durch die wir uns zwei Hotelübernachtungen gespart hatten. Danach stand noch ein Ausflug in die alte Hauptstadt Mzcheta an, bevor endlich der erste Länderpunkt fallen sollte. Zu Fuß liefen wir rund 30 Minuten zum Hauptbahnhof (Tbilissis Zentraluri Sadguri) und saugten unterwegs das beschäftigte Treiben der georgischen Hauptstadt auf. Der klotzige Baustil konnte die sowjetische Vergangenheit des Landes dabei nicht verbergen. Obwohl wir uns ohne Jogginghose förmlich schon als Touristen outeten, wurden wir selbst in den geschäftigsten Gassen kein einziges Mal nervtötend angequatscht oder in irgendwelche Ramschläden gezerrt, was solche Spaziergänge in anatolischen oder nordafrikanischen Pauschalurlaubsregionen oft zum Spießrutenlauf macht. Im Bahnhof angekommen, machte sich dann schnell Ernüchterung breit, da der akribisch angefertigte Reiseplan schon umgeschmissen werden musste. Der Nachtzug nach Jerewan fährt nur alle zwei Tage. Und wie es so ist bei einer 50:50-Chance, zogen wir natürlich den Kürzeren. Immerhin den Nachtzug nach Baku konnten wir wie geplant buchen. Es dauerte zwar etwas, bis die Dame am Schalter alle 38 Buchstaben meines vollen Namens in das kyrillische Alphabet übertragen hatte, dafür aber war es umso schöner diesen in der Landessprache auf dem Ticket zweiter Klasse stehen zu haben. 17 Euro kostete uns die 13-stündige Fahrt in einem abschließbaren Viererabteil. Andere Reisende hatten bei diesen Preisen schon mal ganz dekadent ein komplettes Abteil gebucht, um Ruhe zu haben. Wir hingegen scheuten keinen Kontakt und spekulierten lieber lustig, was uns wohl im Zug wohl erwarten würde. Eines vorweggenommen: Es kam anders! Doch dazu später mehr.
Wir marschierten wieder zum Busbahnhof Didube, der sich uns gestern nur in Dunkelheit präsentierte, dafür heute mit seinem Trubel erschlug. Die kleinen Busse schienen kreuz und quer zu stehen, ohne jegliches System. Auch einen Ticketschalter, auf den in Deutschland zwölf leuchtende Schilder verweisen würden, konnten wir nicht finden. So fragten wir uns durch, bis ein älterer Georgier unser Dilemma erkannte und direkt bis zu einer unfassbar unscheinbaren Hütte führte, aus der die Tickets verkauft wurden. Das Hafenstübchen ist dagegen ein hochmoderner Schalter, bei dem nur die Besucherfrequenz ähnlich stark ist. Für einen Lari (= 0,33 EUR) durften wir uns in die nächste freie Marschrutka kämpfen. Die Wartezeit nutzten wir, um schon einen Bus nach Jerewan ausfindig zu machen. Mit Englisch kamen wir allerdings vorerst nicht weiter, bis ein junges Pärchen aufklären konnte, dass internationale Busfahrten vom Busbahnhof Ortachala starten. Freundlicherweise wurde dort direkt für uns angerufen, um sich nach den Abfahrtszeiten zu erkundigen. Die Hilfsbereitschaft der Menschen war trotz des Gewusels großartig, selbst wenn es die Sprachbarriere manchmal schwer machte.
