15.11.2011

"Wir machen keinen Aktionismus!" Michael Welling über die Insolvenz, den Neustart und das aktuelle sportliche Abschneiden von Rot-Weiss Essen.

von Redaktion

Michael Welling ist seit Oktober 2010 der "Chef" an der Hafenstraße. Als geschäftsführender Vorsitzender hat er den Club durch die letzten Monate der Insolvenz geführt und am 1. Juli dieses Jahres den Neuanfang gemacht. Kurz nach dem Pokalspiel gegen Hertha BSC Berlin hatte die Jawattdenn.de-Redaktion Gelegenheit, ein langes Gespräch mit ihm zu führen. Fast zwei Stunden lang erläuterte er seine "Vision" für Rot-Weiss Essen, erklärte die Situation des Clubs nach der überstandenen Insolvenz und ging auch auf die Verletzungsserie und die sportliche Situation an der Hafenstraße ein.

Jawattdenn.de:

Schicke Frisur, Herr Welling! Was hat denn Ihre Frau gesagt, als Sie so nach Hause kamen?

Dr. Welling:
Sie hat zunächst gar nichts gesagt, sondern laut gelacht. Eine Freundin war ebenfalls da und beide haben sich über mich lustig gemacht. Eine Frisur ist nicht nur eine Frage des Aussehens, sondern auch der Einstellung. Für mich war diese Frisur vielleicht sogar eine größere Strafe als ein Irokesenschnitt. In dem Fall hätte ich wohl anschließend selbst noch Hand angelegt und mir eine Glatze rasiert.

Jawattdenn.de:
Was wäre denn die schlimmstmögliche Frisur gewesen?

Michael WellingDr. Welling:
Strähnchen? (lacht) Nein, ehrlich gesagt sind Friseure für mich wie Zahnärzte: da habe ich keinen Bock drauf. Ganz tief in mir drin schlummert eine Urangst und ich bin deshalb jemand, der nur sehr selten zum Friseur geht. Bei kurzen Haaren habe ich selber Hand angelegt, bei langen Haaren habe ich sie wachsen lassen. Wenn ich zum Friseur gehe, bin ich anschließend immer unzufrieden. Das liegt dann aber an mir, nicht an den netten Menschen, die mir die Haare geschnitten haben. Ich sage einfach "Machen sie mal", und wenn die Friseure dann loslegen, wollen sie mir immer Gel andrehen – auch das ist definitiv nichts für mich! Wenn ich morgens aufstehe, dann dusche ich und trinke einen Kaffee. Mehr mache ich nicht, bezüglich meiner Haare bin ich sehr uneitel. Das war also ein echter Wetteinsatz für mich!

Jawattdenn.de:
Diese Wette galt für das Pokalspiel gegen Union. Gab es für das Hertha-Spiel einen neuen Wetteinsatz?

Dr. Welling:
Einen ernsthaften nicht mehr. Ich hatte mal von einer Glatze gesprochen, allerdings hat man gemerkt, dass dieser nächste Schritt kein wirklicher Wetteinsatz mehr gewesen wäre. Hätten die Jungs gewonnen, dann wäre die Glatze vielleicht Realität geworden, aber es wurde mehr geflachst und es gab keine klare Wettaussage mehr.

Jawattdenn.de:
Wie ist denn die Stimmung in der Mannschaft nach dem Pokalspiel? Ist man trotz der 0:3-Niederlage zufrieden?

Dr. Welling:
Ich denke, insgesamt kann man zufrieden sein, nämlich aufgrund der Art und Weise, in der sich der Verein und die Jungs auf dem Rasen präsentiert haben. Das war unglaublich gut für den Verein. Dass die Mannschaft trotzdem enttäuscht ist, versteht sich von selbst. Sie waren nach dem Spiel niedergeschlagen. Es ist dann auch schwierig zu sagen: "Ihr könnt stolz auf Eure Leistung sein", denn letztlich schmerzt die Niederlage mehr. Es war in den vergangenen Spielen schon so, dass sie für ihren Aufwand nicht belohnt wurden. Man kann ihnen definitiv nicht mangelnden Einsatz vorwerfen. Die Bereitschaft stimmt, sie investieren viel, aber sie belohnen sich vorne und hinten nicht. Ich glaube, mit der Art und Weise, in der sie sich präsentieren, muss man zufrieden sein.

Jawattdenn.de:
Kann eine solche gute Leistung wie gegen Berlin die Mannschaft auch für die nächsten Aufgaben ein wenig "pushen"?

Michael WellingDr. Welling:
Ja, aber das geht schon in Richtung Küchenpsychologie: Man kann auch sagen, jetzt haben sich alle auf das Highlight gefreut und hingearbeitet, dieses ist jetzt vorbei und es kann einen negativen Push geben. Das ist so wie "Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter – oder es bleibt, wie es ist." Unter dem Strich sind die Jungs per se sehr leistungswillig. Von daher denke ich, dass die Niederlagenserie keine negativen Folgen haben wird. Sie wollen endlich wieder ein positives Erlebnis haben.

