05.07.2019

Bericht Armenien

von Sebastian Hattermann

Das nächste Ziel war also Armenien. Ein gebeuteltes Land mit einer großen Geschichte. Im Westen grenzt die Türkei, wobei Armenien die derzeitige Grenze bis heute – aus später zu erläuternden Gründen – nicht anerkennt.

Armenische Soldaten scheuchen die Rinder von der StraßeDas Verhältnis der beiden Staaten ist seit dem Völkermord 1915, den die Türkei noch immer leugnet, belastet. Fast 1,5 Millionen Armenier wurden damals durch das Osmanische Reich getötet. Geschlossen ist die Grenze allerdings erst seit 1993, weil sich die Türkei im Bergkarabachkonflikt mit Aserbaidschan solidarisierte, womit wir beim östlichen Nachbarland wären. Da auch die armenisch-aserbaidschanische Grenze komplett dicht ist, waren wir später gezwungen, über Tiflis nach Baku zu reisen.

Der aktuelle Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan existiert schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts. Auf der einen Seite wäre da die Autonome Republik Nachitschewan, eine aserbaidschanische Exklave mit eigenem Parlament, gelegen zwischen Armenien und Iran. Die Bevölkerung besteht zu 99 % aus Aserbaidschanern, da die Armenier in den 1920er Jahren aufgrund steigender Repressionen nahezu vollständig ausgewandert sind. Auf der anderen Seite gibt es die deutlich bekanntere Region Bergkarabach, bei der es sich umgekehrt verhält. Das Gebiet liegt innerhalb Aserbaidschans und ist überwiegend von Armeniern bevölkert. 1991 erklärte sich die Republik Bergkarabach für unabhängig, wird jedoch bis heute von keinem Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen anerkannt. Zwischen 1992 und 1994 überschattete ein Krieg die Region und forderte zigtausende Menschenleben. Seitdem herrscht mehr schlecht als recht ein Waffenstillstand, der zwischenzeitlich von bis zu 20.000 Soldaten der armenischen Armee in Bergkarabach sichergestellt werden sollte. Die schwersten Gefechte seitdem ereigneten sich im April 2016, als beinahe 100 Soldaten und Zivilisten gestorben sind. „Tauscht doch einfach!“ möchte man als Außenstehender brüllen, was der Situation und den sich dort heimisch fühlenden Menschen aber natürlich nicht gerecht wird. Im Gegensatz zu diesem ewigen Konflikt soll der politische Exkurs an dieser Stelle aber vorerst beendet sein.

Zurück in die Marschrutka, die uns in sechs Stunden in die 275 km entfernte Hauptstadt Jerewan brachte. Die armenische Grenze, wo man uns freundlich mit einem „Guten Tag“ empfangen hatte, war bereits nach einer Stunde erreicht. Schnell war der Stempel im Reisepass, bevor aus der Straße eine unbefestigte Buckelpiste und aus unserem Minibus ein Lowrider wurde. Nach einer Stunde rollten die Reifen wieder über einem Fahrbelag, der seinem Namen auch gerecht wurde. So konnten wir fortan auch unbeschwert die Aussicht auf die Schluchten, die fließenden Gewässer und die parallel verlaufenden Eisenbahnschienen genießen. Im armenischen Hochland fuhren wir später über schneebedeckte Berge und konnten zudem einen Blick auf den Aragaz erhaschen. Mit 4090 Metern eigentlich der höchste Berg des Landes. Im Wappen des Landes ist dennoch der 5137 Meter hohe Ararat abgebildet. Der heilige Berg, auf dem Noah schon mit seiner Arche gestrandet sein soll, liegt allerdings heute in der Türkei. Das liegt daran, dass Armenien ursprünglich viel größer war und sich einst bis ans Kaspische Meer erstreckte, im Laufe der Jahrhunderte aber immer mehr an Fläche einbüßte. So kommt es dazu, dass Armenien heute 3 Millionen Einwohner hat und im Ausland rund 8 Millionen Armenier leben, deren Überweisungen ins Land knapp 20 % des BIPs ausmachen. Die Türkei, der das Wappen Armeniens ein Dorn im Auge ist, protestierte einst mit Verweis darauf, dass sich der Ararat auf türkischem Hoheitsgebiet befinde. Die armenische Antwort, dass der Mond auch kein Teil der Türkei sei, ließ die Proteste schnell wieder verstummen.

