Hopping Finnland - Estland - Lettland
Um mal wieder einen Blick über den hohen Tellerrand der Regionalliga West zu wagen, wurde nach akribischer Planung für einige Tage zu zweit in die (Fußball-)Welt Nordeuropas eingetaucht. Während anfangs noch geplant war, durch die drei baltischen Staaten zu reisen, verschob sich die Route aufgrund ungünstiger Spielterminierungen letztlich doch noch ein Stückchen weiter in den Norden – mit Start in der Hauptstadt Finnlands: Helsinki.
Tag 1: Helsingfors IFK - Hämeenlinnan Pallokerho (1. Liga, Eishockey, Finnland)
In Helsinki, nach kurzem Zwischenstopp in Stockholm, angekommen, sollte es zunächst mit dem Linienbus ins Zentrum der Stadt gehen, um von dort zum gebuchten Hostel zu kommen. Das Herz Helsinkis – die nördlichste Hauptstadt in der EU – schlägt auf einer Halbinsel im Südwesten. Bevor wir uns jedoch einen Eindruck davon machen konnten, zogen vorerst zwei Eishockey-Fans im Bus unsere Blicke auf sich. In knapp einer Stunde würde der örtliche Erstligist Helsingfors IFK aufs Eis bitten. Mit jeder Haltestelle stiegen nun mehr und mehr Jugendliche in einheitlich gefärbten und kuttenartig von Aufnähern übersäten Overalls in den Bus. Spätestens jetzt war unser Interesse geweckt, die Tour mit einer Partie des finnischen Nationalsports einzuläuten. Planänderungen, das Salz in der Suppe einer jeden Reise. Also, nichts wie raus aus dem Bus und dem farbigen Tross hinterher. An der ersten Ampel riskierten wir eine erste Kontaktaufnahme mit den Einheimischen. Eine rhetorische Eisbrecherfrage ist eigentlich nie verkehrt. Schlecht nur, wenn diese wider Erwarten verneint wird: „You’re going to the icehockey match, right?“ – Fehlanzeige! Die trinkwütigen Jungspunde waren auf Kneipentour und trugen zu diesem Anlass eine in Nordeuropa etablierte Einheitskleidung, den sog. Studentenoverall. Seine Farbe lässt auf die jeweilige Fachschaft schließen, die Aufnäher spiegeln die persönliche Karriere in der Partyszene wider. Genial!
Am traditionsreichen Eisstadion deckten wir uns mit Sitzplätzen für 17,50 € ein, um Zutritt zum ersten Heimspiel der Saison gewährt zu bekommen. Mit unseren prallgefüllten Rucksäcken auf dem Buckel – wir flogen natürlich low-budget-mäßig nur mit Handgepäck – erkundeten wir die Halle, die HIFK sich 30 Jahre lange mit dem städtischen Konkurrenten „Jokerit“ geteilt hatte. Seitdem dieser vor vier Jahren in die russische Kontinentalliga gewechselt war, hat Helsinki nur noch einen Verein in der höchsten Spielklasse Finnlands vertreten.
Bevor der Puck ins Spiel kam, prallten wir jedoch erstmals unliebsam mit dem finnischen Preisniveau aufeinander: 7,50 € kostete der halbe Liter des schlecht schmeckenden Bieres. Als wir uns einige Zeit später dank einer ausgeklüngelten Pfiffigkeit (Interview-Angebote wurden unsererseits großzügig abgelehnt) in den VIP-Räumlichkeiten wiederfanden, wähnten wir daher schon einen 6er im Lotto. Gleich nachdem wir uns mit einem leckeren Stück Erdbeerkuchen gestärkt hatten, schritten wir zum Tresen, um uns an den alkoholischen Genussmitteln zu laben. Dass in Finnland aber auch die VIPs für diese zu zahlen haben, holte uns schnell zurück auf den Boden der Tatsachen.
So ganz rausreißen konnte es das Match dann leider auch nicht. Trotz dessen, dass die Halle mit 6389 Zuschauern ganz gut gefüllt war, konnte die Atmosphäre nicht wirklich überzeugen. Nur ein kleiner Eckbereich bemühte sich um eine halbwegs passable Stimmung. Von einer Fanszene konnte rein optisch betrachtet jedoch nicht sprechen. Gästefans, die nur eine Stunde zu fahren gehabt hätten, waren keine zu vernehmen. Das Spiel hingegen hatte ein gutes Niveau und war sehr unterhaltsam. Helsinki ging schnell mit 4:0 in Führung. Die Gäste aus Hämeenlinna kamen zwar nochmal ran, mussten sich letzten Endes aber mit 6:2 gegen den 7-fachen Meister geschlagen geben. Etwas ungewöhnlich bei dem ganzen Spektakel war zudem, dass man nach Toilettengängen oder Kioskbesuchen immer bis zu einer Spielunterbrechung warten musste, bis die Ordnungskräfte einen auf die Tribüne gelassen haben.
