19.01.2019

„Ich habe mit voller Überzeugung hier angefangen“ – Interview mit Karsten Neitzel

von Hendrik Stürznickel

Karsten Neitzel hat in Essen ohne große Anlaufzeit sich hohe Sympathiewerte erworben. Insbesondere seine authentische Art gefällt vielen Zuschauern. Auch beim Interview nahm er kein Blatt vor den Mund und beantwortete bereitwillig alle Fragen zu seinem Werdegang, der vergangenen Saison und den künftigen Aufgaben.

Jawattdenn.de: Von Trainern hört man oft, dass die Ergebnisse von Testspielen nicht zählen, sondern viel mehr die gewonnenen Erkenntnisse. Gilt das auch für den 3:0-Erfolg vom vergangenen Samstag gegen Fortuna Köln?

Karsten Neitzel: Mir sind die Ergebnisse nicht egal. Es ist im Moment für manche Leute sexy, ausschließlich negativ über Rot-Weiss Essen zu sprechen, sodass man angeschaut wird, als habe man sechs Arme und zwei Köpfe, wenn man sich positiv zum Verein äußert. Für die Stimmung aber auch für uns als Mannschaft sind vernünftige Ergebnisse in der Vorbereitung nicht unwichtig. Insgesamt war es ein gutes Spiel, egal ob wir das Ergebnis, die Leistung auf dem Platz oder die Erkenntnisse betrachten.

Jawattdenn.de: Die Vorbereitung hat vergangene Woche begonnen. Mögen Sie solche Vorbereitungsphasen?

Karsten Neitzel: Ja! Ich will hier jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen und erzählen, was wir alles für Abläufe steuern und welche taktischen Dinge wir trainieren. Es geht in dieser Zeit darum, dass wir die Dinge, die gut laufen, bestätigen und diese konstanter auf den Platz bringen, und an Dingen, die nicht gut laufen, arbeiten.

Wir können in der Vorbereitung gezielter arbeiten, sodass es für jeden Spieler einfacher wird, seine Fehlerquote zu minimieren. Das müssen die Spieler erst in Testspielen und dann beim Ergebnisstress auch in der Saison hinbekommen.

Jawattdenn.de: Vor der Winterpause sind 25 Pflichtspiele gespielt worden, davon 21 Liga- und vier Pokalspiele. Es fällt auf den ersten Blick schwer, ein richtiges Zwischenfazit zu ziehen…

Karsten Neitzel: …das geht schon. Wir haben eine richtig gute Phase gehabt, in der jeder gesehen hat, was die Mannschaft kann. Dann gab es Spiele, in denen die Mannschaft gut bis befriedigend gespielt hat. Beim 1:1 in Verl oder dem 0:1 in Mönchengladbach kann man nicht sagen, dass die Mannschaft richtig schlecht war. Da haben wir unsere Möglichkeiten nicht konsequent genutzt. Allerdings geht es im Fußball um das Ergebnis, weswegen wir bei Niederlagen und Unentschieden häufig wenig Argumente für die Öffentlichkeit haben.

Es ist sehr schade, dass wir mit einer so schlechten Stimmung in die Pause gegangen sind, weil unsere Leistungen am Ende nicht mehr gut waren auf dem Platz. Dafür gibt es viele Gründe, allerdings lasse ich eine Begründung nicht zu: Es liegt nicht daran, dass irgendjemand seine Leistung nicht bringen wollte. Das lasse ich nicht gelten, weil es nicht stimmt!

Jawattdenn.de: Der Vorwurf kommt?

Karsten Neitzel: Natürlich, weil es der einfachste Vorwurf ist. Es stecken aber natürlich viele verschiedene Dinge dahinter, warum es uns in den letzten Spielen nicht mehr gelungen ist, an die Leistungen der ersten Spiele anzuknüpfen.

Es hat zum Beispiel die Selbstverständlichkeit und Überzeugung in unserem Spiel gefehlt. Unser Spiel ist intensiv und sehr laufaufwendig, weil wir den Gegner immer wieder anlaufen wollen. Das will ich auch im Training sehen und diese Überzeugung und damit letztendlich auch die Frische ist uns ein Stück weit abgegangen. Die Aufgabe wird es sein, die Mannschaft so vorzubereiten, dass diese Überzeugung zurückkehrt, möglichst über die gesamte Restsaison.