Am Busbahnhof in Jerewan angekommen, schnappten wir uns das erstbeste Taxi. Der Lada war allerdings dermaßen abgewrackt, dass dieser sogar im armenischen Verkehr auffiel. Der Fahrer war aufgrund seines fortgeschrittenen Alters ähnlich zerfallen und sprach kein Wort Englisch. Unsere Trümpfe in Armenien waren Henrikh Mkhitaryan und Arthur Abraham, die das Eis zwischen ausnahmslos jedem Personenbeförderer und unsereins schmelzen ließen. Besser hätte das nur mit einer Koryphäe aus dem Nationalsport funktioniert: Schach. Seit 2011 Pflichtfach in der Schule. Schachlegende Tigran Petrosjan ziert gar eine Banknote, sowie eine Statue in der Hauptstadt. Die Armenier meinen es ernst mit ihrem nicht sonderlich athletischen Volkssport.

Auch noch nicht gesehen: SchachfachgeschäfteGenauso ernst meinten wir es mit der Nahrungssuche und machten uns sogleich, nachdem wir uns im Hause einer philippinischen Familie einquartiert hatten, für diese auf den Weg.  Ausreichend gestärkt, verschafften wir uns einen ersten Überblick von der Millionenstadt. Diesen erhält man nirgendwo besser, als von der 572 Stufen hohen Kaskade. Einmal oben angekommen, bietet es sich an, direkt auch bei Mutter Armenia vorbeizuschauen. Von hoch oben im Siegespark wacht die – besonders bei Dunkelheit – elegant angestrahlte Statue über die Stadt. Bis 1962 flanierte noch Joseph Stalin, der rote Diktator, auf dem 36 Meter hohen Sockel. Nachdem wir die Vogelperspektive hinreichend ausgekostet hatten, vereinbarten wir mit dem Herrn des Hauses im Hinterhofhostel noch einen Ausflug für den Folgetag. Dann ging es die schummrigen Treppen zu unserer Bleibe hinab. Die Betten, die uns dort erwarteten, wären selbst für den robustesten Fakir vom Zirkus Roncalli eine Zumutung gewesen. Dafür war uns nun klar, woher die Redewendung „sich in die Federn legen“ stammen musste. Aus dem Hostel Radiance in Jerewan.

Für den ersten ganzen Tag standen einige Sightseeing-Highlights und der Länderpunkt Armenien auf dem Zettel. Der mehrstündige Ausflug, den wir individuell zusammenstellten, war über unseren Host Ricky gebucht, der uns als Guide begleitete. Unser armenischer Fahrer Razmik hatte aber nicht minder zu erzählen gehabt. Läppische 22.000 Armenische Dram, also rund 40 Euro, ließen sich die beiden ihren Service insgesamt kosten. Einen ersten kurzen Zwischenstopp machen wir am „Arch of Charents“, einem relativ unspektakulären Torbogen zu Ehren eines berühmten armenischen Dichters. Als Fotomotiv gibt er dennoch eine Menge her, da sich bei klarem Wetter ein perfekter Blick auf den Ararat ergibt, den wir leider nur schemenhaft erkennen konnten. Das nächste Ziel war der Tempel von Garni, der stark an die griechische Akropolis erinnerte. Wirklich vom Hocker gerissen hatte uns die Anlage aber nicht. Die Schlucht hinter dem Tempel war zwar ganz imposant, konnte mit dem Okatse-Canyon in Georgien aber nicht mithalten. Bis wir uns diese beim nächsten Halt aus nächster Nähe angesehen haben. Was sich dort unterhalb der Berghöhen in der Garni-Schlucht unseren Augen auftat, haute uns komplett aus den Socken. Um zu diesem phänomenalen Ort zu gelangen, stiegen wir zunächst in einen russischen Lada um, dessen Zustand jeder Beschreibung spotten würde. Allradantrieb, alles andere war egal. Wir quetschten uns also zu fünft in die Klapperkiste und fuhren nach wenigen Minuten einen schmalen Pfad hinab, der auch mit viel Wohlwollen nicht als Straße zu bezeichnen wäre. Der Untergrund bestand quasi nur aus grobkörnigen Gesteinstrümmern. Links von uns floss ein Bach, hier und da rissen ein paar Bauarbeiter den Boden auf und im Tal angekommen waren wir mutterseelenallein. Wahnsinn! Wir sind unter der Woche in der Nebensaison unterwegs gewesen, aber standen immerhin auch bei bestem Wetter vor einem Naturwunder, das nicht grundlos Stone Symphony genannt wird. Eine Felswand aus 50 Meter hohen, augenscheinlich von Mutter Natur symmetrisch angeordneten Basaltsäulen, ließ uns aus dem Staunen nicht mehr rauskommen. Insbesondere die gewaltigen Vorsprünge in den kerzengeraden Felsformationen veranlassten uns, die Linse am Handy glühen zu lassen und massenhaft Fotos zu schießen. Es fällt mir heute noch schwer zu glauben, dass diese Basaltsäulen nicht von Menschenhand zurecht geklöppelt worden sind, sondern vulkanisch entstanden sind. Übrigens, Basalt dürfte dem Ottonormal-Chemieschwänzer wohl kein besonders geläufiger Begriff sein, ist aber, Festland und Meeresgrund zusammen betrachtet, das meistverbreitete Gestein auf unserem Planeten. Wieder einen Joker beim Jauch gespart.

