Interview mit Jürgen Gelsdorf
Welcher RWE-Fan erinnert sich nicht gerne zurück an den 22. Mai 2004? An diesem Samstag schaffte unsere Elf durch ein 7:0 gegen Schalke 04 die Rückkehr in die 2. Bundesliga. Der Aufstiegstrainer hiess damals: Jürgen Gelsdorf. Jawattdenn traf sich mit dem heutigen Jugendkoordinator von Bayer Leverkusen und sprach mit ihm über den Aufstieg und die Zeit danach...
Jawattdenn.de:
Hallo, Herr Gelsdorf. Sie sind kurz nach ihrem Weggang
von Essen in Leverkusen zum Jugendkoordinator ernannt
worden. Ist das eine Aufgabe, die Sie erfüllt?
Jürgen Gelsdorf:
Die Tätigkeit ist natürlich mit der eines
Trainers nicht zu vergleichen. Bei Bayer spielt die
Nachwuchsausbildung eine große Rolle, wir haben
fünf hauptamtliche Trainer in unserem Leistungszentrum.
Ich wollte eigentlich nach Absprache mit Rudi Völler
nur noch Scouting im Nachwuchsbereich machen. Es reizte
mich dann aber, zu den Wurzeln zurückzukehren.
1986 begann ich als Jugendtrainer. Damals trainierten
die Jungs noch auf Aschenplätzen. Jetzt sichte
ich Talente für die Lizenzmannschaft von Bayer
Leverkusen.
Jawattdenn.de:
Worin liegen denn ihre Hauptaufgaben?
Jürgen Gelsdorf:
Der Jugendkoordinator ist für die Ausbildung
der Talente verantwortlich. Ein aktueller Spieler
ist Gonzalo Castro. Obwohl er noch A-Jugendlicher
ist, spielte er nun schon etliche Male in der Bundesliga.
Weitere Beispiele sind Callsen-Bracker oder René
Adler. Wir wollen dies aber noch weiter intensivieren
und die Förderung weiter ausbauen. Wenn unsere
Spieler dann letzten Endes „nur“ in der
zweiten Liga oder in der Regionalliga spielen, ist
es auch okay. Ich beobachte als Koordinator sehr viele
Spiele, besuche europaweit die Leistungszentren der
anderen Vereine, fahre demnächst in das Zentrum
von Manchester United und versuche, auf dem neuesten
Stand zu bleiben.
Jawattdenn.de:
Bayer Leverkusen II spielt in der Regionalliga Nord.
Sind Sie dadurch noch voll am Geschehen dran?
Jürgen Gelsdorf:
Eigentlich habe ich mit dem Regionalligateam eher
weniger zu tun und bin sehr viel auf Reisen. Wenn
ich Zeit habe, schaue ich mir aber unsere Talente
dort an. In dieser Saison beispielsweise das Spiel
unserer Nachwuchstruppe gegen RWE.
Jawattdenn.de:
Vergleichen Sie doch mal die Jugendarbeit der beiden
Vereine …
Jürgen Gelsdorf:
Bayers
Jugendarbeit läuft auf höchst professionellem
Niveau ab. RWE hat sicherlich nicht diese Möglichkeiten,
was die Ausbildung der Spieler anbelangt. Man muss
lobend erwähnen, dass Rot-Weiss in der A- Juniorenbundesliga
spielt. Das ist klasse, zumal man in Essen eben mit
ganz anderen Möglichkeiten arbeitet. Bei Bayer
werden die Talente durch das Leben begleitet, zum
Training abgeholt, leben in Gastfamilien. Ihnen wird
eine gewisse Last abgenommen. Jetzt, wo Sven Demandt
die A-Jugendlichen bei RWE übernommen hat, dürfte
das auch wieder eine kleine Qualitätssteigerung
darstellen. Ich denke, er hat aus seiner Zeit als
Profi einiges mitgenommen, was er den Jungs vermitteln
kann. Schließlich war er mal einer meiner Spieler
(lacht).
Jawattdenn.de:
Wenn Sie sagen, die Jungs bei Bayer werden durch das
Leben begleitet, ist das dann nicht schon fast verhätscheln?
Das war doch damals zu Ihrer Zeit sicherlich anders
...
Jürgen Gelsdorf:
Als ich jung war, war für mich der Trainer fast
ein Heiligtum, unabhängig davon, was er für
einen Blödsinn geredet hat. 1986, als ich bei
Bayer als Jugendtrainer anfing, war die Situation
schon anders. Ich war damals ein strenger Trainer.
Teilweise attestierte man mir, ich sei zu streng.