In Mzcheta angekommen, genehmigten wir uns bei herrlichen Temperaturen erstmal ein Pils im erstbesten WiFi-versprechenden Biergarten und glänzten beim Wirt mit unseren rudimentären Georgisch-Kenntnissen. „Gagimardschos“ (dt. Prost) hatten wir an unserem ersten Abend so häufig gehört, dass wir hier und da schon mal mit dem ähnlich klingenden „Gamardschoba“ (dt. Guten Tag) durcheinanderkamen. Tat der Freude der Georgier aber nie einen Abbruch. Nachdem für den ausgefallenen Zug eine weitere Nacht in Armenien gebucht war, konnte endlich ein Haken hinter die Planänderung gesetzt werden, der leider jedoch das Montagsspiel von WIT Georgia zum Opfer fallen musste. Immerhin einen Blick in die Heimspielstätte des in Mzcheta spielenden Vereins konnten wir noch werfen. Ein kleiner Ground mit einem schönen Bergpanorama im Hintergrund. Auf der Spitze einer dieser Berge ließ sich von unten das Kloster Dschwari erblicken, das wir auf dem Heimweg definitiv noch abklappern wollten. Zunächst wollte aber die älteste Stadt des Landes noch erkundigt werden. Das 8000-Seelen-Dorf Mzcheta war bis zum 6. Jahrhundert die Hauptstadt Iberiens – ein antiker Vorgängerstaat Georgiens – und eine der wichtigsten Handelsstädte an der Seidenstraße. Die prächtige Swetizchoweli-Kathedrale und das Samtavro-Kloster bezeugen dies förmlich. Viele Besucher der Kirchen bekreuzigten sich mehrmals, küssten allerhand Devotionalien und brachten sehr stark ihre Gläubigkeit zum Ausdruck. Fast 90 % der Georgier sind Christen, die meisten georgisch-orthodox und das nicht nur auf dem Papier. Nahezu jedes Taxi war mit gold-glitzernden Bildern geistlicher Persönlichkeiten und Kreuzen geschmückt, wo immer Platz dafür war. Nachdem wir noch eine Tschurtschchela - eine bunte Süßigkeit, bestehend aus aufgeschnürten Nüssen mit Traubensaftüberzug – probiert hatten, suchten wir uns eines dieser heiligen Taxis. Mit Händen und Füßen äußerten wir unseren Wunsch, erst den Berg hoch zur Dschwari-Kirche und dann nach Tiflis fahren zu wollen. Im Vergleich zur Hinfahrt zahlten wir nun den 20-fachen Preis, waren dafür aber auch rund anderthalb Stunden unterwegs. Das war uns 6 EUR pro Nase wert sein.
Mit dem Taxifahrer kamen wir schnell ins Gespräch, obwohl wir uns sprachlich so gar nicht verstehen konnten. Als wir erzählten, dass wir nachher noch ein Spiel von Dinamo Tiblisi besuchen würden, tippte der um die 40 Jahre alte Jogginghosenträger eine 1981 in sein Handy. „Champion“ verkündete er stolz. Tatsächlich gewann Dinamo in dem Jahr den Europapokal der Pokalsieger. Wie 1953 der glorreiche RWE, wurde das Finale mit 2:1 im Düsseldorfer Rheinstadion gewonnen. Keine 5.000 Zuschauer wollten das Spiel zwischen dem UdSSR-Club aus Tiflis und dem DDR-Verein FC Carl-Zeiss Jena sehen. Neben diesem konnte der Fahrer zu unserer Verwunderung einige weitere Ostvereine aufzählen, die heute längst nicht mehr auf großer Bühne spielen. Wie bei jeder Taxifahrt, spielten natürlich auch wir unsere Trümpfe aus: Zum einen wäre da die gesamte georgische Achse des SC Freiburgs um die Jahrtausendwende. Iashwili, Tskitishwili oder Kobiashwili, der heute Präsident des georgischen Fußballverbands ist, zogen immer. Ansonsten war auch Kacha Kaladse, der neun Jahre bei AC Mailand spielte und heute Bürgermeister von Tiflis ist, eine Option. Nachdem wir schon eine Menge zusammen gelacht hatten und das Eis endgültig gebrochen war, holte der Fahrer eine PET-Flasche aus der Mittelkonsole und bot uns etwas zu trinken an. Ich beließ es allerdings bei einer Geruchsprobe, die zweifellos einen aromatischen Wein identifizieren konnte, und überließ dem Fahrer ungläubig das edle Tröpfchen. Dass dieser alles andere als ungläubig war, stellte der Weinliebhaber eindrucksvoll unter Beweis, indem er sich bei jedem Blickkontakt zur Dschwari-Kirche bekreuzigte. Am Kloster angekommen, wurden Fotos aus sämtlichen Perspektiven geknipst. Der Blick auf Mzcheta und den Zusammenfluss der Flüsse Kura und Aragwi, die farblich nicht unterschiedlicher hätten sein können, ist wirklich ein Gedicht. Daran kann man sich nicht satt sehen.