Mutter ArmeniaGestein ist auch das Schlagwort zu unserer nächsten Adresse. Das Kloster Geghard, welches teilweise in einen Felsen geschlagen wurde. Der Name bedeutet so viel wie „Kloster zur Heiligen Lanze“ und beruht auf der Geschichte, dass der Apostel Thaddäus einst die Lanze hier aufbewahrte, mit der auf Jesus am Kreuz eingestochen worden sein soll. Innerhalb der steinernen Hallen haben allem voran die Akustik und das Echo einen einmaligen Eindruck hinterlassen. Spätestens als eine Pilgerin sich spontan zu einer gefühlvollen Operetteneinlage berufen fühlte, wurden unsere akustischen Überprüfungen mittels waldorfschülermäßigem Klatschen und affenartigen Brunftgeräuschen in den Schatten gestellt. Im Außenbereich gab es noch ein paar kleinere Höhlen zu entdecken, die sich mit festem Schuhwerk gut erforschen lassen. Unser Guide hatte die Kletterpartie aber auch mit Badelatschen einwandfrei gemeistert. Am Eingang des Geländes motivierte Ricky uns dazu, Kieselsteine in die Einkerbungen des felsigen Gemäuers zu werfen. Bleibt der Stein in diesen liegen, geht ein Wunsch in Erfüllung. Für die untalentierten Steinwerfer gibt es die Möglichkeit, einige Meter weiter, nach Überquerung des Flusses Azat, ein Taschentuch am Ufer in die Sträucher zu knüpfen. Es winkt ein weiterer Wunsch frei. Dem Aberglauben kann ich persönlich nicht viel abgewinnen, an den Bräuchen und insbesondere dem skurrilen und zugleich schönen Bild, kann ich mich aber dennoch erfreuen.

Im Anschluss fuhren wir wieder zurück nach Jerewan, um am Zizernakaberd-Hügel, einem Denkmalkomplex zum Völkermord an den Armeniern von 1915, einen letzten Stopp zu machen. Kostenfrei konnte zunächst das unterirdische Genozid-Museum besucht werden, das mit vielen Bildern den Ursprung des eingangs erwähnten Verhältnisses zur Türkei dokumentiert. Deutschland, seinerzeit indirekt am Massaker beteiligt, hatte den Völkermord und seine Mitschuld erst 2016 anerkannt. Spätestens als wir das Museum mit einem Kloß im Hals verließen, dürfte auch Tobias bewusst geworden sein, wieso ein Vergleich zwischen Armenien und der Türkei im Auto ein betretenes Schweigen und warnende Blicke von mir nach sich gezogen hatte. Auf dem Außengelände des Komplexes fällt sofort ein 44 Meter hoher Obelisk ins Auge, hinter dem sich das Zentrum der Hauptstadt auftut. Von oben lässt es sich wunderbar ins Stadion Hrasdan, die größte Spielstätte Armeniens, hineinschauen. Die geschwungenen Tribünen, sowie die knalligen Sitze im Kontrast zum bröckelnden Beton, geben der Schüssel einen besonderen Charme. Später warfen wir noch aus nächster Nähe einen Blick ins Stadion und sahen dabei einen älteren Herrn, der einsam auf einem Hang stand und wehmütig ins leere Rund blickte. Als der unser Interesse am Stadion registrierte, kehrte die Freude zurück in seine Mimik. Euphorisch gestikulierend schien er uns die gesamte Historie der Hütte erzählen zu wollen. Auf Armenisch, versteht sich, wobei „Champions“ und ein - pantomimisch dargestellt - volles Stadion das einzige war, das sich verstehen ließ. Lang muss es her sein. Der FC Ararat Jerewan, der hier 1975 noch in der Champions League vor 70.000 Zuschauern mit 1:0 gegen Bayern München gewinnen konnte, spielte zuletzt 2014/15 im Stadion Hrasdan. Die Nationalmannschaft hatte gar 2012 ihren letzten Besuch abgestattet. Der Grund? Das alte Schätzchen wird den UEFA-Standards nicht mehr gerecht. Die Zukunft? Ungewiss. Der Verband sucht eine Fläche für ein neues Nationalstadion.

