Bericht Aserbaidschan
Nachdem es mit der Marschrutka wieder von Jerewan nach Tiflis ging, wo der Tag noch mit Sightseeing verbracht wurde, ging es abends mit dem Nachtzug nach Baku, die auf der 60 km langen Halbinsel Abşeron gelegene Hauptstadt von Aserbaidschan. Eines der undemokratischsten Länder der Welt, was durch Rang 166 von 180 in Sachen Pressefreiheit – laut „Reporter ohne Grenzen“ – eindrucksvoll unterstrichen wird.
Auf unserer Reise ist Aserbaidschan das erste muslimisch geprägte Land. Mit Iran und Irak das einzige Land der Welt mit einer schiitischen Mehrheit. Als säkularer Staat zeigt man sich jedoch sehr tolerant und garantiert freie Religionsausübung. So gibt es in Baku neben zahlreichen Moscheen auch mehrere Kirchen und Synagogen. 2003 gab es in der Hauptstadt gar den allerersten Synagogen-Neubau in einem muslimischen Land überhaupt. Die Anhänger der drei großen Weltreligionen können also in Aserbaidschan tatsächlich sehr friedlich zusammenleben.
Nur wenn es um Armenien geht, wird es bitterernst. Allem voran durch den bewaffneten Konflikt um die Region Bergkarabach, einer von Armenien besetzten Enklave. Ein Dauerbrandherd, der seit Ewigkeiten schwelt, mit dem Untergang der Sowjetunion neu entfacht ist und im Bergkarabachkrieg zwischen 1992 und 1994 gipfelte. Seit jeher existiert eine brüchige Waffenruhe, trotz der es immer wieder, zuletzt 2017, zu Gefechten kommt. Internationale Qualifikationsspiele mussten zwischen 1994 und 1996 deswegen in der Türkei ausgetragen werden. Jüngst war der Konflikt erst wieder allgegenwärtig, weil der armenische Nationalspieler und ehemalige Dortmunder Henrikh Mkhitaryan nicht mit Arsenal London zum UEFA-Cup-Finale nach Baku flog und wegen Sicherheitsbedenken eines der wichtigsten Spiele seiner Karriere verpasste. Ein weiteres, grausames Einzelschicksal ist die Geschichte von Ramil Səfərov. 2004 hatte der aserbaidschanische Leutnant während eines NATO-Lehrgangs in Budapest den armenischen Offizier Gurgen Margarjan im Schlaf mit einer Axt getötet. Lebenslange Haft, lautete das in Ungarn ausgesprochene Urteil. 2012 wurde der geständige Axtmörder jedoch nach Aserbaidschan ausgeliefert, wo der seit 2003 und bis heute amtierende Präsident İlham Əliyev ihn begnadigte. Səfərov erhielt Wehrsold für achteinhalb Jahre Haft und wurde wie ein Nationalheld gefeiert, was zu weiteren Spannungen zwischen den Konfliktparteien und großer Besorgnis in der Weltpolitik führte.
Eine andere Form der Spannung machte sich mit Besteigen des Nachtzugs auch ins unserer zwei Mann starken Reisegruppe breit. Wer denn da so 13 Stunden auf engstem Raum mit uns reisen würde und wie denn der Grenzübertritt mit armenischem Stempel im Reisepass laufen würden, waren die Fragen des Abends. Erstere konnte schnell beantwortet werden: Eine Gymnastikmannschaft von ungefähr 20 Mädchen im Kindesalter, einheitlich in roten Trainingsanzügen, machte aus unserem Wagon bereits vor Abfahrt einen Zirkus. Mütter und Trainerinnen richteten sich in der Zwischenzeit in den einzelnen Abteilen ein, um den Kids für ihren internationalen Wettkampf in Baku maximalen Komfort gewährleisten zu können. Die Rasselbande nutzte die Zeit unterdessen für ein kleines Warm-up und schmiss sich im Stehen platzsparend die Beine hinter den Kopf. Die gegenüberstehenden Hochbetten boten sich für den ein oder anderen Spagat an. Für Unterhaltung war also mit akrobatischen Einlagen gesorgt, auch wenn dafür immer irgendwo ein Fuß auf Kopfhöhe zu finden war. Mit dem georgischen Mutter-Tochter-Duo in unserem Abteil verstanden wir uns trotz Sprachbarriere blendend. Während wir mit Essen und Tee versorgt wurden und uns mütterlich beim Beziehen der Betten unter die Arme gegriffen wurde, spendeten wir Akkuleistung aus der Powerbank, Kaugummis und unsere Arbeitskraft, wenn eine Tasche aus der schweren Bank hervorgeholt werden musste.
Weitere Bekanntschaften schlossen wir im Gang, wo wir schnell mit ein paar Azeris in unserem Alter ins Gespräch kamen. Überaus freundliche Menschen, die sich als Friedensbotschafter bei der UN engagieren. Unsere interessante Unterhaltung wurde leider frühzeitig unterbrochen, weil wir bereits nach 45 Minuten die georgische Grenze erreichten. Die Zugbegleiterin scheuchte uns in die Kammer, so wie es zuletzt meine Klassenlehrerin in der Sekundarstufe I im Schullandheim getan hat. Eine Weile später marschierten ein paar Beamte durch den Zug, sammelten die Reisepässe aller Fahrgäste ein, musterten die Abteile und verschwanden wieder. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis wir unsere Reisedokumente zurückerhielten und endlich weiterfahren konnten. Weit kamen wir allerdings nicht, da sogleich die aserbaidschanische Grenze auf uns wartete, an der das ganze Brimborium nochmal deutlich zeitintensiver sein sollte. Die Stimmung war nun etwas angespannter und die Staatsbediensteten hatten keinerlei Interesse daran, dem entgegenzuwirken. Wenigstens unsere kleine Mitbewohnerin konnte mit ihrem süßen Lächeln kurzzeitig auch dem grimmigsten Grenzer ein kurzes Zucken im Mundwinkel entlocken. Der erste Besucher in Uniform verteilte irgendeinen Wisch, der komplett in Aserbaidschanisch gehalten war. Glücklicherweise hatten wir Elniz kennengelernt, der uns beim Ausfüllen des Fragebogens half und auch immer wieder mit seinen Russischkenntnissen als Dolmetscher für den georgischen Turnverein einsprang. Wie gehabt, wurden zunächst unsere Reisepässe eingesammelt. Im Gegensatz zu Georgien und Armenien wird für Aserbaidschan zudem ein Visum benötigt, das wir uns im Vorfeld beschafft hatten und nun mit aushändigten. Durch die eintretende Müdigkeit, es war mittlerweile zappenduster und tief in der Nacht, zog sich die Wartezeit wie Kaugummi. Zwischendurch schaute ein Suchtrupp mit einer Teleskopkamera vorbei und warf in jeden Winkel unserer Kajüte einen Blick. Nach einer weiteren Ewigkeit kamen die nächsten Staatsdiener endlich mit den Reisepässen zurück. Während die georgischen Mädels ihre Dokumente ohne Mucken zurückbekamen, erhielten wir aufgrund unseres Aufenthalts in Armenien eine besondere Behandlung. Das Verhör gestaltete sich allerdings als schwierig, da niemand der englischen Sprache mächtig war und wir stur auf Aserbaidschanisch zugeblubbert wurden. Wir konnten daher nur ratlose Blicke, Schulterzucken und diverse Wortfetzen liefern, von denen wir uns einen Fortschritt in der Konversation erhofften. Elniz eilte erneut herbei und übersetzte. Warum wir in Armenien gewesen sind, was wir dort gemacht haben und ob wir dort etwas gekauft oder gar importiert haben. „Das übliche Touriprogramm“, antworteten wir, um gar nicht erst auf Fußball sprechen zu kommen. Würde ja eh niemand glauben von den Herrschaften. Und natürlich hatten wir in den drei Tagen etwas gekauft. Menschen müssen essen und trinken, sonst sterben sie. Wir waren kurzzeitig besorgt, dass die 2l-Bierflasche konfisziert werden könnte, aber die schleppten wir ja schon seit unserem ersten Georgienaufenthalt mit uns rum. Die Beamten interessierten sich allerdings mehr für elektronische Geräte, mit denen man Spionage betreiben könnte. So sehr, dass wir unser Gepäck einmal ausräumen durften. Zum Abschluss ging es einzeln in ein Abteil, in dem noch ein Foto von uns geschossen wurde.