Bevor wir uns auf den Weg zur Tram machten, genossen wir noch einmal den Blick durch die äußere Glasfassade, hinter der sich ein Eldorado für Fußballliebhaber auftat: Zwischen dem morgen zu besuchenden Fußballstadion und einer großen Traglufthalle, wurde auf einem Kunstrasenplatz ohne jeglichen Ausbau vor den Ball getreten. Im Hintergrund ragte das Olympiastadion – größtes Stadion Finnlands und Heimstätte der Nationalelf – heraus. Wenn auch bis 2019 noch für Renovierungsarbeiten in einem Gerüst verhüllt.
Tag 2: HJK Helsinki - RoPS Rovaniemi (1. Liga, Finnland)
Bevor am zweiten Tag der Tour der finnische Länderpunkt auch im Fußball besiegelt werden konnte, stand ein umfangreiches Sightseeing auf dem Programm. Zuerst zog es uns in die alte Markthalle von 1888, wo die erste Mahlzeit des Tages eingenommen werden sollte. Die Entscheidung fiel dabei auf ein traditionelles Gericht der finnischen Küche: Kalakukko. Ein mit Fisch und Speck gefüllter Brotlaib. Die 250g-Probierversion wechselte für sportliche 10 EUR den Besitzer. Die Fischfüllung schmeckte durchaus appetitlich, insgesamt war es jedoch deutlich zu viel des trockenen Roggenbrotes.
Die erste Sehenswürdigkeit auf unserem Plan konnte nach 20 Minuten mit der Fähre – der Preis war im Tagesticket für den ÖPNV enthalten – erreicht werden: Die Seefestung Suomenlinna. Wer gut zu Fuß ist, kann auf den verschiedenen Inseln einige Kilometer abspulen und immer wieder kleinere Highlights entdecken. Das U-Boot „Vesikko“ aus dem Zweiten Weltkrieg, Tunnelsysteme im Festungswall, Kanonen aus der Essener Kruppschmiede. Das ganz große Highlight gibt es allerdings nicht, wenn auch das Königstor, Wahrzeichen Suomenlinnas, als solches bezeichnet wird. Nichtsdestotrotz hinterlässt die Festung einen bleibenden Eindruck, wenn man vom Gemäuer einer Bastion auf das Meer blickt und sich vor Augen führt, welche Schlachten sich schon an diesem Ort zugetragen haben müssen. Nach einem Besuch im Kriegsmuseum ging es wieder aufs Festland, wo besinnlichere Gefilden auf uns warteten.
Zunächst aber wollten unsere Mägen wieder mit fester und flüssiger Nahrung gefüllt werden. Dazu bietet sich ein absoluter Geheimtipp an, die Factory Aleksi. Ein kantinenartig aufgebautes, aber dennoch gemütliches Ladenlokal, das im fünften Stock eines Altbaus versteckt ist. Für rund 10 EUR lässt sich an einem schmackhaften Buffet die Grundlage für den weiteren Tag schaffen. Eine kleine Auswahl an Getränken ist inklusive. Und das mitten in Helsinki.
Auf dem Weg zum Stadion machten wir noch einen Zwischenstopp an der Felsenkirche, die 1969 in einen Granitfelsen gebaut worden war. Zu unserem Glück war der Eintritt heute nicht nur frei, sondern obendrein noch ein gerade stattfindendes Klavierkonzert inklusive, dem wir einige Zeit lauschten. Man muss ganz sicher kein Liebhaber klassischer Musik sein, um diese Klänge an diesem Ort genießen zu können. Meinem mitreisenden Kollegen Oliver versetzten die Töne wohl derart in Trance, dass dieser sogleich unseren einzigen Regenschirm liegen ließ.