Doch zurück zum eigentlichen Highlight des Tages. Mit der Partie zwischen FC Pyunik II und FC Banants III sollte der Länderpunkt Armenien eingeheimst werden. Dass die Partie heute um 15 Uhr im nebenan gelegenen Pyunik Stadium stattfinden würde, ließ ich mir vor wenigen Tagen noch über Facebook-Kanak vom gastgebenden Verein bestätigen. Angekommen auf dem Sportkomplex, auf dem Henrikh Mkhitaryan 16 Jahre lang die Fußballschuhe geschnürt hat, beschränkte sich das Treiben auf die Trainingseinheiten verschiedener Jugendmannschaften. Mit Müh und Not in Erfahrung gebracht, dass das Spiel verschoben wurde, hing auch der zweite Länderpunkt an einer einzigen Partie, die morgen über die Bühne gehen sollte. Von drei geplanten Spielen konnte bislang nur eins planmäßig besucht werden. Der Kaukasus, in jeder Hinsicht unberechenbar.

Tempel von GarniDer Frust wurde mit einer leckeren Portion Khashlama, einem nationalen Fleischgericht, bekämpft. Ein lokales Restaurant im Stadtzentrum zu finden war allerdings gar nicht so einfach. Darum sei an dieser Stelle wärmstens das „Tun Lahmajo“ empfohlen, bei dem das gesamte Paket zu überzeugen wusste. Nach einer kurzen Rast in unserer Absteige, stürzten wir uns endlich ins armenische Nachtleben. Erster Anlaufpunkt war die angesagte Bar Calument. So angesagt, dass man uns an der Tür erst mit einem mürrischen „just couples“ abwimmeln wollte. Erst als der Chef vom Dienst auftauchte wurden nach kurzer Diskussion in uns zwei flüssige, nach Flüssigkeit dürstende Gäste deutscher Herkunft gesehen. Eine Gefahr von uns ging also nur für die eiserne Reserve des Biervorrats aus. Trotz der Startschwierigkeiten wurden wir mit dem unterirdisch gelegenen und sehr speziell eingerichteten Laden schnell warm. Die meisten Plätze am Tresen waren mit etwas Kreppband, auf dem für uns nicht lesbare Namen standen, reserviert. Wen wundert’s, denn nur am Tresen macht man sich einen Namen. Wir nutzten die einzige freie Ecke, um uns festzuschnallen und verschiedene armenische Biere zu verköstigen. Verwöhnt vom heimischen Stauder, kann ich den armenischen Bierproduzenten leider nur attestieren, am Thema vorbeigebraut zu haben. Nichtsdestotrotz trugen die Schundbiere ihren Teil bei, Anschluss an die familiäre Atmosphäre im Calument zu finden. Jeder kannte jeden, der Wirt wurde von eintreffenden Gästen geherzt und die lokale Liveband wild abgefeiert. Kurios vor allem, dass sich Mittzwanziger selbst in der Kneipe die Zeit für eine Partie Schach auf dem Smartphone nehmen. Zwischenzeitlich war auch unsere Sitznachbarin eingetroffen. Eine armenische Professorin, die mal ein Jahr in den Niederlanden gelebt hat und sich freute, ein paar Sätze Holländisch mit mir zu wechseln. Zügig wurden wir auch mit den anderen Gästen bekannt gemacht: Darunter ein angeblich äußerst bekannter Aquarell-Maler, der uns gleich mit einer Portion Potato Wedges versorgte, sowie ein weiterer Maler, der zwar hier geboren wurde, jedoch nun in Passau lebt. Er sei hier, um den Fahrradtourismus aufzubauen, was ähnlich sinnvoll erscheint, wie alpiner Tourismus in den Niederlanden. Nach dem kleinen Konzert stand die Band noch für ein Gruppenfoto mit unseren neuen Bekanntschaften zur Verfügung, zu dem wir uns zugesellen sollten. Wie in unseren Sphären üblich, legte ich intuitiv meine Arme um den Kumpel zur Linken und die Sängerin zur Rechten. Letzteres zu wiederholen wurde mir allerdings schnell abgeraten, um Ärger zu vermeiden, da dies doch hierzulande etwas zu intim sei. Ups.

Uns zog es anschließend weiter in den Tanzschuppen Stoyka, der ebenfalls – wie gefühlt alle Lokale in Jerewan - unterirdisch war. Genauso wie die Stimmung dort. Während in Deutschland über ein Verbot in Schulen diskutiert wird, scheint die klassische Joggingpeitsche hier zum guten Ton zu gehören und als solides Disco-Outfit anerkannt zu sein. Die Tanzfläche war verwaist und die Sitzgelegenheiten am Rande mit wenig amüsiert schauenden Leuten frequentiert. Nachdem die Getränkeversorgung immerhin reibungslos lief, fühlte sich mein schamloser Kollege aus Duisburg dazu berufen, das Parkett einzuweihen. Na gut, uns kennt ja eh keiner, was sich aber auch hier schnell änderte. Als wir mit dem Laden fertig waren, tobte die Meute zum Beat. Der Job war erledigt. Auf dem Heimweg schlenderten wir noch an einem weiteren Club vorbei, der von außen so aussah, als könnte er unsere Hilfe gebrauchen. Nachdem wir von zwei blanken Brüsten, die vor trister Kulisse auf- und abhüpften, begrüßt worden sind, entschieden wir uns dann aber doch, den Laden seinem Schicksal zu überlassen.