Jawattdenn.de:
Haben sie die Befürchtung, dass die Stimmung unter den Fans und Sponsoren kippen könnte, falls uns Verletzungspech und sportlicher Misserfolg treu bleiben?

Dr. Welling:
Auf der Sponsorenebene habe ich am allerwenigsten Sorge. Gerade bei unseren Sponsoren steht nicht der kurzfristige sportliche Erfolg an erster Stelle. Dort spielen andere Themen eine Rolle: Wie präsentiert man sich insgesamt? Wie ist die Stimmung? Wie ist das Verhältnis zum Verein? Natürlich werden die Fans irgendwann nicht mehr glücklich sein, sollten wir weiterhin viele Spiele verlieren, wobei ich gerade hier in Essen ein gutes Gefühl habe: Gegen Hertha und Mönchengladbach wurde die Mannschaft noch Minuten nach dem Schlusspfiff gefeiert, da hatte ich wirklich eine Gänsehaut. Von daher glaube ich, dass unsere Fans sehr wohl differenzieren können, ob die Jungs alles versucht haben und es aus welchen Gründen auch immer nicht gereicht hat oder ob einfach überhaupt nichts stimmte. Solange die Einstellung stimmt, ist auch die Anzahl der Verletzten zweitrangig. Einzelne Stimmen fangen zwar an, den Untergang von Rot-Weiss Essen herbeizureden oder einzelne Punkte zu kritisieren – ja, das ist so. Die eine oder andere Kritik ist sogar berechtigt, aber dass die Stimmung insgesamt kippt, daran glaube ich nicht.

Jawattdenn.de:
Was wäre denn der „worst case“ in dieser Saison?

Dr. Welling:
Der „worst case“ wäre, wenn wir in Aktionismus ausbrechen oder die Jungs sich gegenseitig zerfleischen würden. Und wenn wir begännen, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und Schuldige für Niederlagen zu suchen – das wäre das Schlimmste.

Zuletzt haben wir gegen Wuppertal und Lotte gespielt, jetzt fahren wir nach Trier – das sind Teams, die man ganz oben erwartet hat, was sich bis auf Wuppertal auch bestätigt hat. Dennoch war allen klar, dass es sich um ganz schwierige Gegner handelt, gegen die wir von der Papierform her krasse Außenseiter waren. Natürlich wird Unzufriedenheit aufkommen, wenn wir weiter verlieren sollten. Auch ich habe keinen Bock auf Niederlagen. Ein früherer Mitspieler von mir hat einmal nach der zweiten Niederlage in Folge nach dem Spiel gesagt: „Kannste besser gewinnen – macht mehr Spaß!“ Es macht mehr Spaß zu gewinnen, keine Frage. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass wir trotz der Verletzten hinreichend Qualität im Kader haben, so dass es zu diesen worst-case-Szenarien nicht kommen wird.

Jawattdenn.de:
Es ist schon merkwürdig, dass sich sämtliche Innenverteidiger verletzt haben. Da drängt sich unter vielen Anhängern die Frage auf: Wäre es nicht doch besser gewesen, Alexander Thamm zu behalten?

Dr. Welling:
Wir reden davon, dass unsere vier Innenverteidiger verletzt sind. Wenn Thamm da wäre, dann wären vielleicht auch alle Innenverteidiger verletzt inklusive Alex. Diesen Sinnzusammenhang kann man also nicht aufstellen.

Jawattdenn.de:
War es notwendig, gleich zwei neue Verteidiger mit einer langen Verletzungsvorgeschichte zu holen und ist damit die aktuelle Situation nicht zum Teil auch ein „hausgemachtes“ Problem?

Dr. Welling:
Bezüglich Maik Rodenberg – unbestritten ja. Er hatte eine schwere Knieverletzung, eineinhalb Jahre nicht gespielt und den Anschluss in Bielefeld verloren. Ohne diese Knieverletzung hätten wir jedoch gar nicht mit ihm sprechen können. Bei seiner sportlichen Qualität haben wir gesagt: „Dieses Risiko gehen wir ein!“ Wir haben uns natürlich auch ärztlich abgesichert. Er hatte zuvor ein halbes Jahr ohne Probleme trainieren können. Insgesamt war er vor der Saison bei drei Ärzten, die ihn untersucht haben. Bis zum Dienstag nach dem Gladbach-Spiel hat er alle Trainingseinheiten ohne Reaktion des Knies mitgemacht. Dass anschließend wieder Probleme aufkamen, war nicht abzusehen, auch wenn sicherlich ein gewisses Risiko vorhanden war. Aber: Ist die ursprüngliche Knieverletzung ursächlich für das, was jetzt ist? Die Frage kann bis heute keiner beantworten. Aber d´accord – im Falle Rodenberg sind wir aufgrund seiner sportlichen und menschlichen Qualität ein Risiko eingegangen.

Die Wahrnehmung im Fall Jansen ist jedoch eine typische „Forenweisheit“. Sebastian Jansen hatte in jungen Jahren sicherlich auch mal die eine oder andere Verletzung, er hatte aber in Aachen mit Ausnahme einer Verletzung die gesamte Saison gespielt und trainiert. Auch bei ihm haben wir natürlich Ärzte konsultiert und Beziehungen genutzt. Da war es definitiv nicht so, dass von irgendeiner Seite von einer Verletzungsanfälligkeit gesprochen wurde. Ralf Aussem, der ihn in Aachen trainierte, hat ihm einen „Bombenkörper“ attestiert. Bei Sebastian Jansen sind wir also kein Risiko eingegangen.