Endlich sollt es nun aber um das runde Leder gehen. Die Erwartungen waren zwar verhalten – man wusste schließlich, wie es um den finnischen Fußball bestellt war – die Konstellation des abendlichen Spiels machte aber dennoch etwas Hoffnung. Mit Bei einem Heimsieg würde Helsinki den Abstand bei vier verbleibenden Spielen auf zwölf Zähler erhöhen. Während das Hafenstübchen in Essen bei einer derartigen Konstellation wohl die oberen Etagen zur Biereinlagerung mieten müsste, herrschte in Helsinki zwei Stunden vor Anpfiff noch gähnende Leere. Auch in den umliegenden Pubs. Erst als häppchenweise Fans zum Stadion strömten und ein lauter Knall uns aufschrecken ließ, keimte kurz die Hoffnung nach einem furiosen Fußballspiel auf. Der geplatzte Fahrradreifen sollte aber heute die beeindruckendste Geräuschkulisse bleiben. Das Stadion blieb relativ leer, so dass selbst die offiziell verkündete Zahl von 4021 Zuschauern von uns angezweifelt wurde. Darunter jedenfalls knapp 150 Fans im Gästeblock, von denen ein Drittel bedingungslosen Support ablieferte. Ob von diesen jemand die 10-Stunden-Fahrt für eine einfache Strecke oder einen Inlandsflug auf sich genommen hat, darf in diesem nicht gerade fußballverrückten Land bezweifelt werden. Wahrscheinlicher schien es, dass es sich bei den Gästefans um zugezogene Hauptstädter handelt, die der Arbeitsmarkt in den Süden des Landes getrieben hat. Auf der Heimseite beteiligten sich kaum mehr als 100 Leute an der aktiven Unterstützung des kommenden Meisters. Eine optische Untermalung dieses Topspiels, den kontinuierlichen Schwenkfahneneinsatz ausgenommen, gab es leider nicht.
HJK gewann souverän mit 3:0, wobei insbesondere das erste Tor mehr als ansehnlich war. Innerhalb von fünf Sekunden und in Personalunion: Balleroberung, Zidane-Trick, Gewaltschuss in den Knick. Dennoch, HJK Helsinki hatte in den nächsten beiden Spielen sicherlich mehr Schlagzeilen gemacht, nachdem erst die Meisterschaft endgültig eingetütet wurde und man sich dann im „Metroderby“ mit den Fans vom FC Honka eine handfeste Hauerei auf dem Rasen lieferte.
Das Stadion hingegen machte im Flutlicht eine ganz passable Figur. Insbesondere die Haupttribüne mit seinen zwei Rängen und dem geschwungenen Dach wusste zu gefallen. Wie schon erwähnt steht das Stadion aber dennoch, sinnbildlich für den Fußball in Finnland, im Schatten der Eishockey-Arena.
Tag 3:
Für unseren letzten Tag in Finnland stand ein Ausflug ins nördlich von Helsinki gelegene Espoo an. Zuvor wurde der Vormittag genutzt, um einen Blick in den Dom von Helsinki und die Uspenski-Kathedrale zu werfen. Nicht nur um den Faible für Sakralbauten von meinem geschätzten Kollegen Oliver zu bedienen. Nein, gerade um den Dom, der bei jedem Reiseführer für Helsinki auf dem Cover zu finden ist, führt kein Weg vorbei. Sicherlich auch, weil der Bau mit seiner erhöhten Lage förmlich über der Stadt thront, gilt der Dom als Wahrzeichen. Von innen allerdings gab es selten ein Gotteshaus, das weniger Eindruck hinterlassen hatte. Das hätte jeder Stuckateur im Ruhrgebiet nach Feierabend hinbekommen. Anders sieht es da in der Uspenski-Kathedrale aus, die eine russische Prägung hat und deutlich prunkvoller gestaltet ist. Wer gerne Fotos schießt, sollte beide Kirchen auf jeden Fall nochmal knipsen, wenn die Beleuchtung ihre Wirkung am besten entfalten kann. Bei Dämmerung.
Nach dem klassischen Touristenprogramm zog es uns also anschließend keine 20 km mit dem Zug Richtung Nordwesten nach Espoo, die mit rund 275.000 Einwohnern zweigrößte Stadt Finnlands. Bemerkenswert, dass die Einwohnerzahl 1950 gerade mal bei 22.000 lag. Das rasante Bevölkerungswachstum lässt sich dabei sicherlich auf die gute Anbindung an die Hauptstadt zurückführen, von der auch wir Gebrauch machten. Verwirrung herrschte nur, bis wir in Erfahrung bringen konnten, dass die Namen der Haltestellen in Finnisch und Schwedisch angeschlagen werden und diese Namen völlig unterschiedlich klingen können. In Espoo angekommen, ließen wir uns ein letztes Mal mit dem uns ungewohnten Preisniveau konfrontieren und nippten noch ein Stündchen genügsam an dem flüssigen Gold, durch das uns Schutz vor Regen und Kälte im gemütlichen Pub gewährt wurde. Während die Gastwirte in der Hauptstadt sich längst an die Zahlungsgewohnheiten der Touristen gewöhnt hatten, war der Mann am Zapfhahn hier etwas überrascht, als ich mit meinem Bargeld winkte. Der gemeine Skandinavier – wobei der Finne sich nie als solcher bezeichnen würde, da Finnland genau genommen nicht auf der skandinavischen Halbinsel, sondern auf Fennoskandinavien liegt – zahlt nämlich nahezu alles mit Karte, auch Kleinstbeträge. Die Fahrkartenautomaten haben teilweise gar keine Münzschlitze. 1- und 2-Cent-Münzen sind ohnehin nicht im Umlauf und wurden seinerzeit – zur Freude aller Sammler –nur in einer kleinen Auflage geprägt, um den Auflagen der EZB nachzukommen. An den Kassen wird gerundet.