Das ganze Ausmaß der Nacht wurde erst am nächsten Morgen ersichtlich. Das Licht war angeblieben, genauso wie die Klamotten von dem angeschossenen Zebra neben mir. Dafür war Tobias aber umso schneller bereit für unseren Ausflug, für den wir – zumindest für deutsche Verhältnisse – schon viel zu spät dran waren. Ricky und Raz warteten bereits geduldig auf uns, so dass wir noch im Dunste der vergangenen Partynacht zügig in altbewährter Besatzung losrollen konnten. Wie es schon in Georgien mit Dato der Fall war, fühlten wir uns auch bei den beiden geführten Touren in Armenien pudelwohl. Die Stimmung im Auto war zu jeder Zeit unbekümmert und ausgelassen. Wir hatten interessante Gespräche über die unterschiedlichen Lebensweisen, genauso wie wir über- und miteinander scherzen und lachen konnten. Die gemeinsamen Stunden waren tatsächlich wie unter Freunden.

Stone SymphonieUnser Ziel war Khor Virap, ein Kloster im Schatten des Ararat, den wir möglichst wolkenfrei bestaunen wollten. Wir fuhren also extra früh los. Nach rund 30 Minuten Fahrt zeigte sich das Ungetüm, der große Ararat, erstmals in der Ferne. Während der Anblick hier noch etwas von einer dichteren Wolkendecke getrübt war, zeigte sich der Koloss 15 Minuten später nahezu in seiner ganzen majestätischen Pracht. Unsere Guides hielten bereits 200 Meter vor unserem Ziel an. So ergab sich mit dem alten Kloster und dem heiligen Berg im Hintergrund ein wahnsinnig eindrucksvolles Fotomotiv, das in keinem Reiseführer fehlen darf. Der seit 1840 ruhende Vulkan ist der einzige derart freistehende Fünftausender auf unserem Planeten, was den Anblick so einzigartig macht. Anders als in den uns besser bekannten Alpen, wo man beim Vorbeifahren keinen blassen Schimmer hat, welcher Gipfel zu welchem Berg gehört. Khor Virap liegt auf 830 Metern über dem Meeresspiegel und in rund 30 Kilometern Entfernung sticht plötzlich ein Berg um 4000 Meter aus seinem Umland hervor. Ein atemberaubender Anblick!

Möchte man sich die Route von Khor Virap zum 30 km entfernten Ararat, der immerhin bis 1929 zu Armenien gehörte, über Google Maps ausspucken lassen, wird einem übrigens eine Autofahrt über beinahe 13 Stunden vorgeschlagen. Da die vom Kloster sichtbare Grenze zur Türkei, an dieser Stelle durch den Fluss Aras gekennzeichnet, schon lange dicht ist, schlägt Google einen kleinen Umweg über Georgien vor. Wir fuhren stattdessen die letzten Meter bis zum Kloster vor, wo wir erstmals von etwas akribischer agierenden Reibachmachern angesprochen worden sind. Als mir der erste Wegelagerer mit einer weißen Taube in der Hand entgegenkam, blitzte sogleich ein Reisebericht von dieser Tourifalle in meiner Hirnrinde auf. Ganz davon ab, dass die Tierhaltung zu solch schnellen Geschäften nicht meiner Vorstellung entspricht, lehnte ich das Angebot höflich, aber bestimmt, ab. Ehe ich mich versah, hielt mein Reisekumpane allerdings schon eine der Tauben – wie ein Hörnchen Eis mit drei Kugeln – in der Hand, um diese einen Moment später wieder fliegen zu lassen. Wie der findige Taubenzüchter im Ruhrgebiet weiß, sitzt aber natürlich in einem der Käfige das Weibchen der Taube, dass die Rückkehr des freigelassenen Vogels garantiert. Kaum war die erste Taube weg, hatte der Duisburger Sportsfreund zu meiner Erheiterung schon den zweiten Piepmatz in der Hand. Der wehrte sich allerdings gegen die temporäre Gefangenschaft und kämpfte sich aggressiv flatternd so schnell aus der Hand, dass gar keine Zeit blieb, sich etwas zu wünschen. Sonst wäre der MSV jetzt wohl noch zweitklassig. Anschließend wurde ein vorher nicht vereinbarter, wenn auch überschaubarer Obolus eingefordert, der zur Vermeidung weiterer Komplikationen gleich bezahlt wurde. Den Konflikt feuerte dann aber unser Fahrer an, der die Taubenmafiosi für dieses Geschäftsgebaren auf Armenisch zusammenfaltete. Eine Geste von unfassbarer Güte einmal mehr, dass Raz den monetären Verlust seines deutschen Gastes aus eigener Tasche begleichen wollte. Der Euro war aber letztlich gut in einen running gag investiert, der noch das ein oder andere Mal aufgegriffen werden konnte: „Hättest du nicht noch eine dritte Taube fliegen lassen und dir das Geld zurückwünschen können?“