Über drei Stunden dauerte es letztlich, bis uns mittels des begehrten Stempels die Einreise gewährt wurde und der Grenzübergang als abgeschlossen bezeichnet werden durfte. Da es in der Nacht leider nicht viel in der Prärie zu sehen gab, fiel der Zug anschließend kollektiv in den Schlaf und trudelte am nächsten Morgen ziemlich pünktlich in Baku ein. Wir plauderten noch ein wenig mit Elniz über Gott und die Welt. Zur Religiosität des Landes sagte er uns, dass die jüngeren Azeris ihren Glauben nicht sehr intensiv praktizieren würden. Die älteren Menschen hingegen fürchten nur eine Sache mehr als Allah: Die Polizei. Die sei sehr korrupt und nicht gerade zimperlich. Von uns hingegen wollte man wissen, wie viel Bier ein Deutscher trinken kann. Der Ruf unserer Heimat, dem Land des Reinheitsgebots, eilt uns voraus. Die vorgegebene, nicht sehr tiefgestapelte Schlagzahl ließ unsere Bekanntschaften aber erstmal kalt, so dass wir uns gleich für eine abendliche Verköstigung verabredeten.
Vorab musste aber erst das letzte Quartier der Reise bezogen werden. Das Hostel Amsterdam bekam unseren Zuschlag. Wir hatten den 16-Betten-Schlafsaal gemieden und für ein paar Penunsen mehr eine Privatkoje gebucht. Die musste zwar über eine Leiter erklommen werden, war ungefähr 120 cm hoch und bestand aus 2 Europaletten mit Matratze und Bettzeug, dafür aber hatten wir unsere Ruhe. Eine Regendusche mit Licht und Radio unterstrich unseren Luxus, wobei wir diesen gerne gegen höhere Hygienestandards, warmes Wasser und etwas Druck auf dem Wasserstrahl getauscht hätten. Die umhertollende Babykatze des Gastgebers war zwar im ersten Moment ganz amüsant, für ihren Scheißhaufen im Blumenkübel im Flur hatte sich aber auch nach drei Tagen niemand verantwortlich gefühlt. Nichts wie los in die Stadt!
Erster Anlaufpunkt war der Jungfrauenturm, auch als Maidan Tower oder Qız Qalası bekannt, der als Wahrzeichen der noch immer weitläufig ummauerten Altstadt gilt. Der Eintritt für Azeris lag bei einem Euro. Für Touristen lag der Preis bei acht Euro, die wir uns besser gespart hätten. Das wären immerhin 12 große Bier gewesen. Das massive Gemäuer und auch die Ausstellung im Inneren waren relativ unspektakulär. Die Aussicht vom Dach ist zwar ganz nett, wird aber von anderen Spots in der Stadt komplett in den Schatten gestellt. Nach einem Marsch durch die facettenreiche City landeten wir nach hunderten Stufen im Highland Park (aserb. Dağüstü park), von wo man ein wahnsinniges Panorama hat. Kaspisches Meer, Promenade, Altstadt – alles auf einen Blick. Zur linken stehen die unverkennbaren Flame Towers und bieten ebenso ein einmaliges Fotomotiv. Da es ziemlich diesig war, nahmen wir den treppenreichen Weg am letzten Abend ein weiteres Mal auf uns, um die Stadt nochmal ohne Nebel und beleuchtet zu sehen zu bekommen. Insbesondere die Flame Towers, drei riesige Hotelgebäude in Flammenform sind bei Dunkelheit das absolute Highlight. Wenn diese dann in den Landesfarben erstrahlen oder gar farbige Animationen, z.B. lodernde Flammen, wiedergeben, weiß man, wieso Aserbaidschan das Land des Feuers ist. „Land of fire“, so der allgegenwärtige Slogan, stand schon auf den Trikots von Athletico Madrid, die Aserbaidschan als Hauptsponsor unterstützte. Der Spruch kommt nicht von ungefähr: Das Land lebt von Gas und Öl.