Jetzt, wiederum 20 Jahre später, ist wieder alles
anders. Es hat sich aber in den Jahren auch der Arbeitsmarkt
verändert. Wenn früher einer bei Bayer den
Durchbruch nicht geschafft hat, dann hatte er wenigstens
die Option auf einen gesicherten Job im Werk. Ich
glaube, dass die Jungs heute einen viel höheren
Druck haben als damals. Früher waren zwei, drei
dabei, deren Elternteile arbeitslos waren. Heute reden
wir über ganz andere Quoten. Die Jungs sind so
etwas wie eine Existenzhoffnung der Eltern.
Jawattdenn.de:
Sie sagen, Sie seien ein strenger Trainer gewesen.
Wie erklären Sie sich den Wandel zum netten „Onkel
Jürgen“?
Jürgen Gelsdorf:
(lacht) Ich weiß gar nicht, wo der Name herkommt.
Natürlich habe ich Veränderungen durchlebt,
genau wie jeder andere Trainer auch. Es wäre
ja auch traurig, wenn nicht. Man muss im Laufe der
Jahre lernen. Wer sich in 20 Jahren im Trainergeschäft
nicht entwickelt, der tut mir Leid. Ich habe im Laufe
der Jahre gelernt, eine gewisse Ruhe zu erlangen,
um bestimmte Dinge besonnener durchzusetzen.
Jawattdenn.de:
Wenn man Sie an der Linie sieht, wirkt das teilweise
alles andere als ruhig ...
Jürgen Gelsdorf:
(lacht) Ob ich zu emotional bin oder nicht? Wenn ich
bei Siegen an der Seitenlinie sitzen und bewegungslos
dem Spiel folgen würde, würden die Leute
sagen, ich sei souverän. Verliert man aber, dann
heißt es, der schläft an der Seitenlinie
ein. Jeder sollte seine eigene Linie finden. Der eine
findet den Zampano gut, der andere den Ruhigen.
Jawattdenn.de:
Sie blicken auf eine über dreißigjährige
Karriere als Trainer und Spieler zurück. Kehren
Sie irgendwann noch einmal auf die Trainerbank zurück,
oder haben Sie unter dieses Kapitel einen Schlussstrich
gezogen?
Jürgen Gelsdorf:
Wir
haben jetzt 2006. Heute sitze ich hier und spreche
über meine Arbeit als Nachwuchschef von Bayer.
Vor etwas mehr als einem Jahr wäre diese Unbekümmertheit
undenkbar gewesen. Da habe ich von morgens bis abends
nur daran gedacht, wie man den Abstieg noch abwenden
kann. Eigentlich wollte ich schon nach meiner Arbeit
in Osnabrück kürzer treten. Doch dann kam
die Zeit bei RWE, die mir sehr viel Spaß gemacht
hat. Wichtig ist, dass man die Dinge, die man macht,
mit voller Überzeugung erledigt. Ich denke aber
nicht daran, was ich in fünf Jahren mache. Ich
genieße es momentan wirklich, ohne Druck und
in Ruhe zu arbeiten. Nichtsdestotrotz sollte man niemals
nie sagen.
Jawattdenn.de:
Kommen wir mal zu ihrer Zeit bei RWE. Sie trafen damals
in Essen in der Winterpause kurz nach einem mäßigen
Beginn eine taktische Entscheidung, die in der Presselandschaft
und bei den Fans argwöhnisch betrachtet wurde.
Sie setzten das „Denkmal“ Heiko Bonan auf
die Bank …
Jürgen Gelsdorf:
Heiko war ein Heiligtum. Da hat der „liebe“
Onkel Jürgen mal eben gesagt: Leute, so können
wir nicht aufsteigen, wenn wir vor 15.000 Zuschauern
zuhause gegen die Amateure von Köln mit einem
Libero spielen. Wenn ich eines in meiner Zeit als
Trainer nie hatte, dann war das Angst vor unpopulären
Entscheidungen. Im Fußball hatte ich nie Angst,
aber Respekt ...
Jawattdenn.de:
War die taktische Umstellung Garant für den Aufstieg?
Jürgen Gelsdorf:
Das war der Schlüssel! Es war nicht ganz einfach,
menschlich konnte man Heiko nichts vorwerfen. Ich
habe lange Gespräche mit ihm geführt. Dass
der hinterher einen solch super Abschied bekommen
hat, das muss man erst einmal hinkriegen. Dass ich
ihm noch geholfen habe, dass er den Fußballlehrer
macht, dass es weitergeht, das hat etwas mit Respekt
vor dem Spieler zu tun. Ich hätte auch sagen
können: „Was habe ich damit zu tun? Erfolg
ist das alles Entscheidende. Weg mit dir!“ Aber
das habe ich immer in den Vordergrund gestellt: Es
ist immer Respekt da! Ich kritisiere und treffe Entscheidungen,
aber immer nur über den Fußballer nicht
über den Menschen.
Jawattdenn.de:
Er hat sich nie beklagt?
