21.04.2020

Die „kurze fuffzehn“ im Jahr 1952

von Sebastian Hattermann

Der Coronavirus hat uns noch immer alle fest im Griff und zwingt uns zur Abstinenz von dem, was wir am liebsten tun: Ins Stadion gehen. Die überschüssige Zeit lässt sich aber wunderbar in Dinge investieren, zu denen man sonst nicht kommt: Zum Beispiel mal einen genaueren Blick in die ersten Ausgaben der „kurzen fuffzehn“ zu werfen.

Die "kurze fuffzehn" im Jahr 1952Die Historie der Vereinszeitschrift des glorreichen RWE geht zurück bis ins Jahr 1921, als unter dem Namen Spiel und Sport 1912 e.V. die erste Vereinszeitschrift herausgegeben wurde. Die Titelseite lässt sich im Buch „…immer wieder RWE!“ (S. 22) von unseren geschätzten Vereinsarchivaren begutachten. Im Buch „Deutscher Meister wird nur der RWE“ (S. 140) von selbigen Autoren wird die vermeintliche Erstausgabe der „kurzen fuffzehn“ vom Februar 1952 abgebildet. Heute weiß man, dass es in den beiden vorherigen Monaten auch schon eine „kurze fuffzehn“ gab und im November 1951 die Erstausgabe noch ohne den bis heute bekannten Titel herauskam.

Da nicht jeder Rot-Weiße eines der seltenen Schmuckstücke aus den goldenen 50ern sein Eigen nennen darf, wurden diverse Exemplare aus dem Jahr 1952 einmal näher durchleuchtet, um die Inhalte auch einer breiteren Öffentlichkeit servieren zu können. Permanent stößt man beim Lesen auf spannende Erzählungen, amüsante Anzeigen und allerhand Kuriositäten, die sie damals wohl noch gar nicht waren.

Von der „Oase im Trümmermeer“ und Alkoholgenuss mit entsittlichender Wirkung

So geht es gleich damit los, dass auf der ersten Seite stets der gesamte Vorstand mit seinen Privatadressen aufgeführt war. Auffällig dabei, dass es wohl nur Georg Melches in den Essener Süden, nach Bredeney, gezogen hatte. Andere Gepflogenheiten hatte auch der Fußball selbst, bei dem in dieser Zeit noch Meisterschaftsspiele verschoben worden sind, um internationale Testspiele durchführen zu können. Die zogen häufig viele Zuschauer an und waren daher wirtschaftlich lukrativ. Nicht immer allerdings. Mit dem Freundschaftsspiel gegen Hajduk Split 1951 hatte sich die Vereinsführung verkalkuliert, wie sie ganz offen mitteilte. Nur 2000 Zuschauer verirrten sich an die Hafenstraße, was mit dem schlechten Wetter erklärt wurde. Dass der Termin am 1. Weihnachtsfeiertag ungünstig gewesen sein könnte, wurde nicht in Betracht gezogen.

In einer wiederkehrenden Rubrik werden Orte und Dinge hervorgehoben, die das Sportgelände an der Hafenstraße 97a so liebenswert machten. In der Ausgabe vom Dezember 1951 war dies der namensgebende, „kurze fuffzehn“ machende Bergmann, der in den folgenden Jahren das Cover schmücken sollte und noch heute an der Hafenstraße seinen Mann steht. Die Rubrik erhielt ihren Namen wiederum dadurch, dass die Platzanlage in Essen als „Oase im Trümmermeer“ bezeichnet wurde. Kaum ein Stadtteil hatte „so sehr unter dem Bombenhagel gelitten wie Bergeborbeck-Vogelheim.“ Das Stadiongelände mit seiner kleinen Gruga lag inmitten dieses großen Trümmerfeldes.