Die Treppen wieder hinab, ging es Richtung Promenade. Unterwegs fiel immer wieder auf, dass Polizei und Feuerwehr grundsätzlich das Blaulicht anhatten. Dauerhaft und ohne Ausnahme. Mit dem Martinshorn wurde auch nicht sonderlich sparsam umgegangen. Die Vögel imitierten das Sirenengeheul so perfekt, dass wir uns wirklich einmal nach einem heranrauschenden Auto umgesehen haben. Besser umsehen sollen hätte ich mich auch beim Fotografieren des Teppichmuseums, das von außen wie ein aufgerollter Teppich aussieht. Um den Bau komplett ablichten zu können, machte ich ein paar Schritte auf eine der akkurat gepflegten Grünflächen. Dabei ist mir entgangen, dass zwei kalbsgroße Straßenhunde auf dieser schlummerten. Ich sah gerade noch aus dem Augenwinkel, wie einer der Hunde plötzlich Jagd auf mich machte und mit fletschenden Zähnen nach mir schnappte, als ich mir gedanklich schon die Standards eines aserbaidschanischen Krankenhauses vorstellte. Nur mit einer unfassbar schnellen Reaktion und einer unerreichten Sprintleistung konnte ich um Haaresbreite meinen Arsch vor dem tollwütigen Biest retten. Während mein Puls nun jenseits von Gut und Böse war, brachen die vorm Museum stehenden Teppichklopfer und Securitymitarbeiter, sowie mein Kollege, in lautem Gelächter aus. Jetzt wüsste ich, was er sich von der Taube in Armenien gewünscht hatte, musste ich mir später noch anhören. Einen Bruchteil nach diesem Vorfall fuhren zwei Polizisten mit einem Golfcaddy auf Streife vorbei. Mit den Worten unserer Freunde aus dem Zug im Ohr, ging ich fest davon aus, dass entweder ich wegen Betreten der Grünfläche festgenommen werde oder der Hund erschossen wird. Es blieb glücklicherweise bei einem amüsierten Lächeln. Abwegig sind allerdings beide Gedanken leider gar nicht. Nicht ohne Grund waren auf den Straßen in Baku deutlich weniger Streuner zu sehen, wie in den Hauptstädten von Armenien und Georgien noch. 2012 und 2015 wurden, im Rahmen von internationalen Großevents, wie dem Eurovision Songcontest, die Straßenhunde in Baku massenhaft getötet. Berichten zufolge teilweise auf offener Straße erschossen oder mit Schaufeln erschlagen. Nach Protesten wurde ein „Städtisches Zentrum für streunende Tiere“ errichtet – inklusive Verbrennungsöfen. Abscheulich. Auch vor dem anstehenden Formel-1-Rennen, auf das sich die Stadt aktuell vorbereitet, sollen derlei grausige Bestrebungen wieder zugenommen haben.
Wir schlenderten nach diesem Schock über die Promenade, wo Strandfeeling aber nicht aufkommen wird. Das liegt am fehlenden Sand, aber auch daran, dass das Kaspische Meer vollständig mit einem Ölfilm überzogen zu sein scheint. Ein weiteres Sinnbild für die krankhafte Imagepolitur des Landes ist die Kristallhalle, die sich auf einer Landzunge erspähen lässt, auf der einst noch die größte Flagge der Welt wehte. Die Eventhalle wurde eigens für den Songcontest errichtet und in nur sieben Monaten aus dem Boden gestampft. Im Vorfeld erfuhr der Neubau unter anderem Kritik für den Abriss des dort stehenden Wohnraums. Die Zwangsräumungen seien teilweise unangekündigt mitten in der Nacht und ohne jegliche Entschädigung vollzogen worden. Wir waren am Abend froh, wieder unter den kleinen Leuten zu sein, die ihren Lohn mit ehrlicher Arbeit verdienen. Wir hatten uns mit Elniz in einer Bar verabredet, die ihm mal gehörte. Weil er Jura studierte und sein Professor etwas dagegen hatte, musste der diese aber wieder abgeben. Wir sparten uns dafür den Eintritt und nahmen als Dank die Getränke auf unsere Rechnung. Das Bier schmeckte übrigens deutlich besser als in Armenien. Wie wir in unserer interessanten Unterhaltung erfuhren, kommt die Mittelschicht auf ungefähr 700 Manat (= 363,00 EUR) pro Monat. Der Mindestlohn liegt bei 116 Manat (= 60,00 EUR) im Monat. Kann man sich nicht vorstellen. Im Laufe des Abends wurden noch einige weitere Lokale abgeklappert, in denen wir immer wieder Freunde von Elniz kennenlernten, die uns herzlich willkommen hießen. Spätestens nach einer Partie Tischtennis, in der dem heimischen Platzhirsch eine herbe Niederlage zugefügt werden konnte, waren wir voll integriert. Die Freude über Gäste aus dem fernen Westeuropa, die grenzenlose Gastfreundschaft, die wir überall erfahren haben, war überwältigend. Ein paar ältere Herrschaften nahmen uns sogleich in ihre Kreise auf, schlossen uns in ihre Arme und bestanden darauf mit uns zu trinken. Auf Deutschland. Und Angela Merkel, die kollektiv zwei Daumen nach oben erhielt. Von dieser positiven Grundeinstellung und der vorurteilsfreien Herzlichkeit gegenüber Fremden könnte sich das deutsche Nörgelvolk gut und gerne eine Scheibe abschneiden. Es tat richtig weh, diesen Leuten zu erzählen, wie oft wir vor unserer Reise gewarnt worden sind und welches Bild in unseren Köpfen vom Leben im Kaukasus existiert. Es war tief in der Nacht, als Elniz, der uns einen Tag zu vor noch belächelt hat, dem Alkohol mit Verlust seiner motorischen Fähigkeiten Tribut zollen musste. Brüderlich sorgten wir uns um unseren neuen Freund und nahmen ihn mit zu unserem Hostel, wo immer das ein oder andere Bett frei war. Das Angebot schlug Elniz dann aber aus und bevorzugte doch die heimischen Gefilde. Wir bestellten also ein Taxi auf unsere Kosten, vermittelten dem Fahrer mit Müh und Not die Anschrift und schickten die Bierleiche nach Hause.