An der Kasse des Leppävaaran-Stadions wurde der 5-Euro-Schein mit Vergnügen entgegengenommen. Wir hingegen freuten uns bei dem überaus wechselhaften Wetter über den kostenfreien Kaffee, der den 100 Zuschauern zur Verfügung gestellt wurde. Der freundliche Kassierer war sichtlich begeistert von unserem Besuch. Um ein paar Fotos zu schießen, wurde ich durch das Innenleben der Tribüne bis auf die Tartanbahn geführt und auf meine Frage nach der Zuschauerzahl stiefelte der gute Mann höchstpersönlich auf die Tribüne, um durchzuzählen.
Neben der Gastfreundschaft begeisterte uns allem voran der Name der auswärtigen Mannschaft: Der FC Kiffen, finnischer Meister von 1955, war zu Gast und lud zu allerhand Wortspielen ein. Die 15 mitgereisten Kiffer sahen jedenfalls ein berauschendes Spiel und konnten sich mit einem 4:1-Auswärtssieg von den Abstiegsrängen der dritten Liga absetzen. Das schönste Tor des Tages tat sich gegen Ende des Spiels am Himmel auf, war bunt und konnte nicht nur von den Gästen gesehen werden. Ein leuchtender Regenbogen entschuldigte für die Regenschauer. Nur die beiden aktiven Fans des FC Espoo, die sich hinter einer Zaunfahne „versammelten“ und den ein oder anderen Schlachtruf ins Rund brüllten, sahen selbst unter diesem Anblick trostlos aus.
Nach dem Spiel sollte es für uns auf – fast – direktem Wege zum Hafen gehen, um die gebuchte Fähre nicht zu verpassen. Schnell noch mit ein dem ein oder anderen bezahlbaren Dosenbier eingedeckt, konnten wir es uns auf dem Schlachtschiff gemütlich machen, die vierte Schalker Niederlage in Serie verfolgen und unsere Schmuggelware vernichten. Grund für unser Wanken war zu diesem Zeitpunkt aber tatsächlich noch der rüde Seegang. Noch. Kaum war Tallinn, die Hauptstadt Estlands, erreicht und im Hostel eingecheckt, fanden wir uns schon mit zwei Einheimischen und drei finnischen Sauftouristen in einer Bar wieder. Scharenweise reist letztere Spezies Woche für Woche über den Finnischen Meerbusen nach Tallinn, um es sich dort den einen oder anderen Tag richtig gut gehen zu lassen. Teilweise mit zwei leeren Koffern auf der Hinreise und prall gefülltem, klimpernden Gepäck auf der Rückreise. Stehen Hochzeiten oder runde Geburtstage an, geht es auch schon mal mit dem Auto auf die Fähre, um die gesamte Feiergesellschaft günstig mit Alkohol versorgen zu können. Die plötzliche Deflation – das Pint hatte wenige Stunden zuvor immerhin noch mehr als doppelt so viel gekostet – ließ auch uns durstiger werden und damit schnell Anschluss finden. Die beiden Einheimischen gehörten wie 30 % der Einwohner Tallinns zur russischsprachigen, zu Sowjetzeiten ins Baltikum gesiedelten Minderheit. Noch heute sorgt eine verschlafene Integrationspolitik für eine systematische Diskriminierung der sog. „Nichtbürger“. Uns hingegen integrierte man vorbildlich, so dass wir wohlwollend von den bestellten Snacks unserer Zeitgenossen kosten durften. Schweineohren und Kartoffelschalen, frittiert und mundgerecht zerschnibbelt. Schmeckte so gut, dass das Menü gleich nochmal geordert wurde. Im Rausche des Preisverfalls inklusive einer Runde Hopfenkaltschale für den gesamten Tisch. Die frittierten Schweineohren solle man sich allerdings nicht in Weißrussland bestellen, wo die Lauscher gleich am Stück serviert werden, wurden wir freundlicherweise gewarnt.