Es folgen mahnende Worte von Ernst Ruhkamp, die sich gut nachvollziehen lassen: „Wenn man aber heute von einem Hunderttausend-Mark-Sturm spricht, dann hat das mit Sport nichts mehr zu tun. Es entwickelt sich nach und nach ein Sportkapitalismus.“ Und wie sich dieser entwickelt hat! Ruhkamp beklagte aber auch die Entwicklungen auf den Zuschauerrängen. Zum einen waren das zunehmende Ausschreitungen, die als „eine Folge des Krieges oder eine Nachwirkung der Erziehung zur Brutalität“ bezeichnet wurden. Zum anderen war es ein noch immer in Essen bekanntes Phänomen: „Dass aber Sieg oder Niederlage gefeiert bzw. betäubt wird durch zu starke Hingabe an den Alkoholgenuss, der dann verheerende entsittlichende Wirkung mit sich bringt, das hat mit Sport nichts zu tun.“ 64 Jahre später haben die Bierstände in Essen ganz offiziell den höchsten Bier-pro-Kopf-Umsatz in Deutschland. Das Ruhrrevier trinkt Stauder Bier!

Warum Schalke schon vor 1971 ein ungezogener und flegelhafter Sauhaufen war

Wirklich befremdlich wirkt ein Rückblick auf die Weihnachtsfeier des Vereins. Ganz anders als heutzutage galt das Fest seinerzeit noch als „ureigenstes Privileg der Familie“, das im Zweifelsfall höchstens noch Schulen und Kirchen einzuräumen wäre. Allem voran wurde sich über die Gestaltung des Weihnachtsfestes echauffiert. Womöglich mit Zusammenhang zu den Essener Lichterwochen, die im Jahr 1950 ihre Premiere hatten, wurden all die Lichter auf den Straßen als Hinweis dafür gedeutet, dass es in den Menschen so dunkel sei und an Liebe fehle. Harte Worte aus dem Vorstand, der so dann stolz verkündete, dass auf der Weihnachtsfeier des Vereins „auf jeden kitschigen und weichlich rührseligen Beigeschmack verzichtet worden“ ist. Gefreut hatte man sich allerdings über die Weihnachtsgrüße, welche aus Belgrad, Zagreb, Sarajevo, Casablanca, Wien, Antwerpen und San Sebastian die Hafenstraße erreicht haben.

Ganz und gar nicht besinnlich waren die Worte, die man für den Nachbarn aus Gelsenkirchen überhatte. Während das Essener Publikum überall für seine „wohltuende Atmosphäre“ und „für seine Objektivität“ bekannt war, überließ man die Beschreibung des Schalker Anhangs lieber einem abgedruckten Leserbrief. Der hatte von einer „Kanonade von Ungezogenheiten“ und einer „Auswahl an hässlichen Schimpfworten“ berichtet und die Blau-Weißen als „randalierenden Sauhaufen“ bezeichnet. Der Abschlusssatz des Leserbriefs steht für sich: „Wer vor der Leistung der Schalker Mannschaft eine Verbeugung macht, der muss gleichzeitig einem Teil des Tribünenpublikums ins Gesicht spucken…“

Besser zu benehmen wusste sich die 1. Mannschaft vom RWE, als diese auf ihrem Weg zum Auswärtsspiel nach Karlsruhe einen Zwischenstopp bei Bundestrainer Sepp Herberger machte, um dort „deckelgroße Schnitzel“ zu Mittag zu verspeisen. Ob Jogi Löw die Bayern wohl schon mal auf eine Schwarzwälder Kirschtorte eingeladen hat? Eher nicht, zumal seine Handhygienestandards in der aktuellen Lage etwas abschreckend wirken dürften.

Worte zum 45-jährigen Vereinsbestehen mit Ehrung für Georg Melches

Die "kurze fuffzehn" im Jahr 1952In der „kurzen fuffzehn“ vom Februar 1952 wird zunächst das 45-jährige Bestehen des Vereins thematisiert. Unweigerlich wird immer wieder Gründervater Georg Melches hervorgehoben, der 1924 die Fußballschuhe an den vielzitierten Nagel gehängt hat und von 1950 an Ehrenvorsitzender war. Er hatte RWE zum Großverein gemacht, in dem über die Jahre Sportarten jeglicher Couleur angeboten wurden: Boxen, Leichtathletik, Tennis, Damenturnen, Kegeln, Schach, Basketball. Und König Fußball.