Der nächste Tag startete mit einem Ausflug zum Nationalpark Qobustan. Wir hatten unseren Host um Rat gebeten, der sich selbst als Guide anbot und einen Fahrer besorgte. Am Ende des Tages mussten wir jedoch resümieren, dass die Beiden nicht viel Ahnung hatten. Auf den Erlebnisreichtum des Ausflugs hatte dies aber keinen Einfluss. Nach einem kurzen Abstecher in das Museum des Nationalparks, das heillos überfüllt war, machten wir uns auf den Weg durch die riesigen Felsformationen Qobustans. Berühmt wurde das Gebiet allem voran aufgrund der steinzeitlichen Felszeichnungen, die hier in den 1930er Jahren entdeckt worden sind. Alles in allem sehr eindrucksvoll, wenn wir auch nicht komplett vom Hocker gehauen wurden. Das sollte sich bei unserem nächsten Halt ändern, bis zu dem es aber noch ein steiniger Weg sein sollte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ziel waren die Schlammvulkane, von denen es in Aserbaidschan etwa die Hälfte der weltweit rund 1000 Exemplare gibt. Unser Guide lotste den Fahrer quer durch die Pampa, bis wir vor einem umzäunten Areal standen, dessen Eingang von einem Sicherheitsbeamten bewacht wurde. Der wiederum steckte uns ganz nach alter Schule eine handgemalte Karte zu und schickte uns querbeet über Stock und Stein. Eine wirklich furiose Buckelpiste. Frühzeitig erlangten wir die Erkenntnis, dass wir mit dem Gefährt nicht weit kommen würden und machten eine Kehrtwende. Wir stoppten einen der geländetauglichen Ladas, die hier verkehrten und stiegen für die Weiterfahrt um. Nach zwanzig Minuten im Schneckentempo erreichten wir tatsächlich ein Plateau, dass der Mondlandschaft glich. Die vielen kleinen und größeren Schlammvulkane und eine von Blubbergeräuschen untermalte Stille ließen diesen Ort surreal erscheinen. Fasziniert von den Gasblasen, die aus dem Schlamm hervorstiegen, experimentierten wir wie kleine Kinder an dem kalten Schlamm. Als ich leichtsinnig von der einen zur anderen Erhebung hopste, passierte das, was passieren musste: Ich wurde unfreiwillig zur Hauptattraktion. Der weiche Boden gab nicht den erhofften Halt und ich landete mit voller Breitseite und knöcheltief im dickflüssigen Schlamm. Wenn das nicht mal wieder auf dem Mist der weißen Tauben gewachsen ist. Meine Schuhe waren nun vollends in ein schimmerndes Grau getunkt, die Buchse ebenso mit dunklem Matsch übersät und auch mein Handy erfreute sich einer kostenfreien Fangopackung. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, was hier bei Weitem kein Ding der Unmöglichkeit ist, konnte dann aber auch schnell – zusammen mit allen anderen Touristen, Guides und Fahrern – über mich lachen. Ist ja immerhin gesund für die Haut. In Deutschland hätte ich wohl so keinen Zeh mehr in ein Auto setzen dürfe, hier war das völlig egal.
Auf der Heimfahrt hätten wir beinahe zwei Frauen überfahren, die in aller Gelassenheit die Autobahn überquert haben. Kurz darauf erregten Klackergeräusche unter dem Gefährt unsere Aufmerksamkeit. Eine dicke Schraube hatte sich durch das Gummi in den Reifen gebohrt. Den anstehenden Länderpunkt, wir wollten schließlich noch pünktlich zum Fußball, witterte ich bereits in Gefahr. Die Reparatur ging dann aber zügiger als erwartet über die Bühne. Kurz die nächste Werkstatt angefahren, Schraube raus, Reifen für umgerechnet 1-2 Euro pfropfen lassen, fertig. Zurück im Hostel, wechselte ich schnell die Kleidung. Mit Ersatzschuhen konnte allerdings nur Tobias dienen, so dass ich die letzten Urlaubstage, wie ein Clown, mit überdimensionalem Schuhwerk unterwegs war. Nun eh schon auf großem Fuße lebend, gönnten wir uns in einem Imbiss jeder zwei Döner und zwei große Getränke für 3,50 EUR pro Person. Im Stadion würde sich das Catering ja erfahrungsgemäß auf Sonnenblumenkerne beschränken. Und genau so war es dann auch im Tofiq-Bahramow-Stadion. Dem wohl einzigen Stadion der Welt, das nach einem Linienrichter benannt ist. In Aserbaidschan und England wird Bahramow verehrt, von Deutschlands Altinternationalen verpönt. Der Groschen dürfte mittlerweile gefallen sein: Wembley 1966. Mehr Worte bedarf es zu dieser Geschichte nicht. 1951 als Josef-Stalin-Stadion eröffnet, waren es deutsche Kriegsgefangene, die die im 2. Weltkrieg zum Erliegen gekommenen Bauarbeiten nach 12 Jahren abschlossen. Im Rahmen der Entstalinisierung erfolgte 1956 (bis 1993) die Umbenennung in Wladimir-Lenin-Stadion.
Ohne Eintritt und ohne Eintrittskarte ging es für uns ins Stadion. Dafür fragten uns zwei Polizisten, ob wir denn Bengalos dabeihätten, was wir nur durch das demonstrative Anreißen einer Fackel verstanden. Damit konnten wir den Herrschaften leider nicht behilflich sein. Also zurück zum Sport: FK Qarabağ Ağdam trat zum Heimspiel an, zumindest auf dem Papier. Eigentlich ist die Azersun Arena (Kapazität: 5.800) die Heimspielstätte des amtierenden Meisters. Der Volksheld – weil Rekordnationalspieler – und Manager Gurban Gurbanov bevorzugt für die 500 Zuschauer aber das 31.200 fassende Nationalstadion. Im Grunde genommen hat FK Qarabağ Ağdam seit 1993 kein Heimspiel mehr ausgetragen. Wie der Name bereits vermuten lässt, stammt der Verein aus der Krisenregion Bergkarabach und spielt seit 27 Jahren aufgrund des Konflikts in Baku, wo er rund 800.000 Flüchtlingen Identifikation stiftet. Ağdam selbst ist heute eine verlassene Geisterstadt. Nicht zuletzt durch große staatliche Zuwendungen konnte der heimatlose Verein große Erfolge in der letzten Dekade feiern. Neben sechs Meistertiteln in Folge seit 2014 gelang es 2017/18 als erster aserbaidschanischer Verein nach drei überstandenen Qualifikationsrunden die Gruppenphase der Champions League zu erreichen. Gegner der heutigen Partie war Sabah FK. Ein Verein, der erst 2017 gegründet wurde und im ersten Jahr als Tabellenfünfter der zweiten Liga gleich in die Azerbaijan Premier League aufsteigen durfte. Rund 30 Gästefans stellten sich dem lautstarken Support der Qarabağ-Fans entgegen. Die waren zwar in einer größeren Gruppe von 200 Mann und zwei kleineren Fanlagern aufgeteilt, sangen aber dennoch zu keinem Zeitpunkt gegeneinander an. Eher abwechselnd und ganz selten geschlossen fand die Unterstützung statt. Das Spiel war recht einseitig und ging mit 3:0 klar an den Favoriten. Spannender war aber ohnehin das Drumherum. Vor uns saß ein Azeri mittleren Alters mit einem „Hausaufgaben gefährden die Dummheit“-Shirt. Auch nicht schlecht. Der Nachbar rechts von uns versuchte mit uns auf Landessprache zu fachsimpeln und zur linken erspähten wir einen Besucher, der seinen Hamster in einem Käfig durchs Stadion spazieren trug. Tobias witterte schon die nächste Tourifalle und hielt prompt Abstand.