Zurück zum Kloster. Khor Virap also. Im Jahr 301 n. Chr. gab es an diesem Ort eine Neuheit auf diesem Planeten. Das Christentum hatte weltweit erstmalig – und damit rund 100 Jahre vor dem Römischen Reich – als Staatsreligion in einem Land Fuß gefasst. Der Legende nach ein Verdienst von Gregor dem Erleuchter, der für 13 Jahre von König Trdat III. in eine Grube gesperrt worden sein soll, um von seinem Glauben abgebracht zu werden. Nach 13 Jahren – ohne Sonnenlicht und Nahrung – wurde der heilige Gregor befreit, um den König erfolgreich von einer schweren Krankheit zu heilen. Dieser schien dadurch so sehr vom Christentum angetan gewesen zu sein, dass er den christlichen Glauben annahm. Und ganz Armenien gleich mit. Wir ließen es uns natürlich nicht nehmen, uns auf die Spuren dieser kuriosen Geschichte zu begeben und stiegen durch schmalste Erdlöcher hinab in das besagte Verließ. Auch ich hatte nun eine spirituelle Eingebung und sah plötzlich unser Hostel vor meinem geistigen Auge aufblitzen. Der Apostel Armeniens hatte es hier unten jedoch etwas geräumiger. Ohne Leiter und künstliche Lichtquelle dürfte es hier aber seinerzeit sehr ungemütlich und düster gewesen sein, auch für Gregor dem Erleuchter.

Kloster GeghardIn einem kleinen Städtchen, das auf dem Weg zum nächsten Weltkulturerbe lag, kehrten wir zunächst in einem Imbiss ein, wo uns unsere Fremdenführer auf Kebap und Eis einluden, was uns einmal mehr schmeicheln ließ. Die Bedienung im Lokal hatte permanent ein Lächeln auf den Lippen und vermittelte uns so trotz Sprachbarriere, wie sehr man sich doch über ausländische Gäste freut. Gesättigt machten wir kulturell da weiter, wo wir aufgehört hatten und besuchten die Kathedrale von Etschmiadsin, die Gregor der Erleuchter im Jahr seiner Befreiung erbauen ließ. Heute gilt das Baudenkmal als die älteste christliche Kirche, die je von einem Staat erbaut worden ist. Ort und Stelle soll Jesus höchstpersönlich auserkoren und mit einem goldenen Hammer markiert haben. Dieser Überlieferung verdankt die Stadt Etschmiadsin letztlich ihren Namen, der so viel wie „Herabgestiegen ist der Eingeborene“ bedeutet.

Frevelhafterweise wurde größere Begeisterung in mir ausgelöst, als ich auf dem riesigen Kirchenkomplex plötzlich einen halbwegs bespielbaren Fußballplatz mit einer völlig zermarterten Tribüne erblickte. Im Hintergrund ein wohl trockengelegter Sprungturm, nach vorne hin ein verrosteter Maschendrahtzaun. Herrlicher Anblick! Der Pfarrer im schwarzen Talar, der uns über den Weg lief und in einem Smalltalk mit uns seine Deutschkenntnisse auffrischte, wundert sich wohl noch heute mehr über die neugierigen Fragen zum verlassenen Ground, als über die Geschichte von Gregor dem Erleuchter. Nachdem wir mit der Sankt-Gajane-Kirche einen letzten Sakralbau von innen besichtigten und lernten, dass die Gotteshäuser in Armenien aus Respekt rückwärts verlassen werden, ging es zurück nach Jerewan.