Jürgen Gelsdorf:
Vielleicht hätte er, wenn wir ein paar Spiele
verloren hätten gesagt: „Ich möchte
weiterspielen!“ Das ist doch menschlich. Ein
Spieler möchte immer weiterspielen. Wenn man,
so wie er, im Training immer noch mithalten kann,
dann ist das völlig in Ordnung. Aber die Position
gab es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wie
viele Siege wir eingefahren haben, aber für die
Mannschaft war das ganz wichtig. Sie hat ihre Ordnung
gefunden und ist von Platz Acht hoch marschiert. Insbesondere
für Spieler wie Kirschstein, Köhler oder
Weigelt war das wichtig. Alle drei sind letzten Endes
Bundesligaspieler geworden. Weigelt war immer der
„Pflegefall“. Dem habe ich gesagt: „Du
musst linker Verteidiger spielen oder gar nicht bei
mir. Nur so kannst du Bundesliga spielen. Du bist
ein wunderbarer linker Verteidiger in der Viererkette!
Da hast Du Zukunft. Das wirst du sehen.“ Da hat
der Jürgen Klopp sich den geholt und er spielt
jetzt. Er war sogar davor, ganz „oben“ anzuklopfen,
weil er Deutscher ist und links verteidigen kann.
Die Mannschaft hat nach diesen drei Abgängen
letztlich ihr Leistungsniveau verloren, weil drei
wichtige Spieler weg gebrochen sind.
Jawattdenn.de:
War das der Hauptgrund für den Abstieg?
Jürgen Gelsdorf:
Wer aufsteigt, muss sich verstärken. Sonst geht
man direkt wieder ab. Diese Basis haben wir mit diesen
Verkäufen verlassen. Die Mannschaft war schwächer.
Es ist uns im Sommer 2004 nicht gelungen, die Ausfälle
zu kompensieren - aus welchen Gründen auch immer.
Jawattdenn.de:
Sie haben aber trotzdem immer gesagt: Wir schaffen
das!
Jürgen Gelsdorf:
Weil ich davon überzeugt war. Die Mannschaft
hatte zwar gewisse Schwierigkeiten, aber die haben
alle Mannschaften, die im Abstiegskampf stecken. Da
ist nicht überall Friede, Freude, Eierkuchen.
Es lag ja nicht nur am Torwart, dass wir im ersten
Spiel fünf Stück bekommen haben. Aber das
Gesamtpaket bis zum dreißigsten Spieltag, das
war durchaus noch normal. Diese 33 Punkte nach 30
Spieltagen mit der Problematik, dass die Aufstiegsmannschaft
geschwächt war. Das war nun mal so. Ich habe
auch nie etwas dazu gesagt, warum und wieso wir die
verkauft haben. Ich habe alles mitgetragen und für
vieles auch Verständnis gehabt. Ich habe immer
gesagt: „Das Wichtigste ist der Verein und vor
allen Dingen die Zuschauer, die so emotional an diesem
Club hängen.“ Das ist auch mein Motiv, heute
hier zu sitzen und über Dinge zu reden, die im
Prinzip Schnee von gestern sind. Ich will einfach
nochmal Danke für das sagen, was ich zwei Jahre
hier mitbekommen habe. Für mich ist es ein emotionales
Geschenk gewesen. Ich bin Profi und ich habe meine
Arbeit als Spieler und Trainer abgeliefert. Aber das
sind Dinge, die man einfach nicht vergisst: Wenn da
so eine schwierige sportliche Situation ist, in der
du siehst, dass es da 20.000 gibt, die enttäuscht
sind. Aber du merkst, dass da insgesamt niemand gegen
den Menschen Jürgen Gelsdorf ist. Dafür
möchte ich Danke sagen.
Jawattdenn.de:
Sie haben immer noch viele Fans in Essen. Diese waren
vor allem von den beiden Spielen gegen Frankfurt und
Köln begeistert. Das waren Spitzenspiele, wo
die Mannschaft sich aufgeopfert hat. Wie erklären
Sie sich, dass es zu diesem Leistungsgefälle
zwischen den einzelnen Spielen kam?
Jürgen Gelsdorf:
Es hört sich verrückt an, aber wenn du zuhause
gegen Köln 0:3 verlierst und keine Chance hattest,
dann ist es leichter, die Mannschaft auf das nächste
Spiel einzustellen. Aber bei solch einem kuriosen
Spielverlauf wie damals gegen den FC, ist es danach
schwierig, die Mannschaft wieder einzustellen, weil
das ganz viel Selbstvertrauen kostet. Das ist eine
Frage der Psychologie. Das hat dieser Mannschaft wehgetan:
Immer, wenn sie gerade gut war, fehlte ihr das Quäntchen
Glück. Nehmen wir die vier Spiele zuhause und
auswärts gegen Frankfurt und Köln. Da haben
wir drei Punkte gemacht. Mit richtig viel Massel holt
man zwölf. Mit etwas weniger Glück wenigstens
noch acht.