Jawattdenn.de: Von außen betrachtet fallen die Leistungsschwankungen auf. Gegen Rödinghausen hat Rot-Weiss ein ordentliches Spiel gemacht, in dem der Tabellenzweite 2:0 besiegt wurde, und in dem kaum Torchancen zugelassen wurden…

Karsten Neitzel: …wobei die Stimmung nach dem Spiel nicht gut war. Die Stimmung wäre eine andere gewesen, wenn das Spiel direkt nach dem Bonn-Spiel gekommen wäre. So waren schlechtere Spiele davor, man sieht in der Tabelle, dass der Abstand nach oben größer geworden ist. In so einer Situation wird nicht mehr unvoreingenommen bewertet.

Wir dürfen es aber nicht besser machen, als es war. Rödinghausen war ein vernünftiges Heimspiel, bei dem wir den Tabellenzweiten mit 2:0 geschlagen haben. Ich bleibe auch dabei, dass das Spiel gegen Kaan-Marienborn, das wir 1:0 gewonnen haben, ein gutes Spiel war. Durch die schlechteren Spiele gegen Wuppertal, Düsseldorf und zum Schluss in Köln haben wir uns aber vieles kaputt gemacht. Diese drei Spiele kotzen alle an: die Spieler, die Verantwortlichen, mich selbst und zu Recht auch die Fans.

Die Frage ist, wie wir weitermachen: Hauen wir uns gegenseitig mit dem Hammer auf den Kopf, wie schlecht wir sind oder transportieren wir wieder die Spielfreude und Griffigkeit vom Saisonbeginn auf den Platz? Wir wollen in dieser Saison noch etwas erreichen.

Jawattdenn.de: Das Umfeld neigt zu Extremen. Hätten Sie sich die Arbeit vorher so intensiv vorgestellt?

Karsten Neitzel: Ja! Das Zuschauervolumen ist zweitligawürdig. Die Wucht im Umfeld ist dann unabhängig von der Liga die gleiche. Ich habe es mir genauso vorgestellt und hätte es mir gewünscht, dass diese Wucht länger so bleibt, wie es im August und September war. Nun ist es so und damit müssen und können wir hier umgehen.

Jawattdenn.de: Sie kennen auch andere Stationen wie Freiburg oder Kiel. Da sind die Extreme im Umfeld genauso?

Karsten Neitzel: Wir müssen fair bleiben. Wenn die Erwartungen mehrmals nicht erfüllt werden, wird die Zündschnur dann logischerweise kürzer. Ich lese die sozialen Medien in Essen nicht, dafür aber bei anderen Vereinen. In Nürnberg oder Kaiserslautern wird genau das Gleiche geschrieben, wie es hier gesagt wird. Man hebt sich als Verein davon ab, wenn man positiv bleibt wie beispielsweise in Freiburg, aber das ist ganz schwierig.

Man muss umgekehrt gucken, dass man Ergebnisse liefert. Wenn das passiert, haben wir bereits gesehen, wie die Stimmung in die andere Richtung tragen kann. Das ist unsere Aufgabe und unser Antrieb.

Die Haltung, dass wir eine negative Stimmung vermeiden wollen, ist keine gute. Das passiert vielen Spielern auch. Jeder sollte umgekehrt denken, was denn hier los ist, wenn wir wieder eine Serie wie im August starten. Das setzt viel mehr positive Kräfte frei. Es wird in dieser Saison natürlich nicht mehr wie im August sein. Ziel muss es sein, dass wir wieder besser gelaunt von den Spielen nach Hause gehen.

Jawattdenn.de: Wie erleben Sie denn den Umgang mit den RWE-Fans persönlich?

Karsten Neitzel: Ich habe schon einige Veranstaltungen hier besucht und zu mir hat noch niemand etwas Böses gesagt. Im Gegenteil empfand ich das Miteinander gerade bei den Auswärtsspielen in Herkenrath, Siegen oder Wattenscheid sehr gut. Es ist in meinen Augen schon eine minimal sensiblere Haltung der Mannschaft gegenüber vorhanden als in der letzten Saison. Auch wenn wir verloren haben, haben uns die Fans lange massivst positiv unterstützt. Wenn das nach mehreren schwächeren Spielen weniger wird, dann ist das auch nachvollziehbar.