Im Hostel angekommen, bedankten wir uns bei unseren einwandfreien Tourbegleitern mit einem Trinkgeld und machten uns nach kurzer Verschnaufpause mit dem Taxi auf nach Banants. Der Fahrer war sichtlich amüsiert, zwei Deutsche zum Fußball zu fahren und musste davon gleich seinem Kollegen am Telefon erzählen. Am Stadion angekommen – wir waren spät dran – kurbelte ich das Fenster runter, um mich zu vergewissern, dass hier und heute auch Fußball gespielt wird. Nach dem gestrigen Flop war der Länderpunkt Armenien schließlich von diesem einen Spiel abhängig. Die Anzeichen waren jedoch denkbar schlecht: Kein Gewusel. Keine Geräuschkulisse. Keine Vorboten des Fußballs. Nix. Der Taxifahrer sah seinen Job mit der Ankunft aber noch nicht als erledigt an und fragte sich ohne unser Bitten durch, bis ein Spaziergänger weiterhelfen konnte. Das Stadion werde aktuell für die anstehende U19-EM für die UEFA-Standards fit gemacht. Deswegen findet das Spiel zwischen FC Banants und Alashkert FC nebenan im Trainingszentrum statt. Nachdem wir nochmal um den gesamten Komplex gefahren waren, sah es dann tatsächlich nach Fußball aus. Zwar nicht nach Erstligafußball, aber es wurde gekickt.

Wehmütiger Blick ins Stadion HrasdanDer aktuelle Spitzenreiter und amtierende Meister Armeniens war beim Tabellenzweiten zu Gast, der heute auf Platz 1 springen konnte. Die Konstellation war vielversprechend. Die Realität hingegen sah so aus, dass kein Eintritt verlangt wurde, damit die letzten 200 Zuschauer nicht auch noch zuhause bleiben. Ins Bild passte dann auch, dass das absolute Topspiel der höchsten Spielklasse auf dem ranzigsten Platz des gesamten Sportkomplexes ausgetragen wurde. Die Bilder sprechen für sich.  Rauchen und Sonnenblumenkerne fressen war komischerweise verboten. Die paar Sitzschalen, fünf Meter hinter dem überhohen, rostigen Zaun, der scheinbar gebraucht in Argentinien gekauft worden ist, waren nicht zu gebrauchen, weil eh alle am Maschendraht hingen. So konnte bei leichtem Nieselregen dann mit Leichtigkeit der Witterungsschutz aus Wellblech im Ranking der größten Komfortbringer auf den Platz an der Sonne springen. Die Plattenbauten aus Sowjetzeiten im Panorama waren das i-Tüpfelchen dieser idyllischen Kulisse. Wir liefen unterdessen im Angesicht vieler verdutzter Augen die gesamte Längsseite entlang, bis wir ein Plätzchen mit Blick aufs Geschehen fanden. Es dauerte nicht lang, bis wir mit unserem Nebenmann ins Gespräch kamen, der neugierig nach Herkunft und Intention unserer Anwesenheit fragte. Arman war Sportjournalist und Fachmann für armenischen Fußball. Also der perfekte Gesprächspartner, um sich 90 Minuten mit allerhand interessanten Informationen füttern zu lassen. Nach 45 Minuten war das Vertrauen zu uns scheinbar schon größer als zu seinen Landsleuten, so dass wir gebeten wurden auf seinen Laptop aufzupassen. Arman schloss sich dem Großteil der Zuschauer an, die kollektiv das Stadion verließen, um außerhalb eine zu piefen oder sich im Kiosk gegenüber mit Speis und Trank einzudecken.  Mit Beginn der zweiten Hälfte klinkte sich noch ein englischer Groundhopper in das Gespräch ein, der dieselbe Route wie wir auf dem Plan hatte. In umgekehrter Reihenfolge allerdings, um seiner Aussage zufolge nicht mit einem armenischen Stempel nach Aserbaidschan einreisen zu müssen und Problemen aus dem Weg zu gehen. Genau das Szenario stand uns am nächsten Tag noch bevor. Zunächst aber freuten wir uns darüber, dass in der zweiten Hälfte auch auf dem Feld endlich was passierte. Banants ging mit zwei Toren in Führung und ließ die 20 stimmungswilligen Fans mit Zaunfahne und Trommel ihre Schlachtrufe nun noch lauter vortragen. Völlig zurecht als frischer Spitzenreiter! Der altgediente Torwart von Banants, frenetisch bejubelter Volksheld, hatte großen Anteil, den Sieg über die Zeit zu bringen. Beim Gegner hob Arman die Nummer 7, Levon Hayrapetyan, hervor. 40-facher Nationalspieler, der in Hamburg aufwuchs und auch einen deutschen Pass besitzt. Das Angebot den Sportsfreund nach der Pressekonferenz zu interviewen lehnten wir dann aber aus Zeitgründen ab. Stattdessen tauschten wir Kontaktdaten mit Arman aus und verabschiedeten uns anschließend, um schnellstmöglich etwas zwischen die Kiemen zu bekommen.