Ein letztes kleines Kuriosum ereignete sich noch auf dem Heimweg, als wir einen Passanten nach dem Weg fragten und das Smartphone mit einer Karte unter die Nase hielten. Dieser kniff kurz seine Augen zusammen und wühlte daraufhin einige Zeit in der Handtasche seiner Frau. Anstatt der erwarteten Lesebrille kramte der Helfer in der Not allerdings eine handflächengroße Lupe hervor, wie sie wohl seinerzeit schon Sherlock Holmes benutzt hatte. Am Hostel angekommen, verwechselten wir unangenehmerweise die Tür und landeten noch im benachbarten Club „Virgin“, den vermutlich noch nie jemand als solcher wieder verlassen hat. Wir bevorzugten noch im Türrahmen den Rückwärtsgang, ehe die tätowierten Jungs der baltischen Seeflotte noch auf uns aufmerksam werden sollten.
Tag 4 : Tallinn – eine Reise durch das Ligasystem Estlands
Der Tag in Tallinn, für den zwei Spiele eingeplant waren, begann selbstverständlich mit einer Besichtigungstour. Erster Anlaufpunkt war der „Kiek in de Kök“, ein massiver Turm aus dem 15. Jahrhundert. Seinerzeit war der in die Stadtmauer eingelassene Turm mit 38 Metern Höhe der größte seiner Art in Nordeuropa. Da man von diesem sprichwörtlich in die Küchen der Bürger gucken konnte, erhielt er seinen ulkigen plattdeutschen Namen. Heute beherbergt der „Kiek in de Kök“ ein Museum, das uns einen umfassenden Einblick in die Geschichte der Altstadt gewährte. Von den westlich gelegenen Erhöhungen gab es einen prächtigen Ausblick auf die urige Altstadt und das Meer im Hintergrund. Ein Blick über die Stadtmauer hinaus verrät, dass Tallinn eine sehr moderne Stadt ist. Umso schöner ist der Kontrast zur mittelalterlichen Altstadt. Obwohl das Estnisch mit dem Finnischen verwandt ist, während die anderen baltischen Sprachen stark osteuropäisch klingen, lässt sich hier und da die russische Prägung erkennen. Insbesondere die sehr schicke Alexander-Newski-Kathedrale erinnerte mit ihren Zwiebeltürmen an den Moskauer Kreml.
Der offizielle Länderpunkt konnte allerdings weder im Museum, noch mit einem Stoßgebet im Gotteshaus eingefahren werden. So ging es per pedes zum Erstligaspiel zwischen JK Tallinna Kalev und Nõmme Kalju FC, das leider nur im Schatten des großen Kalevi Keskstaadion stattfand. Das weite Rund befindet sich seit einiger Zeit im Umbau, um es für diverse Tanzveranstaltungen (und hoffentlich auch Fußballspiele) fit zu machen. Das gemalte Banner am Zaun sah erst wie ein Protest aus, war dann aber wohl doch ein offizielles Hinweisschild auf das Betretungsverbot. Made in Estonia. Der Kunstrasen mit der ein oder anderen kleinen, abenteuerlichen Tribüne nebenan wurde aber auch mit den Massen fertig und konnte die 206 Zuschauer problemlos unterbringen. Rund ein Viertel davon drückte dem Gast und künftigen Landesmeister mit pinken Vereinsfarben die Daumen, ein Teil davon sogar mit Bemühung um aktiven Support. Erstligareif und meisterlich war hier allerdings nur das Equipment der TV-Übertragung und der Service für die Stadionbesucher, die sich kostenlos Regenschirme und Sitzunterlagen ausleihen konnten. Wie praktisch, wo die Sitzschalen doch gerade regengetränkt waren und Oliver schon seinen zweiten Regenschirm verloren hat. Die kulinarische Köstlichkeit des Hauses, frittierte Schweinehaut, war schmackhaft, kam aber mit 5 €, dem Preis einer Eintrittskarte, etwas überteuert daher. Das Spiel hingegen war eher dröge und wurde humorlos vom Spitzenreiter mit 2:0 gewonnen. Die Bekanntschaft mit einem Würzburger Allesfahrer und Weltenbummler kam daher ganz gelegen.