Nach Abpfiff marschierten wir per pedes zum Heydar-Aliyev-Kulturzentrum, benannt nach einem ehemaligen Präsidenten, der oftmals kritisiert wurde, vor allem aber noch immer glorifiziert wird. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991, führte Heydar Aliyev Aserbaidschan in die Rechtsstaatlichkeit, ohne zu vergessen, dabei reichlich Klüngelei für seinen Klan zu betreiben. So verwundert es nicht, dass nach seinem Tod in 2003, Sohnemann İlham Aliyev das Präsidentenamt übernahm. Und bis heute innehält. Diverse Anpassungen der Verfassung machen es möglich. Zuvor hatte Aliyev jr. 1992 die staatliche Ölgesellschaft SOCAR gegründet, die heute als Inbegriff für Vetternwirtschaft und Lobbyismus in Aserbaidschan gilt. Zwanzig Jahre später wurde İlham Aliyev für seine Verdienste endlich ausgezeichnet und zum „korruptesten Mann des Jahres“ gewählt. Der Kreis schließt sich, wenn man sich ansieht, wer das einflussreiche Energieunternehmen in den letzten 14 Jahren geführt hat: Rövnəq Abdullayev, der zugleich Präsident des aserbaidschanischen Fußballverbandes ist. Schleierhafte Doppelfunktionen sind allerdings auch im deutschen Fußball leider keine Seltenheit. Um auf das Kulturzentrum zurückzukommen: Ein wirklich geiler, futuristisch wirkender Baukörper, der u.a. das Nationalmuseum und eine Bibliothek beherbergt. Leider lässt die abendliche Beleuchtung etwas zu wünschen übrig. Bei einer solchen Fassade wäre in der Hinsicht deutlich mehr möglich gewesen. Schade. Da uns noch ein weiteres Naturspektakel bevorstand, sollte uns das aber nicht großartig stören.
Mit dem Taxi fuhren wir 30 Minuten in nördliche Richtung, wo etwas außerhalb der Stadt der brennende Berg, Yanar Dağ, auf uns wartete. Bei diesem Naturphänomen, von dem es weltweit nur eine Handvoll gibt, handelt es sich um ein natürliches Erdgasfeuer am Hang eines Kalksteinhügels. Das mysteriöse Feuer, das schon seit tausenden Jahren brennt, hatte Marco Polo schon im 13. Jahrhundert erwähnt. Da eine solche Feuerbrunst bei Dunkelheit den besten Eindruck macht, waren wir relativ spät an Ort und Stelle. So spät, dass unser Taxi das einzige Auto auf dem verwaisten Parkplatz war. Nach kurzer Diskussion mit den zwei Wachleuten und einem kleinen Obolus, den wir bis heute noch nicht eindeutig als Eintritts- oder Schmiergeld verbuchen konnten, wurde uns Zutritt gewährt. Völlig allein und vollkommen ungestört konnten wir das ewige Feuer auf uns wirken lassen. Flackernden Flammen. Brütende Hitze. Und beißender Gasgeruch, der auf Dauer ein wenig besorgniserregend war. Aserbaidschan, das Land of Fire.
Zurück ins Zentrum ging es mit demselben Taxifahrer, mit dem wir uns auf der Hinfahrt schon köstlich amüsiert hatten. Und das, obwohl die Schnittmenge aus unseren Sprachkenntnissen äußerst gering war. Auf der Rückfahrt hatte man fast schon wieder das Gefühl mit einem Kumpel unterwegs zu sein. Erst hielten wir an einem Supermarkt, wo uns Getränke spendiert worden sind. Mit dem so unterschiedlichen Niveau der Lebenskosten vor Augen, irgendwo jedes Mal aufs Neue eine unangenehme Situation für uns. Wir wussten die vielen kleinen Gesten der Gastfreundschaft aber umso mehr zu schätzen und revanchierten uns zumeist. Die restliche Fahrtzeit wummerten fette Elektrobeats aus den Boxen, die unseren etwas älteren Kutscher, der optisch so gar nicht zu seiner Lieblingsmucke passte, auf Hochtouren brachten. Insbesondere im schleichenden Stadtverkehr hatten wir große Freude an den Blicken der anderen Verkehrsteilnehmer. Runtergedreht wurde die Lautstärke nur um über die Korruption zu fluchen, als wir am SOCAR-Hauptsitz vorbeigefahren sind.
Der letzte Tag unseres Aufenthalts in Aserbaidschan brachte ein ganz besonderes Bonbon mit sich. Die zweite Dusche des Hostels feierte ihre Neueröffnung. Zu Feier des Tages mit warmem Wasser. Dass die Brause sich in einem maximal 2 m² großen Raum befand, der zugleich auch ein WC mit sichtbar defekter Toilette und einem schmuddeligen Waschbecken beherbergte, war für mich ein fairer Preis. Mit einem Höchstmaß an Geschicklichkeit konnte ich – ein bisschen wie bei „Der heiße Draht“ in der 100.000 Mark Show – sicherstellen, dass mein Körper nur mit den Badelatschen unter mir und dem Wasserstrahl in Berührung kam. Für die blonde Hygienetante von Sat.1, Nina Heinemann, die gerne mal mit dem weißen Stoffhandschuh unterm WC-Rand entlangstreift, um die dortigen Feinstaubpartikel zu monieren, wäre das hier aber nichts gewesen. Das soll es dann aber auch zur Hotelhygiene gewesen sein, obwohl der letzte Tag ganz im Zeichen des Leders stand. Des runden Leders allerdings.
Die guten Nachrichten rissen nicht ab. Auf der Zielgeraden bescherte uns der Aserbaidschanische Fußballverband AFFA einen Doppler in der ersten Liga, ganz ohne böse Überraschungen. Zuvor, in der Mittagszeit, trafen wir uns noch einmal mit Elniz, dem wir den letzten gemeinsamen Abend, allem voran seinen Heimweg, rekonstruierten. Einen solchen Rausch habe er noch nicht erlebt, konnte aber auch nicht abstreiten, dass wir ihm vor einem internationalen Vergleich mit der Biertrinkernation Deutschland gewarnt hatten. Wir unterrichteten Elniz, den wir seit unserem Umtrunk der Einfachheit halber nur noch Elvis nannten, über unsere Pläne und verabredeten uns nochmals für den Abend.