Michael WellingJawattdenn.de:
Während Jansens Klever Zeit hatte der Mannschaftsarzt eine Verbindung aufgebaut zwischen der damaligen Verletzungsanfälligkeit und dem Eppstein-Barr-Virus, das bei ihm diagnostiziert worden war. Kam das bei den Untersuchungen zur Sprache?

Dr. Welling:
Zunächst mal ist seine augenblickliche Knieverletzung davon unabhängig. Die Verbindung zwischen seinen früheren Muskelfaserrissen und dem Eppstein-Barr-Virus wurde zwar in einem Zeitungsartikel aufgestellt, aber keiner der von uns konsultierten Ärzte hat diese Diagnose bestätigt. Es gab keinerlei Indikationen, dass das Virus zukünftig ein Problem sein wird. Was derzeit passiert, ist super ärgerlich, da machen wir uns nichts vor. Es ist aber auch ein großer Zufall: Wenn man sich die Verletzungen anschaut, dann ist offensichtlich, dass sie keine gemeinsame Ursache haben. Die Schulter von Wagner, das Knie von Rodenberg, die Bauchmuskelverletzung von Schneider und das Knie von Jansen – dem liegen vier grundlegend unterschiedliche Ursachen zugrunde. Deshalb würde ich die Transferentscheidungen auch genau so nochmal fällen.

Jawattdenn.de::
Unabhängig davon, ob die Entscheidung im Falle Thamm nun richtig oder falsch war: wie war Ihre erste Reaktion, als die sportliche Leitung Sie informierte, dass man mit Thamm als einzigen Stammspieler der Aufstiegsmannschaft nicht verlängern möchte?

Dr. Welling:
Es ist mir nicht als Entscheidung der Sportlichen Leitung mitgeteilt worden, sondern es war ein Prozess, der über viele Monate diskutiert wurde und in den ich von Beginn an involviert war. Viele Aspekte wurden von allen Seiten immer wieder beleuchtet. Alle Gedanken habe ich auch mitgedacht und mitbekommen. Von daher war es keine Überraschung für mich, sondern eine Entscheidung, die wir gemeinsam unter Abwägung aller Rahmenbedingungen im Team gefällt haben. Und da stehen wir auch heute noch zu.

Jawattdenn.de:
Wurde darüber kontrovers diskutiert?

Dr. Welling:
Ja, aber nicht in dem Sinne, dass wir gegensätzliche Positionen zu dem Thema hatten, sondern dass es unterschiedliche Facetten gab, die wir einbeziehen mussten. Wir haben versucht, alles von allen Seiten zu betrachten – gerade beim Alex. Die Entscheidung selbst war überhaupt nicht kontrovers, sondern ganz klar. Wir müssen uns nichts vormachen: Alex ist ein richtig geiler Typ. Punkt. Er hat letztes Jahr für die Truppe eine überragende Leistung erbracht. Er war hier zu Recht Publikumsliebling. Das sind Überlegungen, die natürlich in so eine Entscheidung mit reinspielen und sie auch schwergemacht haben. Aber von diesen „weichen Faktoren“ können wir uns nicht leiten lassen. Wir können ja nicht die Mannschaft nach Publikumsgefallen aufstellen, sondern aufgrund der Einschätzung der sportlichen Situation. Und auf der rein sportlichen Ebene stand die Entscheidung nie in Frage.
Es gab schon sehr früh die Wahrnehmung, dass da Defizite sind, schon in der Hinrunde. Wir haben in der Winterpause eine sehr klare Analyse der Hinrunde gemacht und dabei diese Defizite angesprochen. Von daher war es eine zwangsläufige Entscheidung…

Jawattdenn.de:
… die ihm aber relativ spät mitgeteilt wurde.

Dr. Welling:
Nein, das stimmt nicht.

Jawattdenn.de:
So kam es aber rüber, dass man erst nach dem Saisonabschluss mit ihm gesprochen hat.

Dr. Welling:
Da muss man differenzieren: Die sportlichen Defizite wurden sehr früh angesprochen – in der Hinrunde und auch in der Winterpause. Die definitive Entscheidung, den Vertrag nicht zu verlängern, ist tatsächlich erst montags nach dem letzten Meisterschaftsspiel gegen Fortuna Köln gefallen. Wir haben die sportlichen Faktoren in die Entscheidung einbezogen, die eben genannten „weichen Faktoren“ und natürlich auch das Finanzielle. Wenn es nur um die sportlichen Dinge gegangen wäre, hätten wir diese Entscheidung schon früher getroffen. Aber gerade bei Alex haben viele andere Facetten eine Rolle gespielt, weshalb wir ihm dann auch gar kein – auch kein „unmoralisches“ – Angebot vorgelegt haben. Ich hoffe, das ist nachvollziehbar.


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