"Wir machen keinen Aktionismus!"
Michael Welling über die Insolvenz, den Neustart und das aktuelle sportliche Abschneiden von Rot-Weiss Essen. Teil II


Jawattdenn.de:
Schauen wir jetzt mal in die Zukunft: Sie haben neulich von sich reden gemacht mit der Zahl Drei. Verschiedene Dinge kommen da zusammen. Es geht darum, die dritte Kraft im Revier werden zu wollen – sowohl mit der ersten Mannschaft als auch bei den Nachwuchsteams, die drittmeisten Dauerkarten zu verkaufen, die dritthöchste Mitgliederzahl zu haben etc. Ist denn Ihr jüngstes Kind schon RWE-Mitglied?

Dr. Welling:
(lacht) Nein, ist es nicht.

Jawattdenn.de:
Warum nicht? Doch wohl nicht bei St. Pauli angemeldet?

Dr. Welling:
Nein, auch nicht. Meine Frau ist definitiv nicht sehr fußballaffin. Früher dachte ich, sie hasst Fußball, bis sie mir erklärte, das sei viel zu emotional, der Sport interessiere sie einfach überhaupt nicht. Von daher war sie strikt dagegen, irgendjemand in der Familie zu „instrumentalisieren“.

Jawattdenn.de:
Akzeptiert. Zurück zum Konzept mit der Drei. Uns hat gut gefallen, dass Sie nicht gesagt haben, in drei Jahren spielen wir dritte Liga. Von der Zahl her hätte das ja gut gepasst. Erläutern Sie uns Ihre Idee doch bitte. Es sieht ja fast nach einer bestimmten Philosophie aus, die bei RWE einzieht.

Michael WellingDr. Welling:
Ich würde noch nicht von einer Philosophie sprechen. Vielleicht ist das Wort „Vision“ richtiger – wobei ich das auch doof finde. Es ist eine gemeinsame Perspektive und wir müssen als Ziel langfristig darauf hinwirken, dass es Realität wird. Für manche stellt es auch eine gewisse Sehnsucht dar – und die darf man auch artikulieren.

Das vergangene Jahr war geprägt durch puren Überlebenswillen. In der Insolvenzphase haben alle den gemeinsamen Fokus darauf gehabt, dass der Verein weiterlebt. Das war eine sehr kurzfristige Perspektive, das war aber auch gut so. Mit der Gläubigerversammlung am 17. Mai und dem „Wiedergeburtstag“ am 1. Juli haben wir diese Phase „abgehakt“. Da fragt man sich natürlich: Und was kommt jetzt?

Wir haben also in den Gremien gemeinsam überlegt, was die Perspektiven sind, mit denen man arbeiten kann. Wir sind uns im Klaren darüber, dass es einer Perspektive bedarf, um die Leute jetzt, nach der Insolvenz, einzuschwören. Das gilt auch intern: den Mitarbeitern, der Mannschaft zu sagen: Da wollen wir hin, das ist unsere langfristige „Vision“. Dritte Kraft im Pott, das ist etwas, worunter sich viele Menschen das Gleiche vorstellen.
Wichtig bei der Sache sind zwei Dinge. Erstens: Es gibt keine zeitliche Vorgabe. Das ist Quatsch! Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen, zu sagen: In ein, zwei, drei oder fünf Jahren passiert das. Das ist in diesem „Geschäft“ Fußball nicht möglich, wenn ich nicht bestimmte Rahmenparameter habe. Wenn ein Hopp kommt und uns jedes Jahr 50 Millionen Euro gibt, dann könnte man, nein, dann müsste man sogar auch ein zeitliches Ziel vorgeben. Da wir aber von Tag zu Tag, allerhöchstens von Saison zu Saison, denken und handeln müssen, ist jegliche Zieldefinition mit einer zeitlichen Komponente unseriös. Dritte Kraft im Pott – ich bin davon überzeugt, dass das irgendwann möglich sein kann. Aber wann, das weiß ich nicht.
Wichtig ist mir außerdem, dass sich „Dritte Kraft im Pott“ auf alle Bereiche bezieht, die sich ja auch gegenseitig bedingen. Deshalb müssen wir kleine Schritte tun, um irgendwann das große Ziel zu erreichen. Es gibt also diese große Vision, nennen wir es das „Wolkige“ obendrüber, wichtiger sind aber die kleinen Schritte.