Gustav Klar, von 1930 bis 1945 Vereinspräsident, blickt auch auf die Auswirkungen des 2. Weltkriegs zurück. 55 aktiven und 57 passiven Mitgliedern hatte dieser das Leben gekostet. Oft erzählt ist die Geschichte von der ersten Mitgliederversammlung nach dem Krieg, die auf den Trümmern des Stadions im Freien stattgefunden hat. Anschließend wurde mit 25 Leuten begonnen, die zerstörte Platzanlage wiederherzurichten. Dass Essen bekanntermaßen zu den am schwersten getroffenen Städten zählte, wirkte sich auch auf den Fußball aus. Der Stichtag zum Start der Oberliga West konnte nicht eingehalten werden, da die Anlage zu diesem Zeitpunkt noch nicht spieltauglich war. Der RWE, der vorm Krieg noch in der höchsten Spielklasse vertreten war und den Spielbetrieb auch in Kriegsjahren – zuletzt als Kriegssportgemeinschaft mit BV Altenessen 06 und Ballfreunde Borbeck – aufrechterhalten hatte, musste zunächst in der 2. Spielklasse antreten.

Eine schnöde Werbeanzeige bringt den Leser zurück in die Normalität: „Sportler kaufen bei ihren Sportkameraden: Schreib- und Tabakwaren August Gottschalk“. Immer wieder wurden in den alten Heften auch Artikel aus anderen Zeitschriften abgedruckt, z.B. aus dem WFV-Sportheft, das einige Empfehlungen aussprach, um Voraussetzungen für die körperliche Leistungsfähigkeit zu schaffen. Neben dem obligatorischen Rat zum „Verzicht auf Alkohol und Nikotin“, empfiehlt der Autor pikanterweise „sexuelle Entspannungen“ in das Trainingsprogramm miteinzubeziehen.

In einem der knappen Spielberichte zu den Wettkämpfen unserer Helden von einst, lässt ein Satz vermuten, dass im Jahr 1952 die Keime für den Mythos Hafenstraße und die heute noch spezielle Atmosphäre gesät wurden. Im Spiel gegen Erkenschwick wurde das Publikum womöglich vom fulminanten Ergebnis, das am Ende 4:6 lautete, so sehr elektrisiert, dass „die Zuschauer aus sich herausgingen und die Mannschaft in einer nie dagewesenen Art anfeuerten.“ Die Vereinsführung war offensichtlich ganz entzückt von der potentiellen Geburtsstunde des akustischen Supports in Essen und wünschte sich diesen auch für die folgenden Spiele – „besonders bei den auswärtigen Kämpfen“.

Olympische Sommerspiele und Toto-Sportwetten im Fokus

Als die „kurze fuffzehn“ für Juni 1952 erschien, war RWE Westdeutscher Meister, enttäuschte aber in den Finalspielen um die Deutsche Meisterschaft, wie Ernst Ruhkamp im Vorwort wissen lässt. In einem der regelmäßig erscheinenden Spielerportraits steht diesmal August Gottschalk im Fokus, der schon während seiner aktiven Laufbahn als zuverlässiger Mannschaftskamerad und tadelloses Vorbild galt.

Abseits des rot-weißen Vereinslebens wurden, wie auch in den letzten Ausgaben, stets mehrere Seiten den olympischen Sommerspielen in Helsinki gewidmet. Der Stellenwert war damals noch ein anderer. Es war erst ein halbes Jahrhundert her, dass der Fußball das Turnen als Nationalsport verdrängte. Georg Melches selbst war zudem begeisterter Leichtathlet, der in den Anfangsjahren auch einige Wettläufe für sich behaupten konnte. Neben der klassischen Vorberichterstattung zu den olympischen Spielen, wird mit der Überschrift „Helsinki ist gar nicht so teuer“ auch die Reise nach Finnland schmackhaft gemacht. Für 14 Tage – vier davon allerdings sind für Hin- und Rückfahrt mit dem Zug zu veranschlagen – sind 650 DM zu berappen. Verpflegung, 80 DM für die Tickets und ein kleines Taschengeld inklusive.