Der erste Kick des Tages wurde abermals mit dem Taxi angesteuert. Unser Taxifahrer war, wie nahezu alle seiner Zunft, keiner Fremdsprache mächtig, stellte sich aber unmissverständlich als Michael Schumacher II vor, als wir uns als Deutsche geoutet hatten. Damit hatte der Sportskamerad nicht zu viel versprochen. Mit 120 km/h knüppelten wir innerorts über die Hauptstraßen, wobei kein Manöver ausgelassen wurde, wenn sich dadurch irgendwo ein paar Meter gutmachen ließen. Der Sicherheitsabstand lag auch im höheren Tempo im Zentimeterbereich. Fahrbahnmarkierungen und Straßenschilder wurden eher als gut gemeinte Ideen aufgefasst. Am Stadion angekommen, mussten wir dringend noch etwas feste Nahrung zu uns nehmen. Der weitere Zeitplan war eng gestaffelt und Catering in der kaukasischen Fußballwelt ein Fremdbegriff. Mittels der Futtergeste machten wir Schumi unser Anliegen deutlich. In mittlerweile schon gewohnt gastfreundschaftlicher Manier, wurden daraufhin sämtliche Personen am Wegesrand durch unseren Fahrer angequatscht, bis uns jemand auf ein Restaurant in der Unterführung der vierspurigen Hauptstraße hinwies. Wenige Minuten später standen wir vor selbigem Lokal, welches augenscheinlich aber seit Jahren keinen Besucher mehr gesehen hatte. Zu Fuß machten wir noch einige Meter, ohne große Hoffnung, in diesem toten Gewerbegebiet fündig zu werden. Als wir uns schon mit knurrenden Mägen körnerkauend auf der Tribüne wiedersahen, entdeckten wir doch noch einen Imbiss. Die letzte Schrömmelsbude, versteckt in irgendeinem Hinterhof. Noch verwunderter über unseren Besuch als die anderen Gäste war nur die verwirrte Bedienung. Die Essensbestellung glich einem Wettlauf um Passierschein A38. Irgendwann stand dann doch eine Schlachtplatte auf dem Tisch. Die verwelkten Salate ließen wir unberührt zurückgehen. Alles in allem keine exquisite Kost, aber zum Scheißen reicht’s, wie man im Pott so liebevoll sagt.
Mit Anpfiff waren wir dann in der ASK Arena, die auch schon die Namen Şəfa-Stadion und Inter Arena trug. Die verglaste Außenfassade mit ihren nachträglich aus dem Boden gestampften Eckgebäuden machte einen modernen Eindruck. Ohne Eintritt, Zugangsberechtigung, Kontrolle oder sonstigem Bürokratenmist spazierten wir ins Innere, wobei ich beim Anblick der drei kantigen Tribünen und der unbebauten Hintertorseite etwas wehmütig wurde. Ein Hauch von Georg-Melches-Stadion lag in der Luft! Auf dem Kunstrasen duellierten sich FK Keşlə und FK Qəbələ. Der Heimverein, bis 2017 noch als Inter Baku bekannt, wurde ab und zu von einer Schar aus 100 jungen Menschen unterstützt, die u.a. hinter einer nicht näher definierten „Since 2004“-Fahne standen. Womöglich das Geburtsjahr einer Vielzahl der Fans. Die Gäste, die sich 2015/16 mit Borussia Dortmund in der Europa League messen durften, stellten ungefähr die Hälfte der 1700 anwesenden Zuschauer. Hinterm Tor hatte sich ein ordentlicher Pöbel versammelt, wobei sich der aktive Kern etwas am Rand hinter einer „Red Black Army“-Fahne postierte. Die Antreiber bewegten sich über die gesamte Breite der Tribüne und peitschten die mitgereisten Fans zum Support an. Um dem Nachdruck zu verleihen und sich als Silberrücken im Affengehege zu präsentieren, selbstverständlich mit blanker Brust. Beflügelt vom 2:1-Sieg war die Atmosphäre zwischenzeitlich richtig gut. FK Keşlə beendete die Saison auf dem letzten Platz, FK Qəbələ hingegen – einziger Erstligist, der nicht im Großraum Baku ansässig ist – konnte als Pokalsieger seinen ersten Titel in der 24-jährigen Vereinsgeschichte feiern.
Vom Nordosten Bakus ging es nach Abpfiff zügig, auch ohne den Schumi-Verschnitt, für einen Spottpreis komplett durch die Stadt, bis in den Südwesten. Der Wahnsinn, wie sehr sich das Bild einer Stadt in kürzester Zeit verändern kann. Das Nord-Süd-Gefälle in Essen ist ein Witz dagegen. Moderne, architektonisch teils verrückte Bürokomplexe, Geschäftsleute in Anzügen und makellose Straßen auf der einen Seite. Verwahrloste Baracken, Schotterpisten und auf der Straße spielende Kinder mit einer abgewetzten Pille auf der anderen Seite. Wir waren in Səbail, einem der elf Stadtbezirke, in dem 92.000 der zwei Millionen Einwohner Bakus leben. Der Stadtteil umfasst u.a. das Zentrum und den Boulevard am Kaspischen Meer und gilt eigentlich als reiches Viertel. Abseits der Scheinwelt finden sich aber auch ärmere Ecken. In einer davon steht die 5000 Zuschauer fassende Bayil Arena, die sich heute ASCO Arena schimpft. Die Partie zwischen Səbail FK und Neftçi Baku sollte der sportliche Abschluss unserer Reise sein und entpuppte sich letztlich auch als Höhepunkt, was das Groundhopping angeht. Zeitgleich mit uns kam ein komplett überfüllter Fanbus mit Neftçi-Fans an, die ungefähr ein Drittel der 1600 Zuschauer ausmachten. Da wir auch beim fünften Erstligaspiel im Kaukasus weder zur Kasse gebeten worden sind, noch in irgendeiner anderen Form registriert wurden, sprechen wir von offiziellen Angaben, die aber wohl irgendein Verantwortlicher geschätzt haben muss. Fantrennung war ebenso ein Fremdwort wie Eintritt. Gemütlich spazierten wir also durch die Drehkreuze, die scheinbar ein rudimentäres Überbleibsel der U17-Frauen-WM 2012 sind. In der kommenden Saison könnten die Scanner aber womöglich entstaubt werden, wenn Səbail FK – erstmals in der dreijährigen (!) Vereinsgeschichte, die 2016 gleich in der höchsten Spielklasse begann – in der ersten Qualifikationsrunde der Europa League antreten darf.