Zu dritt ging es sodann auch nach Abpfiff mit dem Taxi zum eigentlichen Highlight des Tages: Einem Viertligaspiel im modernsten Airdome des Landes, dem Sõle Gümnaasiumi Staadion. Allein der Anblick der aufgeplusterten Traglufthallen weckte den kindlichen Drang im Manne, aufs Dach zu klettern und dort wild herumzuhüpfen. Es müssen die Erinnerungen an die Hüpfburgen im Ketteler Hof gewesen sein, die uns da überkamen. Skurril wirkte die in eine Fassade des Nachbargebäudes eingefasste Tribüne, von deren Plätzen man sich nun wunderbar das Riesenluftkissen angucken konnte, aber nicht mehr das Fußballspiel, welches vor wenigen Jahren noch an diesem Ort unter freiem Himmel stattgefunden hat. Innen spielte Pohja-Tallinna JK Volta gegen FC Ararat. Beinahe sehnsüchtig wurde unsere angewachsene Reisegruppe von Raimo Nõu, dem Gründer und Präsidenten des Heimvereins, in Empfang genommen. Über Facebook wurden vorab schon ein paar Fragen an den Verein gerichtet, um sich zu Spielort und -zeit abzusichern. Raimo konnte seine deutschen Gäste zwar nicht einladen, weil weder Eintritt genommen, noch ein irgendwie geartetes Catering angeboten wurde, dafür aber gab es reichlich Input, verpackt in einem 45-minütigen Monolog mit gelegentlichen Zwischenfragen:
Raimo hatte 2002 schon die Fußballabteilung von Kalev neugegründet, nachdem der Betrieb 1963 eingestellt wurde. Zuvor war Kalev der einzige estnische Verein, der es in die höchste Spielklasse der Sowjetunion geschafft hatte. Die estnischen Meistertitel 1923 und 1930 seien allerdings wohl gekauft gewesen. Das entscheidende Spiel 1930, bei dem für den Meistertitel mit 8 Toren Unterschied gewonnen werden musste, konnte Kalev ganz unauffällig mit 11:0 für sich entscheiden. 2016 wurde dann der Pohja-Tallinna JK Volta gegründet. Trainer ist Tarmo Rüütel, ehemaliger Cheftrainer der estnischen Fußballmannschaft. Ob dieser auch die Länderspieltickets für die Zuschauer besorgt, die kein Spiel verpassen und sich regelmäßig einen Stempel bei Raimo abholen, konnte nicht geklärt werden. Viele dürften es so oder so nicht sein, bei 85 Zuschauern.
In der Halbzeit verschwand Raimo – der mit 38 Jahren bereits ein beeindruckendes, uns aber auch rätselhaftes Lebenswerk vorzuweisen hatte – dann mit der Begründung, dass er noch selber spielen müsse. Kurioserweise nicht für, sondern gegen die dritte Mannschaft des von ihm gegründeten Clubs. Wir machten es uns noch 45 weitere Minuten auf den kleinen Holztribünen am Rand gemütlich und schauten uns an, wie der Gast das Spiel in der zweiten Halbzeit mit 1:0 nach Hause schaukelte. Am Spielfeldrand waren einige Fahnen aufgestellt, die zwischendurch mal von den tobenden Kindern geschwenkt wurden. Während uns das Mitleid schon in Espoo packte, wo zwei unentwegte Fans ihren Verein vorantrieben, wurde das triste Schauspiel in diesem exotischen Ambiente noch von einem komplett schmerzfreien Typen unterboten. Ganz alleine, zwischenzeitlich mit der Tochter auf den Schultern, schrie der Lokalmatador 90 Minuten voller Inbrunst sein Kohlendioxid in die Halle.
Die Frage, sich noch eine Halbzeit im Wismari Staadion von den fußballerischen Künsten in Estlands sechster und damit letzter Liga zu überzeugen, stellte sich nicht lange. Schnell war via taxify ein Fahrer geordert, um kurze Zeit später behaupten zu können, dass 60 % der Zuschauer dieses Leckerbissens aus Deutschland kamen. Insgesamt fünf Zuschauer hatten sich eingefunden, so stand es ganz offiziell im Spielbericht. In 807 besuchten Fußballspielen meine Bestmarke in der Rubrik „Niedrigste Zuschauerzahlen“. Auf dem Dach filmte jemand das Spiel, eine hübsche Spielerfrau knipste die besten Szenen und auf dem grünen Geläuf vor der als Kabine fungierenden Baracke stolperte sich Raimo mit seinen Mannen in der ersten Hälfte ein 1:1 zusammen. Bemerkenswert, das auf diesem Niveau sogar zwei Linienrichter gestellt wurden. Vielleicht aber auch ein Privileg von Tallinns Fußballmacher Raimo. Genauso wie sein Stammplatz. Anders als das Mittelfeld, zeigte unser Dreiergespann sich während des Spiels äußerst kreativ und stellte die verrücktesten Theorien zu unserem neuen Freund auf. Im Nachhinein spuckte Google tatsächlich einige Treffer zu seinen Errungenschaften, ebenso aber auch die ein oder andere Korruptionsgeschichte aus. Um in die brisante Schlussphase der Fußballschlacht zu springen: Genauso wie wir seine zahlreichen Missgeschicke auf unsere sechs kritischen Augen schoben, genauso sahen wir ihn in der 90. Minute von uns angespornt, als Raimo, selbstverständlich mit der Nummer 10 auf dem Rücken, einen Zuckerpass in die Schnittstelle spielte und Erki Hallang sah, der nur noch einschieben musste. Das Spiel war gedreht, obwohl man nach einem Platzverweis für Gerd Herman Veeber noch einige Minuten in Unterzahl spielte. Tallinn stand Kopf, naja, zumindest wir drei waren entzückt.