Jawattdenn.de: Wenn wir uns Ihren Werdegang anschauen, waren Sie erst Spieler und danach Trainer beim SC Freiburg…

Karsten Neitzel: Ich habe noch zwei Jahre in Freiburg gespielt, zwar nur 18 Bundesligaspiele bestritten, aber jede einzelne Minute genossen. Das ist zwar nicht viel und ich habe auch nicht irgendwelche alten Trikots von Gegnern im Schrank, aber es war eine gute Erfahrung. Danach hatte ich als Trainer der Zweiten Mannschaft in der Vierten Liga eine intensive Zeit, denn ich hatte keinen Co-Trainer oder Torwarttrainer. Dazu war ich einer von zwei Co-Trainern der Bundesligamannschaft von Volker Finke. Wir haben also zu dritt zwei Mannschaften betreut. Nach sechs Jahren wurde mir ein Co-Trainer zur Seite gestellt, der heute Cheftrainer bei Greuther Fürth ist.

In dieser Doppelfunktion, die ich zehn Jahre ausgeübt habe, habe ich gemerkt, was es bedeutet im Fußball zu arbeiten. Ich habe selten einen Tag frei gehabt und nur in der spielfreien Zeit Urlaub machen können. Samstags haben die Profis gespielt, sonntags die Zweite Mannschaft. Montags hatten die Profis frei, da habe ich mit der Zweiten Mannschaft trainiert, dienstags war es umgekehrt. So ging das immer weiter. Dazwischen habe ich meinen Fußballlehrer gemacht.

Dabei hatte ich nie den Plan, Trainer zu werden. Ich bin im März 1996 ins Büro von Volker Finke gegangen, um mich zu erkundigen, ob mein Vertrag verlängert würde. Aufgrund meiner Hüftprobleme kam das nicht infrage, aber er bot mir an, dass ich meinen A-Schein machen, die Zweite Mannschaft leiten und in der Ersten Mannschaft Co-Trainer machen könnte. Ich habe sofort zugesagt, obwohl Volker Finke mir nahe legte, es mir zu überlegen, es mit meiner Familie zu besprechen. Trotzdem wusste ich sofort: Das mache ich.

Erst 1996 habe ich aber etwas gemerkt. Wenn Volker Finke mir dieses Angebot nicht gemacht hätte und nur gesagt hätte, dass der Vertrag nicht verlängert wird, dann hätte ich gar nicht gewusst, was ich hätte machen sollen.

Jawattdenn.de: Sie waren mehr als zehn Jahre beim SC Freiburg. Von außen wirkt der Club besonders im Bundesligageschäft. Ist der SC auch als Mitarbeiter anders als andere Profivereine?

Karsten Neitzel: Die arbeiten anders als andere Clubs. Vielleicht ist Heidenheim vergleichbar, aber ansonsten sind die anders als alle anderen Profivereine. Die machen eines besonders gut: Sie stellen nicht nach Namen ein. Der Vorstand Sport heute, Jochen Saier, ist als Praktikant zur Freiburger Fußballschule gekommen. Auch wenn man die Leute nicht kennt, bekommen diejenigen in Freiburg eine Chance, die etwas auf dem Kasten haben. Genauso war es mit Andreas Bornemann. Er war acht Jahre lang Kapitän der Zweiten Mannschaft und ist im Anschluss Leiter der Freiburger Fußballschule geworden. Nachdem Andreas Rettig nach Köln gewechselt ist, wurde Bornemann sportlicher Leiter mit gerade mal 33 Jahren. Das finde ich überragend.

Da ist keiner, weil er ein paar Jahre Bundesliga auf der Visitenkarte stehen hat, sondern da sind die Leute inhaltlich gut drauf. Da behalten die Leute auch die Ruhe, wenn es mal sportlich nicht rund läuft. Das kann allerdings in keinem anderen Verein funktionieren, weil man sich das über viele Jahre erarbeiten muss. Ein Verein kann nicht jedes Jahr den Trainer rauswerfen und auf einmal an einem Trainer vier Jahre festhalten, selbst wenn er mit dem Trainer absteigt. Das wird nicht gehen.

Jawattdenn.de: Sie sind im Anschluss mit Volker Finke nach Japan zu den Urawa Red Diamonds gegangen. Wie unterscheiden sich das Arbeiten und der Alltag von Deutschland?