Das betrifft viele Bereiche, wie zum Beispiel die Fans, die Mitgliederzahl, Facebook-Freunde, Zuschauerzahlen, Dauerkartenverkäufe etc. Daran müssen und können wir arbeiten, da können auch alle Fans mitwirken. Das ist sicherlich abhängig vom sportlichen Erfolg, aber viele dieser Dinge können vielleicht auch unabhängig davon erreicht werden. Schauen wir uns das Thema Mitglieder an: Rot-Weiss Essen hat knapp 3.100 Mitglieder, Oberhausen 1.200, der VfL Bochum 4.100, Duisburg 4.700. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir ligenunabhängig innerhalb von einigen Jahren die dritte Kraft sein können. Gerade in Essen mit dieser unglaublichen Begeisterung! Wir haben 7.000 Leute hier regelmäßig im Stadion. Das sind keine, die kommen, weil es sportlich gerade gut läuft. Wer hier regelmäßig in den Niederungen der fünften und vierten Liga ist, gegen Wiedenbrück, Verl und Elversberg, ist kein Modefan. Ich glaube, dass davon viele Interesse haben könnten, Mitglied zu werden. Es wird unsere Aufgabe sein, zu verdeutlichen, warum man Mitglied werden sollte.
Jawattdenns bei Doc WellingUm sportlich erfolgreich zu sein, müssen wir wirtschaftlich erfolgreich sein. Ich sage wie ein Mantra: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen definieren die sportlichen Ziele und nicht umgekehrt. Wir sagen also nicht, dass wir in drei Jahren dritte Liga spielen wollen und dann gucken wir mal, wo wir hoffentlich die Kohle zusammenbekommen, sondern wir schauen, wie viel Kohle wir zur Verfügung haben und definieren dann, was sportlich möglich ist.
Sollte es uns gelingen, mehr Mitglieder zu akquirieren, dann ist es für uns deutlich leichter zu transportieren, was wir alle fühlen, nämlich, dass Rot-Weiss Essen etwas ganz Besonderes ist. Dann können wir in den Verhandlungen sagen: Leute, guckt euch an, wir haben mehr Mitglieder als Bochum in der zweiten Liga. Wir haben mehr Zuschauer als Oberhausen in der dritten Liga. Und ihr engagiert euch bei Oberhausen oder bei Bochum statt bei Rot-Weiss Essen? Das nur als Beispiel. Ich kann dann – hoffentlich – in nicht allzu ferner Zukunft sagen: Liebe Leute, na klar spielt Duisburg zweite oder sogar erste Liga, aber wir haben 5.000 oder 10.000 Mitglieder, der MSV hat nur 4.700. Das sind kleine Mosaiksteinchen, die gemeinsam irgendwann ein Bild ergeben und sich gegenseitig bedingen.

Im Moment müssen wir die Dinge identifizieren, die für uns tatsächlich erreichbar sind, mit denen wir arbeiten können und an denen wir alle – Verantwortliche, Mitarbeiter, Spieler – uns messen lassen können. Dazu gehört für mich auch der Bereich Jugend. Mit dem Weg, den wir vorhaben, werden wir nur erfolgreich sein, wenn wir das Thema Jugendarbeit in den Fokus rücken und über eine starke Jugendarbeit auch eine besondere Stärke in der ersten Mannschaft haben.

Jawattdenn.de:
Sie haben gerade über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesprochen. Ist schon absehbar, wie der Etat der ersten Mannschaft für die kommende Saison aussehen wird?