Das Stadion hat drei relativ unspektakulär bebaute Seiten. Hinter dem einen Tor steht ein Warmgebäude mit Anzeigetafel und hinter dem anderen Tor versammelte sich die Ultraszene von Neftçi. Knapp 200 Mann geschlossen hinter einer „Forza Neftçi“-Fahne, weiter rechts ein kleiner Haufen von 15 Leuten hinter einer „Neftçimania-Fahne. Harmonisch sieht das nicht aus, ein Konflikt herrsche aber trotz unterschiedlicher Auffassungen der Ultramentalität nicht, was später noch unter Beweis gestellt werden sollte. Da alle Zuschauer durch ein und denselben Eingang ins Stadion mussten, halfen ein paar Lotsen die Fans halbwegs zu trennen. Die schwarz-weißen Neftçi-Anhänger mussten also an der kompletten Gegengerade vorbei, um auf die Hintertortribüne zu gelangen. Und nach dem Spiel auch wieder zurück, was sich als ungeschickt geplant herausstellen sollte. Bevor wir uns einen Platz suchten, wollte ich noch schnell einen Schnappschuss von der Seite machen und erdreistete mich, dazu unter einer brusthohen Kordel herzulaufen, die diesen Bereich absperren sollte. Der herbeieilende Sheriff sah sich daraufhin veranlasst, mich mit einer Hand an der Lakritzstange und Drohgebärden auf Aserbaidschanisch unliebsam zu verscheuchen. Also schnell auf die Tribüne, bevor der Tod durch Strick oder eben jene Kordel droht. Vom auserkorenen Sitzplatz ergab sich ein wunderbarer Blick auf die klassischen Flutlichter und einen Berghang mit sehr einfachen Behausungen im Hintergrund, womit für den nötigen Charme gesorgt war. Das Publikum auf der Tribüne war durch alle Generationen bunt gemischt. Verstärkung für die blau-weißen Səbail-Anhänger gab es vom örtlichen Schützenverein bzw. dem aserbaidschanischem Pendant dazu. Jedenfalls mischten sich kurz vor Anpfiff zwei Dutzend uniformierte Kadetten unter die stimmungswilligen Fans und beteiligten sich hochmotiviert am Support.
Die erste Hälfte des Spiels verlief ziemlich ereignislos. In der Halbzeitpause ging es dafür unter der Tribüne munter zur Sache. Tee aus Pumpkannen wurde kostenfrei an die Zuschauer verteilt. Die kreischende und drückende Traube vor der Ausgabestelle bestand zu meiner Verwunderung ausschließlich aus Kindern. Generell waren sehr viele Kinder auf der Heimseite unterwegs. Drei vor uns sitzende Kids waren mehr mit ihren Sonnenblumenkernen beschäftigt als mit dem Spiel. Nachdem das letzten Korn ausgespuckt war, schielten die Jungs verdächtig oft auf unseren Vorrat, der kurzerhand gerecht unter den jungen Azeris aufgeteilt wurde. Zum Dank gab es strahlende Kinderaugen. Mit Beginn der zweiten Halbzeit gingen die favorisierten Gäste mit 1:0 in Führung. Beim Torjubel machten sich noch allerhand Anhänger von Neftçi auf der Gegengerade bemerkbar, die jetzt lauthals in die Gesänge einstimmten. Der Traditionsverein stellt förmlich das Gegenteil zum gastgebenden Verein dar. 1937 schon gegründet, war man mit 27 Jahren in der höchsten sowjetischen Spielklasse der erfolgreichste Verein Aserbaidschans. Mit der Unabhängigkeit wurden seit 1992 zahlreiche Titel gewonnen und internationale Turniere gespielt. Durch seinen Namen, Neftçi bedeutet so viel wie „Ölarbeiter“, sowie einen Förderturm im Wappen, sind die Wurzeln des Vereins noch heute unverkennbar.
Zurück zum Spielgeschehen, das in den letzten zehn Minuten richtig Fahrt aufnahm. Mit einem Doppelpack (81./85.) drehte Səbail FK das Spiel völlig überraschend und versetzte seine Fans in einen wahren Freudentaumel. Erstmals interessierten sich nun auch die beiden Fanlager füreinander und fingen an sich zu bepöbeln. Die wenigen Ordnungskräfte im Stadion waren hingegen damit beschäftigt, die tobenden Kinder vom Geländer fernzuhalten. Die Blau-Weißen protestierten bereits wild gegen die überzogene Nachspielzeit, als es kam, wie es kommen musste, wenn der Underdog in einem Stadion mit drei Tribünen kurz vor Feierabend knapp führt: Es klingelte nochmal im Netz. 2:2. Abpfiff. Mit selbigem sprinteten die drei Jungspunde, die wir vorhin noch mit Vogelfutter versorgt hatten, quer über den Platz. Die übereifrigen Polizisten hinterher. Von dem Schauspiel animiert und sicherlich auch aufgrund der aufgeladenen Stimmung folgten einige Fans mehr, so dass es zu einem kleinen Platzsturm kam. Trotz des Spielverlaufs, wurden die Neftçi-Spieler gnadenlos vom eigenen Anhang rund gemacht, während die Səbail-Fans ihre Mannschaft wie Sieger feierten.
Auf dem Weg heraus aus dem Stadion liefen Fans beider Lager bunt gemischt hinter der Tribüne entlang und intonierten, noch immer angepeitscht von der fulminanten Schlussphase, inbrünstig ihre Schlachtgesänge. Kaum fragte ich mich, ob das denn so gut gehen könnte, flog schon die erste Faust und läutete eine undurchsichtige Keilerei ein. Um den Part des neutralen Beobachters beizubehalten, wichen wir einige Schritte zur Seite in eine Einkerbung der Tribüne. Einer der vorhin noch so akribisch arbeitenden Cops, der sich schon an dieses ruhige Fleckchen zurückgezogen hatte, hielt nicht viel von unserer Idee und stieß uns zurück ins Tohuwabohu. In diesem Moment hatten auch die Neftçi-Ultras hinterm Tor von der Hauerei Wind bekommen. Geschlossen kam der schwarz-weiße Mob um die Ecke gerannt und trieb die gesamte Prügelgesellschaft durch den schmalen Gang hinter der Tribüne. Erst am Ende der Längsseite konnten wir uns der flüchtenden Masse wieder entziehen. Meinem Kompagnon Tobias, der mit derlei Situationen eigentlich bestens vertraut sein sollte – Zebras sind bekanntermaßen Fluchttiere – schlug die Situation ganz schön auf die Pumpe. Vom etwas höher gelegenen Stadionausgang beobachteten wir noch die letzten Jagdszenen auf dem Parkplatz, bevor wir uns, nachdem sich die Szenerie beruhigt hatte, auf den Weg ins Hostel machten.