Chor Virap mit großem und kleinem Ararat im HintergrundIn einem Schnellimbiss gab es für 5 Euro einen Kavarmateller, einen als Zatar betitelten Fladen mit Käse und Sucuk, sowie ein kühles Getränk. Die warme Mahlzeit, die uns im Hostel angeboten wurde, mussten wir daher ablehnen. Die Gastgeberfamilie nutze dennoch die Gunst der Stunde, die gesamte Belegschaft und alle Gäste für ein Familienfoto am gedeckten Tisch zusammenzutrommeln. Wenig später waren wir bereits wieder unterwegs, um den letzten Abend in Armenien ausklingen zu lassen. Zentrum des Geschehens in der Hauptstadt ist der Platz der Republik, auf dem bis 1991 noch eine sieben Meter große Leninstatue stand. Imposante Bauten, wie zwei große Regierungsgebäude und das Armenia Marriott Hotel, säumen den Platz, auf dem schon zahlreiche Demonstrationen stattfanden. Zuletzt erst am 17. April 2018 versammelten sich hier über 100.000 Menschen, um gegen die neugewählte Regierung zu protestieren. Sechs Tage und dutzende Verhaftungen später trat Premierminister Serzh Sargsyan, dem Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen wurde, zurück. Doch nicht nur der geschichtliche Hintergrund des Platzes zieht die Menschen an. Allem voran das Wasserspiel vor dem wuchtigen Museumsgebäude ist ein Publikumsmagnet. Ein bisschen wie vorm Bellagio in Las Vegas tanzen 2750 Wasserfontänen und Lichtprojektionen zur Musik. Die hervorragende Liedauswahl, von der Zauberflöte bis zur „James Bond“-Filmmusik, im Zusammenspiel mit den Wasser- und Lichteffekten, macht die abendliche Show wirklich zu einem fesselnden Spektakel. Erst als eine zwielichtige Gestalt uns anquatschte, wich der Blick erstmals von der Wasserorgel. Ob wir „Bum Bum“ machen wollen, fragte uns der Vertriebsmitarbeiter eines Vergnügungsetablissements, untermalt von der international anerkannten Geschlechtsverkehrsgeste. Das Angebot hatten wir gestern schon vor Ort ausgeschlagen.

Topspiel in Armeniens höchster SpielklasseLetzte Station, bevor es am nächsten Tag über Tiflis nach Baku gehen sollte, war der Beatles Pub. Ein kleiner Laden mit guter Atmosphäre. An einem Tisch saß ein alter Greis im feinsten Sonntagszwirn, der mutterseelenallein sein Bierchen trank und das rege Treiben beobachtet. Ansonsten war das Publikum in einem sehr lebhaften Alter. Wir hatten kaum unser Bier auf dem Tisch, da hatte der Besitzer des Ladens, Ruben, sich schon persönlich bei uns vorgestellt und uns neugierig interviewt. Als Vertreter der Fußballnation Deutschland wurden wir kurzerhand zum Ländervergleich am Kickertisch herausgefordert, wo wir mit 10:7 souverän bestehen konnten. Den Lohn brachte uns Ruben in Form von etwas Knabberzeug direkt zu unserem Tisch, an welchen wir ihm anboten Platz zu nehmen. Wie in der Pinte üblich, diskutierten wir über die Geschichte und Politik Armeniens. Bei der bereits erwähnten Revolution auf dem Platz der Republik im letzten Jahr hatte Ruben an vorderster Front mitgemischt. Als Beweis diente sein Facebook-Titelbild, auf dem seine Festnahme eindrucksvoll festgehalten ist. Nachdem wir uns von Ruben verabschiedet hatten und auf den Heimweg machen wollten, schlurfte der halbtote Opa mit einem Tempo weit unterhalb von Schrittgeschwindigkeit mit einem neuen Bier vom Tresen auf uns zu: „Guten Tag die Herren, ich hörte, Sie kommen aus Deutschland“, wurden wir in einwandfreiem Deutsch angesprochen. Da waren wir baff. Viel mehr, als dass Deutsch sprechen seine Leidenschaft sei, ließ sich aber im kurzen Smalltalk nicht mehr aus dem dubiosen Gast herauskriegen. Seine mit einem Lächeln vorgetragene Verabschiedung – „Deutschland über alles auf der Welt – und auch im Himmel“ – ließ dann aber Spielraum für Spekulationen. Da waren wir schon wieder baff und sogleich daran erinnert, dass in beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts deutsche Truppen in tausendfacher Truppenstärke im rund 4000 km entfernten Kaukasus unterwegs waren. Kaum zu glauben, wenn man in so wohlgesonnener Gesellschaft ist. Für uns waren der Abend, sowie das Kapitel Armenien damit abgeschlossen. Am nächsten Morgen sollte es mit der Marschrutka über die bekannte Route zurück nach Tiflis gehen.


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