Dr. Welling:
Nein, weil aktuell nicht klar ist, zu welchen Bedingungen wir in dem neuen Stadion spielen werden. Erst wenn diese Bedingungen feststehen, kann ich mit der Kalkulation anfangen. Deswegen müssen wir, allgemein gesagt, erst das Thema Stadion-Mietvertrag klären und danach kann ich schauen, was für die Mannschaft ausgegeben werden kann.

Jawattdenn.de:
Ist das nicht hinderlich bei Vertragsgesprächen mit Spielern? Ein großer Teil des Kaders hat ja nur Vertrag bis Ende dieser Saison.

Dr. Welling:
Ein großer Teil nicht, aber es sind schon viele. Im Moment ist es zu früh, hier Entscheidungen zu fällen, sowohl auf der sportlichen Ebene, als auch, was das Finanzielle angeht. Denn dieses Mantra, dass wir nur das ausgeben, was wir haben, zieht sich fort.

Jawattdenn.de:
Ist das nicht auch ein Teufelskreis? Der wirtschaftliche Rahmen wird doch besser, je höher ich sportlich aktiv bin. Es ist doch einfacher, in der dritten oder zweiten Liga Geld zu generieren als jetzt in der fünften oder vierten. Man kann den Sponsoren ja nicht sagen: Wir machen jetzt zehn Jahre Regionalliga.

Dr. Welling:
Ja und nein (lacht). Ja, je höher ich spiele, desto höher sind meine Erlösmöglichkeiten. Sowohl beim Sponsoring als auch bei den Fernsehgeldern. Je höher ich spiele, desto mehr Medienpräsenz habe ich und desto größer ist der Gegenwert, den ich Sponsoren bieten kann. Und je höher ich komme, desto größer ist auch das TV-Geld. Nur als grober Rahmen: Von der Regionalliga in die dritte Liga verzehnfachen sich die Fernseheinnahmen. Von der dritten in die zweite Liga ist es fast noch einmal eine Verzehnfachung. Wir reden im Moment von etwa 80.000 Euro, in der dritten Liga wären es knapp 800.000 und in der zweiten Liga haben die Vereine zwischen sechs und acht Millionen aus dem TV-Topf zur Verfügung.

Michael WellingDas sind die Fleischtöpfe, an die alle ranwollen und es findet das so genannte „Rattenrennen“ statt: Oben gibt es ein Stück Käse – das ist der Aufstiegsplatz, wo alle hinwollen. Und alle pumpen rein. Gucken Sie sich zum Beispiel in diesem Jahr Trier, Lotte oder Wuppertal an: Da sitzt ein Gouiffe à Goufan, den ich noch als gestandenen Zweitligaspieler in St. Pauli kenne, in Trier locker mal auf der Bank, dort spielt ein Chunly Pagenburg, der vorher in der Bundesliga bei Nürnberg war. Oder Pollok, der aus Münster kam. Mit dem haben wir in der letzten Winterpause auch mal geredet, das war für uns aber finanziell völlig irreal. Jetzt sitzt er in Trier auf der Bank. Da haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie viel Kohle die in die Mannschaft stecken – und nur eine Mannschaft steigt auf. So hat Essen das auch jahrelang gemacht. Was ich damit sagen will: Teufelskreis? Nein! Es wäre nur dann ein Teufelskreis, wenn wir dieser ruinösen Konkurrenz gerecht werden wollten. Das wollen wir aber nicht. Es ist unsere Aufgabe, in der jeweiligen Spielklasse so viele Erträge wie möglich zu realisieren, zu steigern und wettbewerbsfähig zu werden.

Ich glaube, dass Rot-Weiss Essen bezüglich der Sponsoring-Volumina bis zur zweiten Liga hinauf mindestens durchschnittliche Erlöse im Vergleich zur Konkurrenz erzielen kann! Und je tiefer wir spielen, desto relativ höher wird der Erlös im Vergleich zur Konkurrenz sein. Wenn wir also irgendwann mal wieder in der zweiten Liga spielen sollten, dann hätten wir auf der Sponsorebene mehr Mittel zur Verfügung als 50 Prozent der anderen Teams, davon bin ich fest überzeugt. Zurzeit ist es wichtig, dass wir in der Regionalliga mit dem zur Verfügung stehenden Etat das sportlich maximal mögliche herausholen. Mit einem langen Atem und solidem Wirtschaften werden wir irgendwann erfolgreich sein, denn wir haben hier den eben beschriebenen wirtschaftlichen Vorteil und wir haben am Spieltag ca. 500 „VIP“-Gäste – das sind mehr, als andere Vereine in unserer Spielklasse Zuschauer haben.