Den Abend ließen wir in der Altstadt ausklingen. Im Hell Hunt, dem ältesten Pub der Stadt, wo die Deko an der Decke aus Türen bestand, die womöglich allesamt seit 1993 eingetreten wurden oder aus der Zarge geschimmelt sind. Der Schuppen hatte Flair, eine umfangreiche Bierkarte, ein eigens für die Pinte gebrautes Bier und verdammt leckere Rippchen. Nichtsdestotrotz zogen wir nach den ersten Pints noch weiter ins „Mad Murphy‘s“, wo sich die Reihen an diesem Montagabend langsam leerten. Die lokale Liveband ließ es sich dennoch nicht nehmen, unsere illustre Runde noch bis Ultimo einzuheizen. Diese war mittlerweile um einen estnischen Rocker und zwei temperamentvolle Spanier erweitert worden. Selbstverständlich nicht, ohne jenen unseren glorreichen RWE anzupreisen und eine Einladung an die Hafenstraße auszusprechen. Als dies vor vier Jahren in einem englischen Pub geschah, ahnten wir nicht, dass unsere Bekanntschaften von Derby County fortan regelmäßig Gäste in Essen sein würden.
Tag 5: FK Riga FS – FK Metta/LU (1. Liga, Lettland)
Am frühen Morgen unseres letzten vollwertigen Tages ging es mit einem frühzeitig gebuchten Bus von Tallinn in die größte Stadt des Baltikums, die lettische Hauptstadt Riga. Dank eines erstklassigen Entertainment-System im Vordersitz und enormer Platzfreiheit, vergingen die knapp fünf Stunden Fahrt, vorbei an endlosen Wäldern, wie im Flug. Wie dieser Transfer bei ungefähr zehn Businsassen und einem Preis von fünf Euro rentabel sein konnte, blieb uns ein Rätsel. Womöglich waren neben den müden Passagieren noch reichlich wachmachende Stoffe oder irgendwelche Hehlerwaren im Bus versteckt.
Als die Landschaft wieder urbane Züge bekam und sich die Peripherie der Hauptstadt auftat, wurde deutlich, dass man sich im Ostblock befindet. Neben den Betonbunkern in den Randbezirken, zog in Zentrumnähe ein gruselig-schönes Hochhaus unsere Blicke auf sich. Die Akademie der Wissenschaft - Frankenstein muss hier geschaffen worden sein - war ein Geschenk der UdSSR aus dem Jahr 1961 und gilt als das erste Hochhaus Lettlands. Anders als in Tallinn, wurde die sowjetische Prägung hier sogleich sichtbar. Das Zentrum vom Riga, die mit einem liebevollen Park und fließendem Gewässer umsäumte Altstadt, wusste allerdings zu gefallen. Wie wohl für alle baltischen Staaten, war auch in Lettland die Unabhängigkeit eines der höchsten Güter. Dass sich diese 2018 zum 100. Mal jähren würde, war in vielerlei Hinsicht bemerkbar. So ließ es sich am selben Tag auch der Papst nicht nehmen, am Freiheitsdenkmal einen Blumenkranz hinabzulegen, bevor er zu seinen Anhängern sprach. Wir hatten zwar mit dem katholischen Oberhaupt, das nun weiter nach Tallinn fuhr, förmlich abgeklatscht, von seinem Besuch jedoch waren lediglich noch die logistischen Aufwände - Straßensperren und Leinwände, die in Dauerschleife liefen - mitzukriegen.