Es sind damals mit uns insgesamt vier Vereine aufgestiegen.
Erfurt, Saarbrücken, Dresden und Essen. Zwei
sind im ersten Jahr weg, und was haben wir jetzt für
eine Situation?
Jawattdenn.de:
Die anderen beiden sind in diesem Jahr weg.
Jürgen Gelsdorf:
Ganz genau! Und in diesem Jahr bleiben mit Braunschweig
und Paderborn die Aufsteiger aus dem Vorjahr verschont.
Es ist unheimlich schwer, sich in der zweiten Bundesliga
zu etablieren, denn die Schere geht immer weiter auseinander.
Du hast nur eine Möglichkeit das zu verändern
und das predige ich schon seit Jahren. Jetzt wird
es 2008/09 wahrscheinlich kommen.
Jawattdenn.de:
Sie meinen die eingleisige Regionalliga?
Jürgen Gelsdorf:
Ja. Ganz entscheidend wird, dass diese ohne Amateurvereine
der Lizenzmannschaft ausgetragen wird. Dann hast du
als Rot-Weiss Essen in der Dritten Liga andere Möglichkeiten,
wenn du aus der Zweiten Liga absteigst. Das ganze
kannst du besser abfangen. Was noch wichtiger ist:
Um sich in der Zweiten Liga zu halten, darf es keine
vier Absteiger geben. Wenn es vier Absteiger gibt
hast du immer einen großen Wechsel von Mannschaften.
Da bist du ganz schnell mal Viertletzter. Man stelle
sich vor, in der aktuellen Ersten Liga gäbe es
vier Absteiger. Jetzt sind es drei, und auch da wird
es schon eng.
Jawattdenn.de:
Ihrer Meinung nach war also die Qualität der
Mannschaft nicht ausschlaggebend für den Abstieg?
Jürgen Gelsdorf:
Genau
wie die anderen Mannschaften, die sich noch retten
konnten, hätten wir uns auch retten können.
Davon bin ich überzeugt. Es war noch alles drin
am 33. Spieltag. Es ist aber auch müßig
darüber nachzudenken. Es gibt keine Garantie.
Tatsache ist, aus vier Spielen wurde am Ende nur ein
Punkt geholt.
Jawattdenn.de:
Hätten Sie eigentlich einen Neustart in der Regionalliga
gemacht, wenn Sie die Gelegenheit bekommen hätten?
Jürgen Gelsdorf:
Nein. Aus meiner Überzeugung heraus hätte
ich den Weg freigemacht.
Jawattdenn.de:
Welchen Stellenwert nimmt die Zeit in Essen für
Sie persönlich ein?
Jürgen Gelsdorf:
Einen sehr großen. Ich war immer Trainer aus
Leidenschaft. Fußball ist mein Spiel, mein Lebensmittelpunkt.
Ich liebe dieses Spiel. Natürlich ist es toll,
mit einem Bundesligateam mal Nummer Eins zu sein,
aber den gleichen Druck hatte ich doch mit Rot-Weiss
Essen auch. Auch hier habe ich gehofft: „Hoffentlich
pfeift der Kerl bald ab“. Die Klasse, in der
ich arbeite, war nie so unglaublich wichtig. Ich habe
immer mehr auf die Leute geguckt, mit denen ich da
zusammenarbeitete. Ich habe diese Zeit hier in Essen
besonders genossen und ich werde nie vergessen, was
gerade hier in Essen die Leute mir an Sympathien entgegen
gebracht haben.
Jawattdenn.de:
Fehlten Ihnen professionellere Strukturen an der Hafenstraße?
Jürgen Gelsdorf:
Nehmen wir mal Bochum und Freiburg. Das sind Vereine,
die haben wirklich gute professionelle Strukturen.
Wenn so ein Team dann aufsteigt, braucht es sich auch
nicht so stark zu verändern. Wenn man aber, wie
hier in Essen, in der Regionalliga arbeitet, dann
ist es nicht so einfach, Strukturen zu entwickeln,
die auch eine Liga höher sofort greifen. Da ist
es normal, dass man ein bisschen hinterher läuft.
So was muss dann erstmal wachsen.
Jawattdenn.de:
Essen ist nun sofort wieder aufgestiegen. Würden
Sie sagen, dass der Verein aus den Fehlern der vorletzten
Saison gelernt hat?
Jürgen Gelsdorf:
Da bin ich ganz sicher. Ich drücke RWE beide
Daumen, dass sie drin bleiben. Ich fiebere immer noch
mit.
Jawattdenn.de:
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gelsdorf.
Das Interview führten Frank Schulz und Florian
Schlieper