Auf den Serpentinen zurück ins Tal musste der Taxifahrer hier und dort schon mal eine Kuh von der Straße jagen. Mit einem beherzten Klaps. Durch das Fenster. Auf den Arsch. Nach rund 30 Minuten waren wir wieder zurück im zähfließenden, aber nie stoppenden Verkehr in Tiflis und wurden direkt am Boris-Paitschadse-Nationalstadion ausgespuckt, wo wir uns noch herzlich bedankten und freundlich voneinander verabschiedeten. Das Stadion und sein Umfeld machten zwei Stunden vor Anpfiff noch nicht den Eindruck, Austragungsort eines Erstligaspiels zu sein. Um dennoch schon eine Zugangsberechtigung zu ergattern, fragten wir im Fanshop nach einem Ticketschalter. Wie viele Tickets wir denn bräuchten, fragte ein Typ im georgischen Nationalgewand – einem Trainingsanzug – und schenkte uns zwei Karten. Es sollte auf unserer gesamten Tour das einzige Spiel von fünf Erstligapartien bleiben, bei dem Eintritt kassiert wurde, so dass sich unsere Ausgaben für Fußball nach zehn Tagen auf 0,00 EUR summierten.
Wir investierten die gesparten 1,30 EUR in Dosenbier, um die Zeit bis zum Spiel zu überbrücken. Im Stadion hingegen waren wir von jeglicher Bierversorgung abgeschnitten, was mitunter Grund dafür gewesen sein dürfte, dass sich nur 300 Seelen in dem 55.549 Zuschauer fassenden Koloss einfanden, um den Rekordmeister spielen zu sehen. Nicht nur deswegen konnten wir uns im Stadion breit machen. Die Sitzreihen waren auf der Haupttribüne so weit auseinander, dass man seine Beine ausstrecken konnte und immer noch Platz ohne Ende hatte. Der Sportsfreund aus dem Fanshop versorgte uns vor Anpfiff zudem mit dem WiFi-Kennwort, damit Tobias auch seiner Spielsucht nachkommen konnte. Dass die dabei nicht ungewöhnlichen Einsätze in Höhe von 50,00 EUR mit einem halben Monatsgehalt von manch anderem Stadionbesucher gleichzusetzen sind, ist irgendwie schwer zu glauben. Wir konnten jedenfalls nun mitfiebern. In einer Ecke der verwaisten Gegengerade sorgte eine 30 Mann starke Ultragruppe für etwas Atmosphäre im weiten Rund, wobei die Schlachtgesänge durch die gute Akustik teilweise eine ordentliche Lautstärke erreichen konnten. Nach 90 Minuten stand es 3:1 für Dinamo Tiflis. Der harmlose Gegner aus Rustavi – viertgrößte Stadt des Landes, 25 km vor Tiflis gelegen – brachte dem Vernehmen nach gar keine Anhänger mit.