Nach einem Test der lettischen Küche, die mit guten Preisen und einer frittierten Blutwurst überzeugen konnte, stand ein Besuch beim bekannten Pulverturm an, in dem im 17. Jahrhundert Schießpulver gelagert wurde. Im Anbau befand sich das nationale Kriegsmuseum, das kostenfrei zu betreten ist, uns einen umfassenden Einblick in die Geschichte Lettlands bot und dabei unweigerlich immer wieder mit der deutschen Historie konfrontierte. Besonders in Erinnerung geblieben ist der Fakt, dass Lettland im Ersten Weltkrieg prozentual die größten Verluste zu beklagen hatte. 35 % der Bevölkerung Lettlands fiel dem kriegerischen Treiben zum Opfer. Unvorstellbar.
Die vielen Exponate und allem voran eine über die gesamte Wand dargestellte Animation über den Kriegsausbruch und die verschiedenen Konfliktherde in Europa, die mit einer Geräuschkulisse aus jener Zeit untermalt war, hinterließen einen besonderen Eindruck. Absolut empfehlenswert, vor allem bei dem unschlagbaren Preis-Leistungs-Verhältnis.
Die Zeit bis zur letzten Partie Fußball dieser Tour, konnte problemlos in der Altstadt verbracht werden. Die vielen Kirchtürme und bunten Häuser luden zum Verweilen ein. Das interessanteste Fleckchen war der Rathausplatz, wo die im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Petrikirche und das prunkvolle Schwarzhäupterhaus ein traumhaftes Fotomotiv hergaben. Leider konnten die beiden Bauten zu diesem Zeitpunkt nicht von innen begutachtet werden. Das Schwarzhäupterhaus, anfangs Treffpunkt für heimische Gilden und Händler mit überwiegend deutscher Abstammung, wurde im Jahr 1334 erbaut und erzählt eine bewegende Geschichte. Erst deutsche Truppen brachten es dann nach über 600 Jahren dazu fertig, dieses Schmuckstück vollständig zu zerstören. Getreu einer früheren Inschrift („Sollt‘ ich einmal fallen nieder, so erbauet mich doch wieder.“) wurde das Gebäude im Rahmen der 800-Jahr-Feier der Stadt Ende der 90er Jahre originalgetreu rekonstruiert und trägt heute noch deutsche Inschriften auf der Fassade.
Über den breiten Strom der Daugava (dt. Düna), vorbei an einem riesigen russischen Militärdenkmal, ging es anschließend zu dem Stadion, das meinen 20. Länderpunkt besiegeln sollte. Das Stadion wurde auf der einen Seite von einer Zugstrecke und auf der anderen Seite von einem kleinen Bach umschlossen, so dass das Drumherum ein nettes Bild abgab. Fußballerisch stand nicht nur ein Stadtderby an, es war darüber hinaus ein Duell zweier Fußballschulen. Heimmannschaft im Stadion Arkādija war der FK Rīgas Futbola Skola, zu Gast die Fubtola Skola Metta/LU, einem Zusammenschluss der Fußballschule Metta und der Universität Lettland. Insgesamt 500 Zuschauer interessierten sich für diese Begegnung. Auf einer Stahlrohrtribüne hinterm Tor versammelten sich rund 50 RFS-Fans in Blau, von denen ungefähr die Hälfte um atmosphärische Einlagen mittels zweier Trommeln und einer Drum bemüht war. Wirklich geschlossen zusammen stand der Haufen aber nur kurzzeitig für den Instagram-Account des Vereins. Kaum war der Fotograf verschwunden, verstreute sich der Stimmungsblock wieder. Für die Gäste dürften knapp 100 Zuschauer die Daumen gedrückt haben, von denen zehn Leute hinter einer „Metta Ultras“-Fahne standen und versuchten, das fußballerische Niemandsland nicht völlig verstummen zu lassen. Dem Team, das 3:0 baden ging, brachte die Unterstützung wenig ein. Ganz weit vorne war dafür des kulinarische Angebot des Hauses: Sonderbar belegte Hotdogs und wirklich sehr leckere und in akribischer Handarbeit belegte Burger machten weitere Essenspläne an diesem Abend überfällig.
So war der letzte Akt an diesem Tage nur noch ein Besuch der Skyline-Bar auf der 26. Etage des Hotels Radisson Blu Latvja, wo es schon aus dem gläsernen Aufzug einen phänomenalen Blick auf die beleuchtete Stadt gab. Bei den letzten Kaltgetränken wurde die Reise nochmal Revue passieren lassen, bevor es am nächsten Morgen ganz unproblematisch mit dem Linienbus zum Flughafen und erstmals in einer Propeller-Maschine zurück nach Hause ging. Nach Essen, in die schönste Stadt der Welt!
Fotos von der Tour gibt es hier