Jawattdenn.de:
Für den langen Atem sehr wichtig ist der Fan, den man bei der Stange halten muss. Auf Dauer werden sich vermutlich keine 7.000 Zuschauer Regionalliga-Mittelfeldfußball anschauen wollen. Wie nimmt man den Fan bei der anstehenden Durststrecke mit? Und ist dabei aus planerischer Sicht der Dauerkartenverkauf, für den vor dieser Saison schon kräftig die Werbetrommel gerührt wurde, ein wichtiger Faktor?

Dr. Welling:
Natürlich ist der Dauerkartenverkauf wichtig, darauf werde ich nachher noch explizit eingehen. Aber ohne Fans keine Sponsoren! Das ist die große Herausforderung. Ich denke aber, dass auch hier der Umkehrschluss, der bei vielen im Kopf verankert ist, nicht richtig ist: Es kann nicht funktionieren, dass man nur über den zu teuer erkauften sportlichen Erfolg Fans lockt…

Jawattdenn.de:
… diese Option hatten wir auch schon ausgeklammert.

Dr. Welling:
Gut! Im Internet-Forum lese ich ja auch die Schlussfolgerungen: Wir verlieren, dann kommen weniger Zuschauer, dann haben wir weniger Geld. Natürlich ist es so, dass es immer welche geben wird, die tatsächlich nur im Erfolgsfall kommen. Wie geht man jetzt damit um?

Jawattdenn.de:
Indem man den Zuschauerschnitt in der Kalkulation relativ niedrig ansetzt?

Dr. Welling:
Genau das haben wir, der liegt bei 5.000 Besuchern. Einige kehren sich vom Verein ab, wenn wir verlieren. Das kann ich niemandem verdenken. Aber der harte Kern bleibt. Unsere Fans sind deutlich leidensfähiger, als man gemeinhin glaubt. Wir wollen uns natürlich jedes Jahr verbessern und jedes Spiel gewinnen – aber ich kann das weder versprechen noch erkaufen. Es wird keine Sprüche und keinen Aktionismus in diese Richtung geben. Es ist wichtiger, den Leuten einen ehrlichen Kampf anzubieten. Darauf sollen die Leute Bock haben! Ich persönlich genieße es, im Stadion zu sein. Die Hafenstraße ist für mich wirklich ein Erlebnis! Ich finde es geil, wie die Mannschaft sich präsentiert. Wir haben weniger Kohle als unser Gegner? Gut, dann kämpfen wir die auf dem Platz halt nieder! Und zwar mit 7.000 Fans und der entsprechenden Stimmung im Rücken. Unsere Fans machen das wett, was andere an Kohle mehr haben. Diese Faktoren Fans können die Fans überzeugen und zusammenschweißen. Es müssen Erlebnisse da sein, die die Leute berühren – in welcher Form auch immer. Selbst Abstiege können diese Wirkung entfachen. Ohne die Abstiege wären auch keine 7.000 Leute mehr da. Bochum hat 23 Jahre in der Bundesliga gespielt, relativ emotionslos. Hertha dagegen hat den Zuschauerschnitt in der zweiten Liga gesteigert. Das ist ein Mechanismus, der funktionieren kann. Das Schwierige dabei ist, dass man diese Mechanismen aber nicht steuern kann, und dass man negative Erlebnisse natürlich vermeiden muss. Es wäre illusorisch zu glauben, dass wir auf der Geschäftsstelle an ein paar Rädchen drehen können, so dass die Fans kommen und glücklich sind. 


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