Auf unserem Weg zurück Richtung Unterkunft, machten wir noch einen Abstecher zur Fabrika Tiblisi, auf die ich kürzlich erst in einer TV-Doku aufmerksam wurde. Der Weg dorthin durch die kleinen dunklen, gammeligen Gassen lässt nicht erahnen, welch urbaner Hotspot sich hier versteckt. Die Fabrika an sich ist ein hippes Hotel in einer ehemaligen sowjetischen Näherei. Im Innenhof befinden sich Bars, Cafés und verschiedene Flächen, um kreativ zu sein und zusammenzuarbeiten. Open-air und doch unter einer großen Discokugel treffen sich abends allerhand Leute, um eine gute Zeit zu verbringen. Unter anderem auch der Inder Dave, den wir in Kutaissi kennenlernten. Mit einigen anderen Leuten aus aller Herren Länder gaben wir, abermals begleitet von seiner Ukulele, „Somewhere over the rainbow“ zum Besten und fanden so schnell Anschluss an die Partygemeinschaft. Die moderaten Getränkepreise taten ihr Übriges. Nachdem der Laden standesgemäß durch uns abgeschlossen wurde und wir noch mit den gemachten Bekanntschaften in den Gassen vor der Fabrika verweilten, bauten sich zwei Georgier fachmännisch aus Plastikflasche, Feuerzeug und Alufolie eine Bong, um sich mit ihren neuen Freunden einige Kräuter in die Hirse zu ziehen. Die Szene ließ mich an die längst vergessen Lektüre „Pedro und die Bettler von Cartagena“ zurückdenken, die in der Schulzeit gelesen werden musste. Wir verabschiedeten uns, allem voran, weil das Bier getrieben hatte und wir uns dessen schleunigst entledigen mussten. Als Gäste dieser Stadt erbaten wir mitten in der Nacht in einem Sparmarkt vorbildlich um Zugang zum WC. Der freundliche Mitarbeiter öffnete eine Falltür für uns und wies uns an, über eine klapprige Hühnerleiter in einen dunklen Keller zu klettern. Eine schaurige Absteige, die Josef Fritzl hätte vor Neid erblassen lassen. Von oben drang die Unterhaltung der Mitarbeiter nach unten. Wenn sich zwei Georgier unterhalten, klingt das immer nach wütenden Menschen, die gerade einen Mordkomplott planen. Das machte unsere Bedenken nicht besser. Tatsächlich erblickten wir unten den Lagerraum des Supermarkts und glücklicherweise auch eine Toilette. Als wäre der Ort nicht gruselig genug, war ein Regal mit 2,5l-Flaschen KönigsPilsener gefüllt. Der Duisburger musste natürlich gleich zuschlagen, wenn auch das Gesöff letztlich nur unzählige Landmeilen durch den Kaukasus geschleppt wurde, bevor es in Aserbaidschan entsorgt wurde.
Am nächsten Morgen ging es frühzeitig zum Busbahnhof Ortachala. Um einen Fahrer zu arrangieren, nutze ich erstmals auf der Reise die App „taxify“. Vorteile sind, dass der Preis fair ist, man sich die Verhandlungen sparen kann und der Fahrer sofort weiß, wo er hin muss. Der Taxifahrer war sichtbar erfreut, dass wir aus Deutschland kamen. Die Freude ging in Euphorie über, nachdem ich mit meinem Handy ein Foto gemacht hatte. Voller Stolz zeigte er daraufhin auf eine relativ unspektakuläre Kirche auf seiner Seite, klopfte sich dann gefühlvoll auf die linke Brust und forderte mich begeistert auf, diese doch auch zu fotografieren. Im Sinne der Völkerverständigung lehnte ich mich natürlich quer über den Lenker und schoss ein Bild von seinem favorisierten Gotteshaus. Als wir am Ziel ankamen, wollte ich die Rechnung bezahlen, wurde aber vom Taxifahrer darauf hingewiesen, dass dies schon über die App geschehen sei, statt doppelt abzukassieren. Glückwunsch, den unfreiwilligen Test bestanden und einen weiteren Pluspunkt für die Menschen in Georgien gesammelt.