Karsten Neitzel: Es würde zu weit führen, das alles zu erzählen. Es unterscheidet sich extrem, es ist völlig verrückt. Zum Beispiel hatten wir ein Spiel gegen Kashima Antlers. Es war klar, dass ich mir das Team vorher angucken wollte und habe mir ein Ticket nach Kashima besorgen lassen. Als ich zurück kam wurde mir sehr deutlich gesagt, dass ich in die Arbeit eines anderen Mitarbeiters eingreifen würde. Das würde ihm zeigen, dass er seinen Job nicht anständig machen würde, weswegen ich das nicht machen solle. Ich hatte mit dem Spielbeobachter ein sehr gutes Verhältnis, weil es einer der wenigen war, die fließend Englisch sprechen konnten, und der fand es nicht so wild.

Jawattdenn.de: Sie haben viele Jahre mit Volker Finke zusammengearbeitet. Welchen Stellenwert hat dieser Trainer für Sie?

Karsten Neitzel: Es waren mit der Zeit als Spieler 16 Jahre. Da bleibt viel hängen. Die Art und Weise, wie er einer Mannschaft die Inhalte vermittelt hat, fand ich gut. Er hat den Spielern viel Verantwortung übertragen und Inhalte oft spielerisch vermittelt. Man hat ihm oft nachgesagt, er könne mit Stars nicht umgehen. Genau das konnte er aber besonders gut. Ich habe vieles aufgesaugt, was ich da miterlebt habe. Ich hatte das Glück, bei über 350 Bundesliga Vor- und Nachbesprechungen sowie in Halbzeitansprachen zu sein. Gleichzeitig konnte ich bei der Viertligamannschaft diese Erkenntnisse praktisch anwenden und meine eigenen Ideen ausprobieren, wenn ich etwas anders machen wollte. So habe ich meinen Weg gefunden.

Jawattdenn.de: Haben Sie noch Kontakt?

Karsten Neitzel: Ganz wenig nur noch, der ist fast abgerissen.

Jawattdenn.de: Haben Sie irgendwann die konkrete Entscheidung getroffen, dass Sie Cheftrainer im Profibereich werden wollten oder war es Zufall, dass Sie das Traineramt in Bochum von Andreas Bergmann übernommen haben?

Karsten Neitzel: Ich habe nie einen Karriereplan verfolgt und lasse Dinge auf mich zukommen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich selten verkrampfe. Als Trainer in der heutigen Zeit, kann man ohnehin wenig planen. Im Dezember 2008 habe ich ein sehr sicheres Arbeitsverhältnis in Freiburg für das Japan-Abenteuer aufgegeben. Nach der Entscheidung, den Vertrag aufzulösen, wusste ich, dass das Nomadenleben beginnt. Japan musste ich aber machen, auch wenn ich nur einen Ein-Jahres-Vertrag vorgelegt bekommen habe. Ich hätte es auch für sechs Monate gemacht, denn da kommt man so schnell nicht wieder hin.

Nach meiner Zeit in Japan ging es dann zum VfL Bochum. Ich war bereits zehn Jahre Cheftrainer in der Vierten Liga, aber es ist ein großer Unterschied, ob man den SC Freiburg II oder den VfL Bochum trainiert. In Freiburg war es deutlich entspannter für mich. Auch wenn ich nur ein halbes Jahr Cheftrainer war, war es in Bochum eine gute Zeit. Die Zeit als Co-Trainer von Bergmann war auch gut. Als Cheftrainer sind wir ins Viertelfinale des DFB-Pokals gekommen, das hat Spaß gemacht. Sicher macht man als Trainer immer Fehler, es ist aber am Ende unglücklich gelaufen. Wenn ich über die Saison gekommen wäre, so glaube ich, hätte es richtig gut werden können. Manchmal haut es aber nicht hin.

Jawattdenn.de: Sie haben danach gute Jahre in Kiel gehabt. Der Einzug in die Aufstiegsrelegation der Dritten Liga war sicher ein Highlight Ihrer Karriere?

Karsten Neitzel: Diese Spiele waren für Kiel und auch für mich ein Highlight, mit dem man nicht rechnen konnte. Zunächst sind die Kieler allerdings aufgestiegen und deren Trainer ist zurückgetreten. Ich bin dann zu einem Aufsteiger gekommen. Eine dankbarere Aufgabe gibt es nicht, weil jeder Sieg in so einer Phase wie eine Meisterschaft gefeiert wird. In Kiel gab es außerdem eine überragende Infrastruktur.