Bevor es wieder um RWE geht, werden noch die verrücktesten Geschichten von Totogewinnern aus ganz Europa erzählt. 1948 erst – 27 Jahre später als in England – wurde das Glückspiel in Deutschland zugelassen. Den Begriff „Hype“, den die Sportwetten damals erfahren haben dürften, kannte man vermutlich noch gar nicht. Mit dem Konsum von Borbecker Schlosstropfen, den die Kornbranntweinbrennerei Fritz Brüggemann bewarb, dürften die Essener seinerzeit vertrauter gewesen sein als mit Anglizismen.

„Gerade in Stunden bitterster Enttäuschung, bewährt sich erst die Treue.“

Bei Erscheinen der „Mitteilungen“ von August 1952, wie es in roten Buchstaben auf der „kurzen fuffzehn“ geschrieben stand, war die neue Saison gerade angelaufen. Auch damals schon wurde der straffe Terminplan moniert. Ernst Ruhkamp fand drastische Worte: „Wie auf allen Gebieten des modernen Lebens verfallen wir auch im Sport dem Zeitgeist, d.h. der Hast und Hetze“. Anders als heute ging es aber nicht um die straffe Taktung während der Saison, sondern um die kurze Regenrationsphase zwischen den Spielzeiten, die nicht die gewünschte Anzahl internationaler Freundschaftsspiele zuließ. So kam es durchaus vor, dass die Mannschaft auf einem Mittwoch für eine selbst auferlegte englische Woche nach Paris fuhr, um sich dort bei einem „Nachtspiel“, wie Partien unter Flutlicht genannt wurden, international zu messen.

Auch im Weiteren wurde mit deftiger Gesellschaftskritik nicht gespart. Mit Buchempfehlungen für Jugendliche sollte gegen die „Schmutz- und Schundliteratur“ angekämpft werden, weil „sich in der Nachkriegszeit das minder- und unterwertige Schrifttum in den Vordergrund geschoben“ hat. Mögen die Verantwortlichen niemals von Zeitreisenden mit einem Wörterbuch für Jugendsprache aus unserer Epoche konfrontiert werden. Die feineren Vereinsanhänger dürften sich vor allem in der rot-weißen Schachecke wiedergefunden haben, die vom Vereinspokalturnier berichtet. Wer das Finale nachspielen wollte, fand hier alle Züge der Partie abgedruckt.

Aus der Fußballerriege wird in der Ausgabe Stürmer Anton Stermsek portraitiert, der mit 41 Jahren noch die Zuschauer an der Hafenstraße begeisterte und im Alter von 40 sogar noch genetzt hat. Der älteste Torschütze für RWE war also definitiv nicht Christian Schreier (37), der aktuell bei transfermarkt.de als solcher gelistet wird.

Um abschließend nochmal auf die Worte von Ernst Ruhkamp einzugehen und den Bogen zur heutigen Zeit zu spannen, lässt sich festhalten, dass wir der Hast und Hetze zumindest temporär aufgrund der Einschränkungen durch den Coronavirus nicht verfallen sind. Damit genommen sind uns vorübergehend aber auch unsere liebsten Privilegien. Der Fußball als solcher und die Unbekümmertheit, mit der wir unserem RWE seit 2010 folgen und das Vereinsleben gestalten konnten. Das Schlusswort von Ruhkamp, der von 1945 bis 1960 die Geschicke des Vereins geführt hat, sind daher aktueller denn je: „Gerade in Stunden bitterster Enttäuschung, bewährt sich erst die Treue.“