Am Busbahnhof ergatterten wir für rund 15,00 EUR pro Nase zwei Sitzplätze in einer Marschrutka nach Jerewen, wo wir die nächsten drei Nächte verbringen würden. Wir machen an dieser Stelle allerdings einen Zeitsprung und steigen bei der Rückkehr in Tiflis an selbigem Ort wieder ein. Es galt, einen letzten Einblick in die georgische Hauptstadt zu bekommen, bevor es am Abend nach Aserbaidschan weiterging. Erst- und letztmals waren wir mit unserem Reisegepäck auf dem Rücken unterwegs, so dass wir uns den Elias-Hügel lieber hochkutschieren ließen, um die Sameba-Kathedrale zu begutachten. Anders als gefühlt 99,9 % aller anderen Sakralbauten auf diesem Planeten, stammt diese Kirche nicht aus einem anderen Jahrtausend, sondern wurde erst 2004 nach 8-jähriger Bauzeit errichtet. Ein prunkvolles Ungetüm, das sowohl von außen als auch von innen einen mächtigen Eindruck hinterließ. Per pedes steuerten wir anschließend die Altstadt an, die einige schnuckelige Straßen, aber genauso viele verwahrloste Ecken zu bieten hat. Charmant, wie es die Reiseführer bezeichnen würden, ist der Kontrast in jedem Fall. Wir ließen uns von der Seilbahn auf den angrenzenden Sololaki-Gebirgskamm befördern, von dem die 23 Meter hohe Statue Kartlis Deda (dt. Mutter Georgiens) auf die Stadt hinabblickt. Ausgestattet mit einer Schale Wein für die Freunde und einem Schwert für die Feinde. Aus der Seilbahn heraus hat man einen prächtigen Blick auf den Fluss Kura, der sich durch die Stadt schlängelt. Zwischen Fluss und Rike-Park befindet sich die Talstation, die man auch über die futuristische Friedensbrücke erreichen könnte. Interessant sind auch die beiden silbernen, wurmartigen Glasbauten, die der ehemalige Staatspräsident Micheil Saakaschwili seinerzeit bauen ließ. Da sich seine Nachfolger nicht mit dem Bau schmücken können, scheint jedoch niemand in verantwortlicher Position Interesse daran zu haben, diesem Leben einzuhauchen. Und so sind die als Konzert- und Ausstellungshallen angedachten Glaswürmer eben seit Fertigstellung 2012 ungenutzt.
Die Zeit in der Gondel ist beinahe zu knapp, um das ganze Panorama, aus dem insbesondere die Sameba-Kathedrale heraussticht, auf sich wirken zu lassen. Ein weiterer Blickfang ist nämlich die wuchtige Festung Nariqala, auf der ein vermeintlicher Organspender gerade in schwindelerregender Höhe von Zinne zu Zinne hüpfte und sein tägliches Parcourtraining absolvierte. Absolut irre! Oben angekommen, ging es gleich wieder den Bergrücken hinab in die Legwtachewi-Schlucht (dt. Feigenbaumschlucht), wo sich über 128 Hektar ein riesiger botanischer Garten, der größte seiner Art in der Sowjetunion, erstreckt. Dass auf der anderen Seite der Felswand der Hauptstadttrubel tobt, lässt sich an diesem malerischen, ruhigen Ort nicht erahnen. Perfekt für einen entspannten Spaziergang, der nicht zuletzt mit einem kleinen, aber feinen Wasserfall belohnt wird.
Nach einer letzten Stärkung in der Altstadt, zog es uns zuletzt ins Vake-Viertel, einer nobleren Ecke der Stadt, in die uns der auf 686,7 Meter gelegene Schildkrötensee lockte. Das Highlight sollte jedoch die vollgepropfte Seilbahn von 1938 selber bleiben, die sich nicht darum scherte, ihr Alter zu kaschieren. Der sogenannte See entpuppte sich hingegen als Scharlatan unter den georgischen Gewässern. Der Tümpel machte nicht den Hauch eines Anscheins, in irgendeiner Form gepanzerte Reptilien zu beherbergen. Generell wunderte es uns, überhaupt Menschen anzutreffen. Das ganze Areal machte nämlich einen sehr verwitterten und verlassenen Eindruck und hätte genauso ein Themenbereich im nahe Tschernobyl gelegenen Freizeitpark Prypjat sein können. Eine stillgelegte, rostige Wasserskianlage, kaputte Kirmesstände und ein leerstehendes Gebäude mit Brandspuren rundeten das harmonische Bild ab. Dafür entschuldigte uns aber der Blick hinab auf die Stadt und das Mikheil-Meskhi-Stadion. Aus der Nähe ließ sich der Ground nicht mehr beäugen, da es für uns langsam zum Zentralbahnhof gehen sollte, um den Nachtzug nach Baku zu erwischen und das Kapitel Georgien schweren Herzens abzuschließen.