Das ist in den meisten Vereinen anders. Hier in Essen habe ich auf Platz 12 übernommen, wir sind auf Platz 10 eingelaufen und stehen aktuell auf Platz 7. Das ist nicht überragend, aber schon eine Weiterentwicklung. Die Enttäuschung entsteht, weil die Erwartungshaltung Platz 1 ist. Bei vielen Vereinen ist die Erwartungshaltung so hoch, dass sie regelmäßig nicht erreicht wird und dann wird immer wieder der Trainer gewechselt. Auf diese Weise funktioniert es selten, erfolgreich zu sein.

Jedenfalls sind wir in Kiel mit einigen Erfolgen in die Saison gestartet, sodass wir an der Tabellenspitze standen. Darauf folgten 13 Spiele ohne Sieg in Folge. Kein Verein würde es zulassen, dass ein Trainer so viele Spiele am Stück nicht gewinnt. Sportlicher Leiter war allerdings der bereits genannte Andreas Bornemann, der aus Freiburg kommt und solche Situationen schon miterlebt hat. Der hat mich nicht behalten, weil er mein Freund war, wie damals in Foren geschrieben wurde, sondern weil er von der täglichen Arbeit überzeugt war. Es ging schließlich auch um seinen eigenen Job, sodass die Freundschaft kein ausschlaggebender Punkt war. Das ganze Stadion forderte meinen Rausschmiss.

Am Ende haben wir souverän die Klasse gehalten und sind Landespokalsieger geworden. Im Sommer haben wir lediglich vier Positionen verändert und sind mit gutem Fußball Dritter geworden. Wir haben in der Saison sogar noch zwei wichtige Spiele liegen lassen. Am vorletzten Spieltag haben wir gegen Duisburg geführt. Hätten wir gewonnen, hätten wir statt der Duisburger direkt aufsteigen können. Wir haben am Ende verloren. Nach dem Unentschieden im Relegationshinspiel gegen 1860 haben wir auch in München 1:0 geführt. In der 72. Minute haben wir den Ausgleich bekommen. Es hätte für uns immer noch gereicht, aber danach war das Stadion da. Das war das lauteste Stadion, das ich je erlebt habe. Erst in der Nachspielzeit hat 1860 zum 2:1 getroffen.

Jawattdenn.de: Wie endete die Zeit in Kiel danach?

Karsten Neitzel: Im darauf folgenden Jahr zählte nur der Aufstieg und wir waren nach 13 Spieltagen Letzter. Wir hatten im Sommer fünf brutale Abgänge und zu Saisonbeginn noch zwei Kreuzbandrisse. Das haben wir sportlich nicht kompensieren können. Am Ende sind wir Zehnter geworden. Nachdem ich drei sportliche Leiter habe kommen und gehen sehen, hat der vierte mir vier Spieltage Zeit gegeben, um zufriedenstellende Ergebnisse zu liefern. Nach den vier Spielen hatten wir vier Punkte geholt und dann durfte ich gehen.

Jawattdenn.de: Nach der kurzen Episode in Elversberg kamen Sie zu RWE. Jürgen Lucas hat im Jawattdenn.de-Interview gesagt, er hätte Sie gleich angerufen, als er erfahren hätte, dass Sie freigestellt sind. Dies, sagte er, mache man eigentlich nicht. Waren Sie selbst irritiert, dass Sie so früh von einem anderen Verein angerufen wurden?

Karsten Neitzel: Ich war nicht irritiert. Ich war eher geschmeichelt, dass er sich so sehr um mich bemüht hat. Ich musste allerdings kurz überlegen, da ich einen guten Vertrag in Elversberg hatte. Der würde heute immer noch laufen, wenn ich ihn nicht aufgelöst hätte.

Meine Freundin Yvonne hatte mich aber schon zuvor seit einiger Zeit zum Verein Rot-Weiss Essen getrieben, weswegen ich schon vorher eine gewisse Begeisterung für den Verein entwickelt habe. Dafür bin ich ihr heute noch dankbar. Ich musste also überlegen, ob ich die Luxussituation mit dem laufenden Vertrag in Elversberg aufgebe und es 15 Monate ruhiger angehen lasse oder ob ich in Essen zum 30. Juni, wie es damals noch gedacht war, unterschreibe.