In der Unterkunft angekommen, lernten wir eine Iranerin kennen, die gerade angekommen war. Shabnam aus Teheran. Mit Nasenpiercing, offenem Haar und Rammstein-Shirt entsprach ihre Erscheinung nicht wirklich dem Stereotyp, den wir in Deutschland von den im Orient lebenden Menschen haben. Da Shabnam alleine unterwegs war, boten wir an, sich uns anzuschließen. Wir waren mit Elvis und einem Freund von ihm, Khasay, in einem Restaurant mit landestypischer Küche verabredet und fragten kurz nach, ob das in Ordnung sei. Kein Problem, obwohl wir später erfuhren, dass ein geplanter Hamam-Besuch, mit dem wir überrascht werden sollten, deswegen ins Wasser fallen mussten. Schade drum, aber manchmal ist der interkulturelle Austausch dann doch wertvoller als ein wenig Wellness. Nachdem wir fürstlich gespeist hatten, konnten wir uns nicht dagegen erwehren, die komplette Rechnung – auch von Shabnam – durch die beiden Azeris übernehmen zu lassen. Da waren wir schon baff und konnten uns abermals nicht oft genug bedanken. Wir tingelten anschließend durch verschiedene Bars, wo meine Wenigkeit beim Karaoke noch einen aserbaidschanischen Hit zum Besten gab, ohne zu wissen, worum es in dem Song geht. In selbiger Karaokebar zeigte sich der Chef des Hauses kurzzeitig etwas besorgt, als Shabnam ihren Stopftabak auf den Tisch legte. Drogen seien hier nicht erlaubt, ließ der unwissende Herr vermitteln.
Über den Iran und seine Menschen hatten wir schon von anderen Reisenden viele positive Worte gehört. Nun hatten wir die Möglichkeit, aus erster Hand eine ganze Menge über das Leben dort zu erfahren. Die Regierung kam dabei wie erwartet nicht gut weg. Facebook und derlei Netzwerke sind grundsätzlich gesperrt, so dass nahezu jeder über eine VPN-Verbindung im Internet unterwegs ist. Die Partyszene lebt sich hauptsächlich im Untergrund bzw. in Privatwohnungen aus. Die politischen Eskapaden des Irans sind bekannt. Kurz nach unserem Trip erhalte ich eine Push-Nachricht auf mein Handy: „Trump droht mit Auslöschung des Irans.“ – An Menschen wie Shabnam scheinen die mächtigen Koryphäen auf unserer Welt nicht zu denken, wenn solche Aussagen vom Stapel gelassen werden. So schnell wird man nach der Heimkehr wieder vom Alltag geerdet.
Uns zog es anschließend weiter in eine angesagte Disco, die wir nach einiger Überzeugungsarbeit beim Alphatürsteher betreten durften. Zwischen übertrieben aufgetakelten Flittchen und überkrass trainierten Maschinen, die hier in enger Zusammenarbeit unter Touristen und gut betuchten Azeris ein Geschäft witterten, hielt es uns jedoch nicht all zu lange. Die letzten Stunden, bevor es um drei Uhr zum Flughafen gehen sollte, wollte Elvis mit seiner internationalen Abendbegleitung bei Tee und Shisha verbringen. Es war allerdings Sonntag, kurz nach Mitternacht. Wir hatten uns mittlerweile von dem Gedanken verabschiedet, vorher noch etwas Schlaf zu bekommen. Die zu Fuß zu erreichenden Shishabars waren jedoch allesamt geschlossen. Khasay, der mit dem Auto gekommen war, schlug vor, ein Ründchen zu drehen, um Ausschau nach einer offenen Bar zu halten. Wenige Momente später standen wir vor einem nagelneuen Audi Q7. Da waren wir schon wieder baff. Bestens vertraut mit der Fahrweise des gemeinen Aserbaidschaners, wollten wir uns selbstverständlich anschnallen. In meinem Gurtschloss steckte allerdings schon die passende Schlosszunge, nur ohne den Sicherheit bringenden Gurt daran: „Fuck off, you’re in Azerbaijan!“ – Hauptsache die Edelkarosserie piept nicht. Tobias hatte auf der Rückbank zunächst etwas mehr Glück und konnte sich ordnungsgemäß anschnallen, löste damit aber eine mittelschwere Herzattacke bei Khasay am Steuer aus. Der machte plötzlich große Augen, die nun schockiert, beinahe angsterfüllt, auf die Armatur starrten. Im ersten Moment wirkte die Reaktion etwas besorgniserregend, bevor wir einen Augenblick später kollektiv in Tränen ausbrachen. Vor Lachen. Was war passiert? Khasay befürchtete irgendeinen Schaden an seinem neuen Wagen, da er wohl erstmals in seinem Q7 das Symbol dafür aufblinken sehen hat, dass eine angeschnallte Person auf der Rückbank sitzt: „Holy shit, take it off, man!“ brüllte der Fahrer noch leicht traumatisiert nach hinten, ohne sich ein Lächeln verkneifen zu können.
Wir fanden letztlich doch noch eine Bar, um in den Genuss von Shisha und Tee zu kommen. Die vertraute Runde begleitete uns um 3 Uhr noch zum Hostel und bestellte bereits ein Taxi, während wir den letzten Krempel aus unserer Kaschemme hervorholten. Khasay kramte aus seinem Auto noch einen Schlüsselanhänger und ein angebrochenes Parfümpröbchen hervor, um uns nicht ohne Gastgeschenk gehen zu lassen. Zu allem Überfluss zahlten unsere beiden aserbaidschanischen Freunde noch unser Taxi zum Flughafen, was uns abermals mehr als unangenehm war, sich aber absolut nicht vermeiden ließ. Nach einer herzlichen Verabschiedung von Shabnam, Khasay und allem voran Elniz, mit dem wir ein Wiedersehen in Deutschland vereinbarten, ging es zum Heydar-Aliyev-Airport. Selbst bei der Ausreise gab es zum armenischen Stempel im Pass noch ein paar blöde Rückfragen. Mittlerweile routiniert kurz dümmer gestellt, als es die Fragen eh schon waren, bis der Beamte entnervt von mir abließ und ich passieren durfte. Nach einem reibungslosen Zwischenstopp in Budapest waren wir nach acht Stunden, in denen wir eine wahnsinnig aufregende Reise mit unendlich vielen Eindrücken nochmal Revue passieren lassen konnten, wieder in heimischen Gefilden. Sollten die Konflikte nicht wieder ausbrechen, werden die Touristenzahlen in den nächsten Jahren sicherlich steil nach oben schießen und viele Menschen mehr in den Genuss kommen, den Kaukasus zu entdecken. Die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft gegenüber Fremden ist grenzenlos und sollte eine Inspiration für den deutschen Berufsnörgler sein. Die Nachkriegszeit Deutschlands mit samt seiner Wiedervereinigung hingegen darf gerne als Vorbild für die Krisenregionen in Georgien, Armenien und Aserbaidschan herhalten. Vielleicht, ganz vielleicht, wenn kommende Generationen einmal das Zepter übernehmen, kann FK Qarabağ Ağdam dann eines Tages wieder ein echtes Heimspiel bestreiten und ein EM-Qualifikationsspiel das einzige Kräftemessen zwischen Armenien und Aserbaidschan sein.