Ich war einige Male im Stadion und war von der Stimmung in Essen begeistert. Ich habe mich schon vorher gefragt, ob es nicht möglich wäre, hier etwas aufzubauen und dieses Potenzial zu nutzen, wobei ein Trainer allein da natürlich auch nur einen Teil zu beitragen kann. Aber deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass ich ausgerechnet von diesem Verein angerufen wurde. Deswegen habe ich auch nicht lange überlegt.

Jawattdenn.de: In Gesprächen mit Marcus Uhlig und Jürgen Lucas wird sehr deutlich, dass jeder das gemeinsame Zusammenarbeiten mit den anderen beiden Personen enorm schätzt. Beide sprechen von einem Glücksfall. Empfinden Sie das auch so?

Karsten Neitzel: Diese Wertschätzung kann ich nur zurückgeben. Jürgen Lucas hat einen besonderen Arbeitsstil. Inhaltlich schätze ich den Austausch mit ihm sehr, genauso wie den mit meinen Trainerkollegen. Außerdem ziehe ich den Hut vor der Doppelbelastung, die er hat, weil ich die Situation kenne. Er macht das wirklich klasse.

Marcus arbeitet gefühlt auch rund um die Uhr. Deswegen ist es richtig, dass diese Konstellation besonders ist. Ich weiß, dass die beiden mich vielleicht irgendwann entlassen müssen, aber aktuell ist es eine sehr professionelle und gute Arbeitsweise untereinander. Ob unsere Entscheidungen richtig sind oder nicht, ist eine andere Frage. Das Problem ist, dass wir die Entscheidungen treffen müssen, bevor wir etwas machen. Alle anderen können diskutieren, nachdem sie gesehen haben, welche Auswirkungen diese Entscheidungen hatten.

Jawattdenn.de: Bei Rot-Weiss hat es lange keinen Spielerstamm gegeben, der so lange zusammenspielt. Einige neue Spieler sind dennoch im Sommer dazu gekommen. Wie ist die Atmosphäre in der Mannschaft?

Karsten Neitzel: Die Stimmung ist gut. Ich würde mir ein wenig mehr Leichtigkeit wünschen, und dass sich der ein oder andere Spieler weniger Gedanken über die Gesamtsituation machen würde. Wir hatten im letzten Sommer ein gutes Transferfenster. Die neuen Spieler haben sich sehr gut mit denen ergänzt, die dageblieben sind. Das wollen wir selbstverständlich auch in zukünftigen Transferphasen hinbekommen.

Jawattdenn.de: Sie haben sicherlich für diese Saison, aber auch schon für die kommende Saison zwei Entscheidungen gefällt. Cedric Harenbrock hat seinen Vertrag verlängert und Jonas Erwig-Drüppel ist vom Wuppertaler SV zu RWE gewechselt. Kann in der Winterpause noch mehr passieren?

Karsten Neitzel: Das kann ich nicht sagen.

Jawattdenn.de: Warum waren Sie an Jonas Erwig-Drüppel interessiert?

Karsten Neitzel: Jonas ist ein guter Fußballer mit einem sehr guten Spielverständnis. Ich bin überzeugt, dass Jonas mit seiner Art und Weise, Fußball zu spielen, an die Hafenstraße passt. Er läuft in beide Richtungen mit hohem Tempo und ist ein absoluter Mannschaftsspieler.

Jawattdenn.de: Vor der Saison haben Jürgen Lucas und Sie speziell Fußballer gesucht, die Tempo ins Spiel von Rot-Weiss Essen bringen. Auch Erwig-Drüppel ist ein schneller Spieler. Kann ich also davon ausgehen, dass Sie dieses Konzept auf dem Platz überzeugt hat?

Karsten Neitzel: Natürlich ist es gut, wenn wir auf jeder Position schnelle Spieler haben, obwohl Tempo natürlich auch nicht alles ist. Aber unabhängig davon hat Jonas die Qualität, dass man sich um ihn bemühen muss, wenn man ihn vor der Haustür hat. Erwig-Drüppel kann auf beiden Außenbahnen spielen, weil er Rechtsfuß ist, aber lieber auf der linken Seite spielt. Dadurch haben wir mehr Optionen.

Jawattdenn.de: Bei den Zuschauern auf den Tribünen und in den sozialen Medien wird immer wieder der Wunsch nach einem kreativen Spielmacher laut. Wie stehen Sie dazu?

Karsten Neitzel: Grundsätzlich wollen wir auf jeder Position die Qualität erhöhen, wenn wir neue Spieler holen. Wir müssen aber darauf achten, dass wir nicht zu viele Leute für den gleichen Mannschaftsteil verpflichten. In der Offensive sind wir momentan schon gut aufgestellt. Nichtsdestotrotz gucken wir uns jede Position genau an, im Mittelfeld wie auch in jedem anderen Mannschaftsteil.

Jawattdenn.de: Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Arbeit. Wenn ich mir die Jugendspieler anschaue, stelle ich mir das schwierig vor. Remmo, Tomiak und Hirschberger wollen sich sicher zeigen, bekommen aber wenig Spielanteile. Wie gehen Sie mit diesen Spielern um?

Karsten Neitzel: Die Situation ist schwierig. Allerdings besteht die Schwierigkeit in solchen Situationen weniger zwischen Trainer und Spieler. In meiner Erfahrung bekommen Spieler von vielen Leuten in ihrem Umfeld oft andere Dinge über ihre Leistung gesagt als von mir. In der Regel sind wir als sportlich Verantwortliche diejenigen, die die Spieler als einzige kritisieren. Als Mensch hört man lieber auf die positiven Rückmeldungen, was es manchmal kompliziert macht. Als Spieler muss man dann gefestigt sein, um Verbesserungsvorschläge anzunehmen und daran zu arbeiten, was als junger Spieler nicht einfach ist.

Aber hier bei Rot-Weiss hängen sich alle rein, auch die genannten Spieler. Hirschberger ist neben Marcel Lenz beispielsweise der einzige Spieler ohne Einsatz in der Liga. Ich ziehe meinen Hut davor, wie sich die Spieler trotzdem einsetzen. Er hat im Testspiel gegen Fortuna Köln dann auch sein verdientes Erfolgserlebnis gehabt.

Jawattdenn.de: Die Situation von Enzo Wirtz ist sehr selten. Er kommt häufig als Joker, ist Toptorschütze von RWE und macht meist sehr wichtige Tore. Wie nimmt er seine Situation an, dass er dennoch nicht unumstritten von Beginn an aufläuft?

Karsten Neitzel: Auch das ist nicht leicht. Ein Trainer muss in der Situation gut argumentieren. In Kiel hatte ich eine ähnliche Situation mit Patrick Breitkreuz, der in der Saison, in der wir Dritter wurden, von der Bank kam, sieben Mal das 1:0 geschossen hat und trotzdem in der darauf folgenden Woche wieder erst einmal auf der Bank saß. Das war ein guter Junge und hat seine Qualitäten immer wieder eingebracht, wenn er eingewechselt wurde.

Enzo bringt Qualitäten mit, die ich sehen möchte, wenn jemand eingewechselt wird. Natürlich ist er damit nicht zufrieden, weil er von Beginn an spielen will. Entscheidend ist, dass sich die Spieler in den Dienst der Mannschaft stellen und auch wenn sie von der Bank kommen, ein Spiel entscheiden. Das hat Enzo ganz oft gut gemacht. Er ist immer ein Kandidat für die Startelf, aber eben auch für die Jokerrolle. Er ist nicht der Typ, der sofort beleidigt ist, sondern er gibt immer alles.

Diese Eigenschaft ist so wichtig, sie geht aber vielen von uns in der ganzen Gesellschaft ab, dass man auch dem Anderen etwas gönnt. Deswegen ist das Handling sehr schwierig, damit die Spieler auf der Bank den anderen nicht alles Schlechte wünschen. Ich denke, dass das bei uns gut läuft, was man auch sehen kann. Die Spieler auf der Bank leben mit den anderen mit, so kam es auch, dass es beispielsweise gegen den Bonner SC eine rote Karte gegen die Bank gab. Das war natürlich ein bisschen zu viel des Guten, aber das zeigt mir, dass der Spieler mit den anderen mitfiebert.

Jawattdenn.de: Wenn Sie realistische Wünsche für Rot-Weiss Essen formulieren könnten, wie würden diese für das Jahr 2019 aussehen?

Karsten Neitzel: Einzug in den DFB-Pokal, Platz 3 und viel mehr zufriedene Fans. Das sind Dinge, die nicht leicht zu erreichen, die aber vorstellbar sind. Außerdem möchten wir in der kommenden Saison wieder gut starten.

Jawattdenn.de: Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

Anmerkung: Das Interview fand vor dem Pröger-Wechsel statt und war somit noch kein Thema.

Das Interview führt Hendrik Stürznickel